Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
1
Kriminalkommissar Erik Winter roch den Duft des Frühlings, der auch in diesem Jahr wieder nahte, halleluja. Winter war plötzlich froh, wie jemand, der meinte, dieses Gefühl vergessen zu haben. Er machte ein paar Tanzschritte über den Kungstorget. Nein, das tat er nicht, er hätte gern getanzt, aber etwas hielt ihn zurück. Vielleicht das Paket, das er unterm Arm trug, mit einer Lammkeule und einer Büchse Sardellen. Winter war auf dem Heimweg, er würde allein sein, aber ein Mann am Herd ist eigentlich nie allein. Er würde ein Glas Whisky trinken, nur eins, während er das Lamm mit Kräutern und Knoblauch einrieb. Ein Mann mit einem Whiskyglas in Reichweite fühlt sich nie einsam.
Es war sechs, und es war immer noch hell. Allein das. Er dachte an Angela, Elsa und Lilly. Noch drei Monate, dann war die Familie wieder für immer vereint.
Das Handy vibrierte in seiner Hemdentasche. Er nahm es heraus, las die Nummer ab und hielt es ans Ohr; kein Headset für Señor Winter, nicht gut für seinen Tinnitus, aber für Tinnitus war nichts gut, nicht mal guter Whisky, nicht mal Coltrane.
»¡Hola!«, sagte er.
»Du scheinst ja richtig fröhlich zu sein.«
»Ich bin froh.«
»Das macht mich froh«, sagte sie.
»Das macht mich auch froh.«
»Es klingt, als würdest du dich draußen aufhalten.«
»Rate mal, wo.«
»Kungstorget?«
»Richtig.«
»Rotzunge?«
»Falsch.«
»Blutpudding?«
»Guter Versuch, aber falsch.«
»Lamm.«
»Das war nicht mal eine Frage«, sagte er.
»Hier regnet es«, sagte sie.
»In Göteborg wird es Frühling.«
»Wie schön für dich.«
»Jetzt klingt deine Stimme nicht mehr froh«, sagte er.
»Wer hat gesagt, dass ich froh bin?«
»Du, gerade eben.«
»Schon wieder vorbei.«
»Was ist los, Angela?«
»Ich weiß es nicht.«
»Wir sehen uns bald.«
»Noch drei Monate«, sagte sie.
»Ich komme euch doch vorher besuchen.«
»Mal sehen«, sagte sie.
»Das klingt beunruhigend.«
»Etwas wird passieren, und irgendwann verschwindest du, Erik«, sagte sie.
»Ich verschwinde?«
»Du verschwindest in dir selbst.«
Es ist irgendwann im Lauf der Nacht geschehen, genau an dieser Stelle. Ungefähr das sagte Gerichtsmedizinerin Pia Fröberg zu Winter, als sie kurz vor der Morgendämmerung mitten im Gebüsch dieser Sahneschnitte der üppigen Vegetation unterhalb vom Kulturhaus von Frölunda standen. Auf der anderen Seite war das Straßenbahndepot, unterirdisch, es sah aus wie ein offener Tunnel. Die ersten Wagen des Tages waren gerade wieder angerollt. Alles um sie herum war Glas und Beton, alter Beton, neuer Beton.
Winter betrachtete die Gestalt auf der Erde. Ein Opfer. Es war ein Mann, da gab es keinen Zweifel, denn seine Hose und Unterhose, bis zu den Knien heruntergezogen, verdeckten nicht länger sein Geschlecht. Dem Toten waren die Hände auf dem Rücken, seine Fußknöchel mit einer Art Kordel verschnürt, und sein Kopf steckte in einer Plastiktüte, die um den Hals zugezogen war. Winter beugte sich über ihn und sah das Gesicht wieder im Profil, es war undeutlich durch das blaue Plastik, wie ein Gesicht unter Wasser. Winters Gehirn machte einen Sprung zurück in der Zeit, zwei Jahre innerhalb von Sekunden, sein Körper im Wasser, all das Undeutliche, das ihn umgeben hatte, während er dem Tod entgegensank. Aber er war nicht ertrunken, er stand jetzt hier, mit einem ständigen Brausen in den Ohren wie Meeresbrausen bei Sturm, Erinnerung an sein Erlebnis, als er dem Tod so nah gewesen war. Der Mann auf der Erde vor ihm war dem Leben nicht mehr nah. »Trauma«, hörte er Pia sagen und noch etwas, das er nicht verstand, er sah das Blut im Innern der Plastiktüte, es musste Blut sein, mehr schwarz als rot im bleiernen Licht des Himmels. Er schaute hinauf. Dort gab es nichts zu sehen. Er blickte wieder nach unten.
»Er war vermutlich bewusstlos, als ihm die Tüte über den Kopf gezogen wurde«, sagte er.
Fröberg antwortete nicht.
»Sonst wäre das schwer zu bewerkstelligen«, fügte Winter hinzu. »Jedenfalls wenn man allein ist.«
»Du meinst, er hat es selbst getan?« Sie drehte sich zu ihm um. Es sah nicht aus, als würde sie lächeln. Es war schwarzer Humor.
»Sehr zweifelhaft«, sagte Winter. Er spürte den Wind, der wie ein kalter Brand aus der Tunnelöffnung unterhalb von ihm kam.
Er betrachtete den Buchstaben, der auf dem Toten lag, die Versalie »R«, mit schwarzem Stift auf ein Stück Pappkarton geschrieben, das schief und hastig von etwas abgerissenen war. Es könnte ein weißer Tortenkarton sein und der Buchstabe voller Zorn und mit einem breiten wütenden Pinselstrich hingeschmiert, die Farbe war verlaufen und sah aus wie das Schwarze, womit das Gesicht des Toten in der Plastiktüte bedeckt war. Winter kam es vor, als hätte er das Privileg, durch eine Fensterscheibe schauen zu dürfen, und er hatte das vertraute, verdammt unheimliche Gefühl, dass es nicht das letzte Mal sein würde. Der Wind im Tunnel drehte sich, kam ihm entgegen. Er würde darin verschwinden.
»Der Junge isst also gern Torte«, sagte Kriminalkommissar Fredrik Halders, als sich die Kerngruppe des Dezernats für Schwerstverbrechen zu einer ersten Besprechung traf.
»Wer von den beiden?«, sagte Kriminalkommissar Bertil Ringmar.
»Das ist nun wirklich der falsche Moment, um Witze zu reißen«, sagte Kriminalinspektorin Aneta Djanali.
»War doch nur schwarzer Humor«, sagte Halders.
»Die Pappe scheint von einem Tortenkarton zu stammen«, sagte Winter. »Öberg überprüft das gerade.«
»Siehst du wohl«, sagte Halders.
»Wie viele davon mag es in der Stadt geben?«, sagte Kriminalinspektorin Gerda Hoffner.
»Genauso viele, wie es Torten gibt«, sagte Halders. »Mein Vater war übrigens Konditor.«
»Dann verhörst du die Konditoren, Fredrik«, sagte Winter.
»Machst du Witze?«
»Schwarzer Humor.«
Hoffner lachte auf.
»Wenigstens einer unter uns hat Humor«, sagte Halders.
»Das ist nicht witzig«, wiederholte Djanali.
»Nein«, sagte Winter. »Das ist wirklich kein witziger Mord.«
Der Himmel vorm Fenster war blau, blau wie die Sünde, genauso alt. Darin war eine Antwort enthalten, etwas wie ein einsamer verzweifelter Ruf aus der Vergangenheit. Die Vergangenheit ist eine lange Höllenreise, dachte Winter und wandte sich vom Fenster ab, als Ringmar gegen die offene Tür klopfte.
»Permesso?«
»Na klar, komm rein, Bertil.«
Ringmar setzte sich in den Sessel vor Winters Schreibtisch. Winter blieb am Fenster stehen. Er spürte Sonne im Rücken, die genauso kalt war wie der Wind.
»Mit was haben wir es hier zu tun?«, fragte Ringmar.
»Racheakt«, sagte Winter.
»Rache wofür?«
Winter antwortete nicht. Er hörte Laute von draußen und drehte sich um. Drei schwarze Vögel flogen vorbei und schrien etwas in den Himmel.
»Rache wofür?«, wiederholte Ringmar.
»Irgendwas aus der Vergangenheit.« Winter war bereit für das Gespräch, ihre Methode, den Gedanken freien Lauf lassen, die Assoziationen, die sie voranbringen konnten, nachdem sie sie erst zurückgeführt hatten.
»Etwas, das schon lange vergangen ist?«, fragte Ringmar.
»Nicht gar so lange.«
»Vor zehn Jahren?«
»Kürzlich«, sagte Winter.
»Rache für etwas, das kürzlich passiert ist? Rache für eine Gewalttat?«
»Ja.«
»An der Frau eines anderen Mannes?«
»Am Mann eines anderen Mannes?«
»Nein.«
»Könnte sein.«
»Vielleicht handelt es sich auch um etwas ganz anderes.«
»Ja«, sagte Winter. »Und es liegt länger zurück.«
»Zehn Jahre«, sagte Ringmar. »Was ist damals geschehen?«
»Etwas, das eine Person nicht vergessen kann.«
»Das Opfer hatte einen nackten Hintern«, sagte Ringmar.
Das Opfer hieß Robert Hall. Er war erst bewusstlos geschlagen und dann in der blauen Plastiktüte erstickt worden. Vielleicht aus Barmherzigkeit.
»Er wurde niedergeschlagen, weil das die einzige Möglichkeit war«, sagte Ringmar.
Winter nickte.
»Hall war nicht gerade klein«, sagte Ringmar.
»Suchen wir nach einem kleinen Mann?«, sagte Winter.
»Oder nach einer Frau«, sagte Ringmar.
»Nein?«
»Nein, wir suchen nicht nach einer Frau, jedenfalls nicht als Täterin.«
»Cherchez la femme«, sagte Ringmar. »So oder so.«
»Ich denke, wir sollten die Geldspur verfolgen.«
»Das auch.«
»Hier geht es nicht um Geld«, sagte Winter.
»Es geht um Wut«, sagte Ringmar.
»Große Wut.«
»Warum dort? Warum ausgerechnet dort?«
»Der einzige Ort, wo sie nicht gesehen werden konnten«, sagte Winter.
»War die Tat vorbereitet?«
»Vorbereitet?«
»Dann wohnt der Täter in der Nähe«, sagte Ringmar.
»Nicht unbedingt«, sagte Winter.
»Er wohnt in der Nähe.«
»Na, warten wir's mal ab«, sagte Winter.
»Was?«
»Das nächste Opfer.«
Winter fuhr zurück in die Marconigatan und parkte südlich der Straßenbahnschienen. Es dämmerte wieder, ein...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.