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Wie ein lauerndes Raubtier lag er zusammengekauert auf der Eisfläche und wartete. Ganz dicht presste er seinen Körper auf die Schneekruste, das linke Bein leicht angewinkelt, die frostklammen Hände um die Maschinenpistole gekrallt. Alle seine Sinne waren hellwach, seine Augen fixierten einen Punkt in der Ferne, saugten sich an ihm fest, bis sie tränten.
Nichts. Man konnte sie noch nicht sehen. Nur hören. Da war es wieder.
»Krech - krech - krech«.
Er fuhr zusammen. Es war nur eine Reflexbewegung, und er wunderte sich darüber. Es ist unnatürlich, dachte er. Ich müsste Furcht empfinden, irgendein Angstgefühl. Aber es war keine Furcht in ihm. Trotzdem zitterten seine Hände leicht, und er lockerte den Griff um die Waffe. Bei jedem Geräusch in der Ferne schlug sein Herz um ein paar Takte schneller, und seine Sehnen und Muskeln strafften sich noch mehr. Langsam und vorsichtig hob er den Kopf und blickte nach links. Dort lag Krämer, vierzig Schritte entfernt. Und weitere zwanzig Schritte Plaschke, dann die anderen. Am Ende der Leutnant. Neun Mann.
Und alle neun Mann taten das Gleiche wie er und dachten das Gleiche. Meinte er. In keinem war Furcht, und jeder wollte das gleiche. Denn jeder war ein deutscher Soldat, der beste Soldat der Welt. Sie lagen hier, um die Heimat zu verteidigen, um »den bolschewistischen Untermenschen« aufzuhalten, wie der Führer es befahl. Und Harald Rüster glaubte an den Führer und an Deutschland und an die Heiligkeit des Fahneneides. Harald Rüster war zwanzig Jahre alt, und man schrieb das Jahr 1944. Und dort vorne war der Feind, der anscheinend sorglos über die Eisfläche schritt und nicht wusste, dass hier neun Mann lagen, die nur darauf warteten, ihm Metallkugeln in den Leib zu jagen. Zwei wollten sie leben lassen und zurückbringen. Das war ihr Auftrag.
Harald Rüster streckte vorsichtig das linke Bein und zog das rechte hoch. Unter seinem Körper verschob sich die Tasche mit den Munitionsstreifen und drückte in seinen Magen. Er versuchte eine leichte Drehung, um sich von dem lästigen Druck zu befreien. Das Seitengewehr schlug auf die Schneekruste. Der helle Laut ließ Rüster die Zähne in die Lippe beißen.
Verdammt. In dieser kristallklaren Luft ist jedes Geräusch meilenweit zu hören!
Obwohl seine Stellung jetzt unnatürlich verkrampft war, verweilte er so. Wenn er nur hochkam, rasch hoch, wenn es so weit war. Lange war das nicht mehr hin. Schon vermochte er einzelne gedämpfte Stimmen zu unterscheiden, die aus der nächtlichen Ebene zu ihm drangen.
Sie lagen ungünstig. Es würde an ein Wunder grenzen, wenn sie nicht zu frühzeitig entdeckt wurden. Hundert Meter in ihrem Rücken ein Hochwald, der sich langsam in Unterholz und mannshohes Buschwerk auflöste. Zehn Meter hinter ihnen hörte es auf und setzte sich nur nach rechts fort, verdeckte die eigenen Linien und zog sich in weiter Hufeisenform über die kahle Ebene, bis es 300 Meter vor ihnen wieder auftauchte. Von dort mussten sie kommen.
Vorhin, als sie selbst noch in langer Reihe geduckt durch die Stämme schlichen, voran er selbst, Harald Rüster, dahinter der Leutnant - ein kluger Gedanke, dachte er dabei, den Offizier nicht als Kugelfang an der Spitze gehen zu lassen, sondern einen einfachen Gefreiten, auf den es nicht ankam! Die Leutchen im OKW bewiesen eben Köpfchen, wenn sie so etwas bestimmten. Vorhin hatte er als erster die Geräusche in der Ferne als Schritte erkannt. Und weil außer ihnen kein anderer eigener Spähtrupp unterwegs war, konnten sie nur von Russen kommen. Da Entfernungen nach Lauten in dieser Luft, in der Myriaden feiner Eiskristalle zitterten, nicht abzuschätzen waren, blieben sie auf dem Platz, wo sie sich gerade befanden. Nur etwas auseinandergezogen hatten sie die Kette. Zehn oder zwanzig Schritte Abstand. Und jener, auf den die Russenstreife als ersten stieß, hatte die Aufgabe, hochzuspringen, »Hände hoch« zu brüllen und loszuballern. Tief halten, natürlich. Die Kerle mussten noch vernehmungsfähig sein. Zwei davon wollte man sich herauspicken und zurückbringen. Die anderen mochte der Teufel holen.
»Herrgott«, dachte Rüster, »lass sie zu mir kommen, lass mich derjenige sein, der sie anspringt.«
Dass es Menschen waren, die da ahnungslos über die Schneefläche schritten und dem Tod entgegengingen, dem Tod, den er ihnen bringen wollte, daran dachte er nicht. Der Feind war kein Mensch. Feinde sind im Krieg nie Menschen. Nur Sache, Gegenstände, die man vernichten muss. Wohin würde es führen, wenn man bei jedem Schuss, bei jeder abgeworfenen Bombe an den Menschen dächte! Der ganze Humanismus ginge vor die Hunde, an den man doch glaubte. Auch die zehn Gebote hatte Harald Rüster noch im Kopf und das »Du sollst nicht töten«. Mit zwanzig kennt man mitunter den Katechismus noch, selbst wenn man Hitler-Junge war. »Du sollst nicht töten?« Natürlich nicht! Aber die da vorne, das war ganz etwas anderes. Krieg, verstehen Sie, ein gerechter Krieg, ein heiliger Krieg, mehr noch, ein Kreuzzug gegen die Barbarei. Und auch selbst war man nur Sache, hatte Sache zu sein - verdammt noch mal - auf einen selbst kommt es doch nicht an! Die von Langemarck hatten das gewusst und die von Verdun. Und der Heldentod ist schließlich - nein. Harald Rüster hatte nicht das Gefühl, ein Held zu sein. Er wollte gar kein Held sein. Irgendetwas in ihm sträubte sich gegen dieses Wort. Er fühlte die Phrase. Trotzdem wusste er, dass es Helden gab. Mölders war einer und Galland, und Prien natürlich. Aber wer hatte schon das Glück, ein Held zu werden? Die Schuldigkeit konnte man tun. Und wenn jeder sie tat, konnte nichts schiefgehen. Bei ihnen nicht, bei den neun Mann von dem Spähtrupp, und bei Deutschland nicht. Und so musste es sein, so war alles richtig und in seiner Ordnung und -
Da waren sie. Ganz klar hoben sie sich gegen den Horizont ab. Vier. Blöde Hunde, dachte Harald. Wie auf dem Kurfürstendamm nach einem ausgedehnten Nachtbummel schritten sie nebeneinander her. Und falls sich vorhin in ihm wirklich noch etwas gegen das Tötenwollen gesträubt haben sollte - jetzt war nichts mehr davon vorhanden. Sie waren selbst schuld, diese Narren. Dachten wohl, wir schliefen und ließen sie hier ruhig einen nächtlichen Verdauungsspaziergang machen! Werden sich wundern, die Herren!
Noch zweihundert Meter. Wieder äugte er nach links. Die schwarzen Klumpen seiner Kameraden lagen regungslos. Was sie wohl denken mochten? Krämer - ha, Krämer, was der dachte, glaubte er zu wissen.
»Bin Familienvater, Herr Leutnant. Drei Kinder! Warum soll ich mit auf Spähtrupp?«
»Sie wollen doch befördert werden, Unteroffizier Krämer. Warten seit vier Jahren auf den Feldwebel. Ihrer Frau täte die Gehaltsauffrischung ganz gut. Ich kann nur Freiwillige gebrauchen. Wenn Sie nicht wollen - bitte, mir soll's recht sein.«
»So - so war es nicht gemeint, Herr Leutnant. Natürlich gehe ich mit. Freiwillig.«
Ja, was Krämer dachte, wusste Harald ganz genau. Dem ging der Arsch auf Grundeis. Vielleicht war er jetzt im Geiste bei seiner Alten zu Hause. Oder er dachte an die Kugel im Bauch, in seinem Bauch, versteht sich. Ein ungutes Gefühl, ein verdammt ungutes Gefühl! Was muss er auch an solchen Unsinn denken! Hoffentlich behält er die Nerven.
Der Leutnant? Undurchsichtig! Jetzt, in dieser Sache, nicht. Der wollte seinen Orden. Das war alles klar. Aber sonst? Nationalsozialist schien er nicht zu sein. Jedenfalls kein Parteigenosse. Dazu war er in seinen Reden zu lau. Mochte er. Auch darauf kam es jetzt nicht an. Wenn er nur an seinen Orden dachte, ausgiebig und intensiv, dann tat er schon das Richtige.
Noch hundert Meter. Er konnte sie jetzt ganz klar erkennen. Der Lauf seiner Maschinenpistole richtete sich langsam hoch, und in seinem Gesicht zuckte kein Muskel. Selbst die Augenlider bewegten sich nicht mehr.
Und dann sah er es. Die vier machten eine leichte, eine minimale Wendung nach rechts. Fünf Grad vielleicht, dachte er mathematisch, lächerliche fünf Grad. Irgendein Russenhirn hatte den eigenen Füßen einen blödsinnigen Befehl gegeben, eine leichte Wendung nach rechts zu machen. Vielleicht, weil den Kerl an dieser Stelle der Schuh drückte, oder weil er auf einer Eisfurche abgeglitten war. Und die anderen drei passten sich der neuen Richtung an wie Schafe dem Leithammel. Aus. Keine Lorbeeren mehr, kein »Hände hoch«. Sie mussten den linken Flügel streifen, wo Leutnant Ficht lag. Wenigstens war dadurch der Erfolg des Unternehmens gesichert.
Immer näher kamen sie. Einer von ihnen lachte leise auf, wie nach einem guten Witz.
Werden ihnen gleich vergehen, die Witzchen. Vielleicht erzählen sie ihn dem Teufel zu Ende, wenn sie können. Und dann ertappte er sich bei einem Gedanken, der ihn erschrecken ließ:
Ich bin froh - bin froh, dass ich es nicht tun muss. Werde gar nicht...
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