Schweitzer Fachinformationen
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Jeder Mensch sollte wissen, warum wir Abenteuer brauchen.
Für manche von uns ist das überhaupt keine Frage, denn der Drang dazu ist angeboren und in unsere DNA einprogrammiert. Wissenschaftliche Forschungen zeigen, dass ein Teil der Bevölkerung mit einer Variante des DRD4-Gens auf die Welt kommt (bekannt als DRD4-7R), die diese Menschen genetisch prädisponiert, Erkundungen und riskante Aufgaben zu übernehmen.1 Die Variante wird auch als »Reisegen« bezeichnet, und man nimmt an, dass die Träger und Trägerinnen eine geringere Sensitivität für Dopamin (einer der Wohlfühlstoffe in unserem Gehirn) aufweisen und daher eine gewagtere und mutigere Lebensweise benötigen, um ihrer biologischen Beschaffenheit gerecht zu werden. Dies erklärt teilweise, warum wir als Homo sapiens vor über 50 000 Jahren Afrika verließen und vor etwa 20 000 Jahren die gesamte Welt besiedelten. Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen glauben auch, dass diejenigen unter unseren Vorfahren, die das Reisegen in sich trugen, die ersten Entdecker waren, die den Planeten erforschten, indem sie auf Berge stiegen, Weltmeere überquerten und davon träumten, die Welt hinter dem Horizont zu erkunden.
Aber was ist mit Menschen ohne diese Variante? Ich behaupte, auch sie brauchen Abenteuer (vielleicht sogar mehr als die anderen). Sie haben vielleicht nicht den brennenden Drang, den Wüstensand unter ihren Füßen zu spüren oder am Polarkreis durch den Schnee zu stapfen, aber sie brauchen Abenteuer, um die Fesseln ihrer Komfortzone zu sprengen. Die Komfortzone wird definiert als »Verhaltensraum, in dem die Aktivitäten und Verhaltensweisen Gewohnheiten und Mustern entsprechen, die Stress und Risiken auf ein Minimum reduzieren« - ein Ort, an dem Ehrgeiz und Kreativität früher oder später kläglich zugrunde gehen.
Obwohl Stress in der Regel negativ konnotiert ist, zeigt die Wissenschaft, dass eine gewisse Dosis gut ist, weil sie ein Katalysator für Wachstum ist und eine starke Handlungsmotivation darstellt. Diese Erkenntnis beruht auf der Arbeit des ungarischen Arztes Hans Selye (1950), der feststellte, dass eine bestimmte Form von Stress, den er als Eustress bezeichnete (eu- ist ein griechisches Präfix und bedeutet »gut«), eine treibende Kraft sein kann, wenn es darum geht, sich schneller und weiter fortzubewegen und in unbekannte Gefilde vorzudringen, um neue Erfahrungen zu machen. Diese Art von Stress ermöglicht uns Wachstum in drei Bereichen:
Aber ohne Eustress schaffen wir es nicht, unsere Komfortzone zu verlassen, und dann verkümmern wertvolle Eigenschaften wie Kreativität, Mut und Kühnheit. Die Schweizer Autorin und Abenteurerin Ella Maillart sagte: »Man reist, um der Routine zu entfliehen, jener furchtbaren Routine, die jegliche Vorstellungskraft und Begeisterungsfähigkeit tötet.«
Dafür brauchen wir Abenteuer. Und das sollte jeder Mensch wissen.
Ja, vielleicht nicht in Form einer großen Expedition, aber jeder Mensch (ob biologisch prädisponiert oder nicht) braucht eine kleine Prise Risiko, Nervenkitzel und Eustress. Die Gründe dafür lassen sich in der Sportwissenschaft, Psychologie und Philosophie finden. Ich möchte dazu eine kleine Geschichte erzählen, die große Auswirkung auf mein Leben hatte. Damals überquerte ich mit einer Gruppe von Rentierhirten den Polarkreis. Das Leben dieser Hirten, die Wölfen, Schneestürmen und Minusgraden ausgesetzt waren, war gespickt mit Abenteuern und Eustress. Auf diese Weise fanden sie in einer der lebensfeindlichsten Gegenden der Welt Gesundheit und Glück.
Ort: Olenjok, Sibirien
Projekt: Rentierhirte in der Ausbildung
Temperatur: -40 Grad Celsius
Es ist März 2008 und ich bin ein (angehender) Evenki-Rentierhirte. Geografisch befinde ich mich in der russischen Wildnis hoch oben im Polarkreis, körperlich bin ich irgendwo zwischen Frostbeulen und totaler Erschöpfung. In den letzten fünf Tagen hatten wir eine Strecke von etwa 230 Kilometern in trostloser, unwegsamer Tundra zurückgelegt (um genau zu sein, im sibirischen Jakutsien). Wir bewegten uns im Schnee zu Fuß und mit Schlitten fort und hatten ein einfaches Ziel: 80 wertvolle Rentiere auf neues Weideland zu bringen und in dieser lebensfeindlichen Umgebung zu schützen.
Meine kurzen, stämmigen Beine und mein englischer Körperbau kamen mit dem Schnee und den Minusgraden überhaupt nicht zurecht, aber obwohl ich völlig aus meiner gewohnten Umgebung gerissen war, hatte ich vollstes Vertrauen in meine Gastgeber und Mentoren. Das lag daran, weil das Hüten von Rentieren für die sibirischen Evenki viel mehr als ein Beruf ist: Es bildet den Kern ihrer Kultur, seit sie vor über 400 Jahren die ersten Rentiere domestizierten und sattelten. Dadurch wurde es den Evenki möglich, in Gruppen (sogenannten Brigaden) Gebiete zu durchqueren, die zuvor unüberwindbar gewesen waren und in denen Temperaturen von bis zu -40 Grad Celsius herrschten. So erklärt sich, wie sie mit der Zeit in Ostsibirien ein Gebiet von etwa sieben Millionen Quadratkilometern besiedeln konnten. Dieses Land der Extreme bietet wenig Spielraum für Fehler, und wenn man unter Bedingungen arbeitet, reist und lebt, die die meisten von uns binnen weniger Stunden töten würden, können gefährliche Situationen in Sekundenschnelle lebensgefährlich werden. Was mich immer wieder in Erstaunen versetzte, war die Tatsache, dass das Nomadenleben meiner Evenki-Brüder seit Jahrhunderten relativ unverändert geblieben war. Sie hatten nicht nur gelernt, in der unwirtlichen Natur zu überleben, sie hatten sich dort auch entfaltet.
Meine Brigade-Brüder durchquerten gut gelaunt das tückische Gelände und zeigten dabei eine Haltung, die ich als »gesunde und glückliche Mühsal« bezeichnen möchte und mit der sie Eustress gelassen annahmen. Ich beobachtete, wie sie an einem Tag 48 Kilometer mit Schlitten zurücklegten, stundenlang körperliche Schwerstarbeit mit den Rentieren verrichteten und den harten Arbeitstag mit »Bumm! Bumm!« ausklingen ließen - so bezeichneten sie es, wenn am Abend ihre Ehefrauen und Freundinnen das Lager besuchten. Was war das Geheimnis ihrer übermenschlichen Ausdauer, Manneskraft und Fähigkeit, ihre Herzensdamen bei Temperaturen zu beglücken, in denen sich die »lebenswichtigen« Organe eines Mannes normalerweise zusammenziehen und die Arbeit verweigern? Nun, offenbar war es ein tiefes Verständnis für antike Philosophie und die bewährte Technik der Halbkastrierung.
Ja, es ist genauso seltsam, wie es klingt.
Doch erst an meinem letzten Tag als Evenki-Hirte kam ich dazu, alles Wissenswerte darüber zu erfahren. Das lag daran, das wir an Tag sechs unseren Zielort erreichten, an dem die Rentiere den Frühling verbringen sollten. Wir trafen an einem abgeschiedenen und halb verfallenen Gehöft ein, und eine unserer letzten Aufgaben war es, die Bullen von den Kühen zu trennen und in verschiedene Gehege zu bringen. Es dauerte ganze fünf Stunden, um alle 80 Tiere zu sortieren, weil Rentiere bis zu 200 Kilogramm wiegen können, und wenn sie sich nicht bewegen wollen (und das war bei vielen der Fall), muss man 200 Kilogramm unbewegliche Masse durch schier endlose, undurchdringliche Schneestürme schieben, drücken und ziehen. Immerhin gelang es mir vor Sonnenuntergang, das letzte (und sturste) Rentier in sein Gehege zu befördern. Ich war ziemlich mitgenommen und erschöpft, nachdem ich von der Rentierherde ordentlich in die Mangel genommen worden war, und ging zum Vorsteher unserer Brigade, um zu erfahren, wie es weiterging.
Er hieß Nikolai Mikhailovitsch. Er war 1,65 Meter groß, 65 Jahre alt, wie die meisten Evenki überraschend stark für seine kleine Statur, und er war durch und durch gestählt von der sibirischen Wildnis, Jahren und Kilometern der Weisheit, die sich in sein wettergegerbtes Gesicht eingegraben hatten. Weil er kein Englisch sprach (und ich selbst kaum ein Wort Evenkisch), verließen wir uns auf Wadik, der seine rechte Hand war und für mich übersetzte. Er war 53 Jahre alt, ebenfalls sichtlich geprägt von vielen Jahren in Schnee und Eis, aber er hatte Ende der 1990er-Jahre amerikanische Wissenschaftler bei der Erforschung des Klimawandels in der Arktis unterstützt und damit bereits Erfahrung im Umgang mit ausländischen Gästen. Weil er hochintelligent war, hatte er sich selbst Englisch beigebracht, damit er Fremde besser durch seine Heimat führen konnte, und jetzt, Jahre später, tat er dies mit einem völlig planlosen (aber hochmotivierten) Engländer.
»Was jetzt?«, fragte ich...
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