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Lord Selchester riss das Steuer herum, um einem Fasan auszuweichen. »Heute tummelt sich jede Menge Wild auf den Straßen. Immer fest entschlossen, unter die Räder meines Automobils zu kommen.«
»Sag Auto, nicht Automobil. Du bist jetzt Engländer«, korrigierte ihn Polly.
Davon wollte ihre Schwester Babs nichts wissen. »Ich nicht. Ich bin Amerikanerin und werde es auch immer bleiben.«
»Als Amerikanerin kannst du aber nicht Lady Barbara werden«, gab Polly zurück.
»Wer will schon Engländer sein? Das müssen Liliputaner sein, wenn sie so kleine Automobile fahren wie dieses hier.«
»Die haben kein Öl, deswegen kostet das Benzin für Autos« - Polly betonte das Wort - »mehr als in den Staaten. Kleinere Autos, weniger Verbrauch an Kraftstoff.«
Als er in den Rückspiegel schaute, sah Augustine Lambert Fitzwarin, ehemals Gus Mason, nun der achtzehnte Earl of Selchester, dass seine jüngere Tochter sich die Brille hochschob und sich erneut in ihr Buch vertiefte.
Während er das Automobil - nein, Polly hatte schon recht, das Auto - durch die kurvenreichen Straßen der englischen Landschaft steuerte, stellte er sich vor, wie seine Vorfahren diese Strecke über die Jahrhunderte hinweg wohl zurückgelegt hatten. Erst auf Pferden, dann mit Kutschen. Mit dem Zug und jetzt im Auto. Aus London kommend oder von den Schlachtfeldern Frankreichs zurückkehrend oder aus der sengenden Hitze von Jerusalem. Sie kamen zurück nach Hause, nach Selchester. Nach Selchester Castle.
Vorfahren, von denen er nichts wusste; Vorfahren, von deren Existenz er bis vor wenigen Wochen nicht einmal etwas geahnt hatte.
Zweiundvierzig Jahre lang hatte er als Gus Mason gelebt, als amerikanischer Staatsbürger. In Virginia war er groß geworden, an der University of Notre Dame hatte er studiert und sich in die Antike verliebt; er hatte Homer und Vergil übersetzt und im Krieg gedient - das alles hatte Hand und Fuß. Das war vertraut, das war das, was ihn ausmachte. Reisen nach England im Laufe der Jahre und ein Jahr als Stipendiat an einem College in Oxford hatten ihn zwar mit den englischen Gepflogenheiten vertraut gemacht. Doch nie hätte er sich träumen lassen, dass er einmal einen englischen Reisepass, einen englischen Titel und eine englische Burg sein eigen nennen würde.
»Es wird befremdlich sein«, sagte er. »Für uns alle.«
»Du wirst dich daran gewöhnen«, sagte Polly.
»Ich hoffe nur, wenn erst einmal ein bisschen Zeit vergangen ist, werdet ihr es mir nicht übel nehmen, so aus eurer gewohnten Umgebung herausgerissen worden zu sein.«
Raschelnd blätterte Polly eine Seite um. »Entwurzelt.«
Barbara bedachte ihren Vater mit einem ärgerlichen Blick. »Ich hätte nicht mitkommen müssen. Ich hätte in den Staaten bleiben können.«
»Hättest du nicht, nicht mit siebzehn«, konterte Polly.
»Ich hätte irgendwo aufs College gehen können und nicht nach England in irgend so eine modrige Burg.« Sie starrte aus dem Wagenfenster. »Es ist, als führen wir durch eine Wolke«, sagte sie. »England besteht bloß aus einer großen Wolke. Wolke, Regen und Nebel.«
»Das ist nur ein bisschen Dunst«, beschwichtigte ihr Vater.
»Nebel«, entgegnete Polly mit Überzeugung. »Wie der in den Büchern von Dickens.«
»In den Zeiten der Römer hat man in England Wein angebaut«, erklärte Gus.
Babs stieß einen Seufzer aus. »Bitte sag mir jetzt nicht, dass die Römer es bis nach England geschafft haben.«
»Klar haben sie das!«, versetzte Polly. »Deshalb heißt es ja auch Großbritannien, weil der römische Name Britannia lautete.«
Gus war es nie gelungen, bei Babs auch nur einen Funken Interesse für die alten Römer oder Griechen zu entzünden. »Dunst und Nebel hätten zu Vergil gepasst. Wisst ihr noch, wie nebelig es war, als wir Mantua besuchten, von wo er stammte?«
»Ich kann mich noch sehr gut an Mantua erinnern«, sagte Babs. »Ich weiß noch, dass ich mir dort eine Bronchitis eingefangen habe und beinahe den Geist aufgegeben hätte und dass Polly eine Lebensmittelvergiftung bekommen hat.«
»Vergil ist ja dann auch so schnell wie möglich nach Rom abgehauen«, sagte Polly. »Wo es nicht klamm und nebelig ist. Kopf hoch, Babs, wenigstens hat es Odysseus nie bis nach England geschafft. Und alle römischen Soldaten sind schon vor Jahrhunderten wieder in ihre Heimat zurückgekehrt.«
»Wo wir von in die Heimat zurückkehren sprechen: Wer sind eigentlich diese Typen, die im Moment in der Burg wohnen?«, wollte Barbara wissen. »Ich fasse es nicht, dass sie immer noch dort sind. Wieso haben die sich noch nicht verkrümelt?«
»Ich dachte, das hätte ich euch erklärt«, erwiderte Gus.
»Hast du auch«, schaltete sich Polly ein. »Aber Babs hört nichts, was sie nicht hören will.«
»Freya Wryton ist meine Cousine - unsere Cousine -, und sie lebt seit sieben Jahren in der Burg und kümmert sich um das Gebäude. Schon seit ihr Onkel, der letzte Lord Selchester, gestorben ist.«
»Wieso sagst du nicht >mein Vater<? Und gestorben trifft es ja wohl nicht so ganz, oder? Er wurde ermordet.« Polly hatte es gerne genau.
Ja, er hatte das Wort vermieden. Daran musste man sich erst einmal gewöhnen, zum ersten Mal in seinem Leben einen Vater zu haben. Selbst wenn er tot war. »Da wohnt auch noch ein Mann namens Hugo Hawksworth in der Burg. Mit seiner Schwester Georgia. Sie ist ungefähr in deinem Alter, Polly. Sie wird bestimmt deine Freundin.«
»Wird sie nicht. Ich suche mir meine Freundinnen nämlich selbst aus, danke, und das werden keine weinerlichen englischen Mädchen sein.«
»Haben die kein Zuhause, wohin sie gehen können?«, fragte Babs. »Wenn wir schon dort wohnen müssen, sollten dort doch nicht zusätzlich auch noch jede Menge Fremde hausen.«
»Ich übernehme das Anwesen offiziell erst dann, wenn juristisch alles geklärt ist.«
Mit einer Besitzurkunde. Aber es gab Schwierigkeiten, da er seine amerikanische Staatsbürgerschaft aufgeben musste, um den Titel annehmen zu können. Und dann war da noch das Geld. Es hatte ihm die Sprache verschlagen, als die Anwälte - Solicitors genauer gesagt, er musste sich diese Bezeichnung einprägen - ihm das Ausmaß seines Erbes erläutert hatten. Und das seines voraussichtlichen Steuerbescheids. »Freya sagt, sie ziehen nach Weihnachten aus.«
»Und es gibt übrigens auch noch eine Haushälterin«, ergänzte Polly. »Bestimmt ist sie so wie Mrs Danvers in Rebecca. Böse, wütend darüber, dass du, der verschollene Erbe, auftauchst, und darauf bedacht, dich bei nächster Gelegenheit über das Treppengeländer zu schubsen. Jede Wette, dass sie uns allen das Leben zur Hölle machen wird.«
»Bitte achte auf deine Ausdrucksweise, Polly.«
»Die Engländer sagen alles Mögliche, schau dir bloß Shakespeare an.«
»Du bist nicht Shakespeare.«
Polly vertiefte sich wieder in ihr Buch.
Froh darüber, nach einer langen, kalten Fahrt von London sein Ziel erreicht zu haben, bremste der Motorradfahrer ab, als er an das offene Tor des Herrenhauses Thorn Hall gelangte, und blieb an der rot-weißen Schranke stehen, die ihm den Weg versperrte. Das große Schild auf dem Torpfosten, auf dem »Britische Regierung, Statistisches Amt, Privatgelände, Zutritt verboten« stand, beachtete er nicht. Dass kein einziger Statistiker in dem viktorianischen Gebäudekomplex arbeitete, war ihm bewusst.
Thorn Hall war während des Kriegs eine geheime Einrichtung gewesen, die die Einheimischen verschwörerisch »Pst-pst!« nannten. Davon, dass die Beschilderung des Kriegsministeriums längst entfernt worden und scheinbar eine andere Regierungsbehörde eingezogen war, ließ sich im Ort niemand täuschen. Konnte man dem Dienst auch keinen Namen zuordnen, so wusste doch jeder, dass das, was in dem Herrenhaus vor sich ging, mit nachrichtendienstlichen Aktivitäten zu tun hatte.
So wie auch allgemein bekannt war, dass in einer wenige Meilen außerhalb von Selchester gelegenen wissenschaftlichen Regierungseinrichtung, die von den Einheimischen das »Atomic« genannt wurde, streng geheime Kernforschung betrieben wurde.
Die Bewohner von Selchester waren Geheimnisse gewohnt.
Der Diensthabende von Thorn Hall trat aus seiner Baracke und begrüßte den Kurier aus London. »Du bist heute spät dran, Phil.« Er nahm den Passierschein entgegen und stempelte ihn ab.
»Von Osten her zieht Schmuddelwetter auf«, entgegnete Phil. »Ich werde mich nicht lange hier herumdrücken.« Er trat den Kickstarter durch, der Motor sprang an, und der Mann brauste auf das Gebäude zu. Die Schilder mit der Geschwindigkeitsbegrenzung ignorierte er und bremste erst ab, als er den kleinen See umkurvte.
Vor dem Haupteingang bockte er das Motorrad auf, holte aus einer der Satteltaschen einen gelbbraunen Umschlag hervor und trat durch die Eingangstür. Er stieg die Marmortreppe zum Obergeschoss hinauf, in dem Mrs Tempest, die Sekretärin des Abteilungsleiters Sir Bernard, ihr Büro hatte.
»Morgen, Miss T. Heute habe ich nicht viel dabei. Bloß ein paar Unterlagen für Sir Bernard und Mr Hawksworth.«
Er nahm den Umschlag entgegen, den sie ihm ihrerseits reichte. »Danke. Bin wohl erst nach Weihnachten wieder hier. Frohes Fest.«
Danach steuerte er die Kantine an, um Tee zu trinken und eine Kleinigkeit zu essen, bevor er wieder zurück nach London aufbrach.
In einem kleinen Zimmer, zwei Stockwerke und einen Gebäudeflügel entfernt von Sir Bernards großzügigen Räumlichkeiten, saß Hugo Hawksworth an seinem Schreibtisch. Er kippelte mit seinem Stuhl und massierte sich mit schmerzverzerrtem Gesicht die Wade. Wenn er...
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