Schweitzer Fachinformationen
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Seit 2015 bereisen jedes Jahr im Herbst deutschsprachige Schriftstellerinnen und Schriftsteller als Stipendiaten das Oldenburger Land im Nordwesten Niedersachsens. Sie treffen auf Stadtlandschaften verschiedensten Charakters, auf Kultur- und Agrarlandschaften und auf sehr viel Natur. Sie sehen sich um. Sie lassen sich ein auf die ganz oben links an der Peripherie gelegene Region zwischen der Nordseeinsel Wangerooge und den Dammer Bergen, zwischen der Weser und Ostfriesland. Ihre Beobachtungen lassen sie in einen Text einfließen. Im Frühjahr des Folgejahres treten sie die Reise ein weiteres Mal an. Stellte die besuchte Region bei der ersten Rundtour noch ihr Forschungsfeld dar, wird sie ihnen dann zur Bühne. Auf sieben Stationen bekommen die Besucher ihrer Lesungen nicht nur zeitgenössische Literatur vermittelt. Die Literarisierung der Reiseeindrücke ermöglicht Ortskundigen zudem einen neuen Blick auf vermeintlich Vertrautes. Das Projekt zielt nicht auf Regionalliteratur; es bedient keine lokalen Eitelkeiten. Deshalb ist es nach fünf Jahren an der Zeit, die literarischen Reflexionen der Reisen von Matthias Politycki, Marion Poschmann, Michael Kumpfmüller, Mirko Bonné und Judith Hermann auch einer größeren, nicht regional verorteten Leserschaft zu erschließen: als herausragende Beispiele zeitgenössischer Reiseliteratur. Einen Reiseessay, ein Reisetagebuch mit Gedichten, eine Erzählung, ein Reisejournal mit Gedichten und ein Reiselogbuch mit Zeichnungen des Grafikers Andreas Reiberg.
Matthias Politycki besucht zur Recherche für seine Literaturprojekte oft als exotisch geltende Länder. Ausgerechnet Fahrten in die erweiterte Nachbarschaft bezeichnet er jedoch als Reisen für Fortgeschrittene. Wenn nämlich eine Exkursion nach Indien oder Uganda schnell zu der Annahme verleite, die Unterschiede seien offenkundig, wenn auch offensichtlich in Klischees begründet, sei bei einer Reise von Hamburg ins Oldenburger Land von Anfang an klar, dass man genauer hinsehen müsse, so seine Einschätzung. Als Herausforderung hat diese vermeintliche Übereinstimmung ihn am Landgang-Stipendium gereizt.
Bei seiner Erkundungstour, die ihn im Oktober 2015 von Oldenburg nach Cloppenburg, Lohne, Delmenhorst, Nordenham, Horumersiel und Westerstede führte, sah er sogar sehr genau hin. Er bezog Quartier in den Städten und bewegte sich weit in ihr Umland hinein. Unterwegs schrieb er viel in sein Notizbuch. Dann ging es weiter nach Japan. Dort entstand auf der Grundlage der Notizen und der frischen Erinnerungen der Reiseessay Wo ist überhaupt noch Provinz? Das Oldenburger Land, von Osaka aus betrachtet. Der Text handelt die Stationen des Landgangs nicht der Reihe nach ab. Genereller ist das Interesse des Schriftstellers, und das jeweils Typische seiner Beobachtungen stellt er in einen pointierten Vergleich. Aus der japanischen Mega-City schaut er zurück auf die zuvor von ihm bereiste Region, die in der Gegenüberstellung auf den ersten Eindruck provinziell erscheinen mag. Sein unvoreingenommener Blick auf die Städte, die Landschaften und die Einrichtungen des Oldenburger Landes offenbart jedoch schnell, dass eindeutige Etikettierungen plakativ bleiben müssten. So findet der Landgänger provinziell Anmutendes auch in der japanischen Großstadt und einige Hot Spots der Globalisierung im Oldenburger Land. »Provinz, wie man sie noch bis zur Jahrtausendwende kannte« bilanziert sein Text, »gibt es anscheinend in Reinform gar nicht mehr. Sie ist nur auf andere Weise globalisiert als die Metropolen, und man muss doppelt so genau hinblicken wie dort, um es zu erkennen«.
Seinen Reiseessay stellte Matthias Politycki im Frühjahr 2016 vor. Die Städte und Landstriche, die er ein halbes Jahr zuvor zum Teil bei tristem Wetter durchfahren, durchwandert und durchrannt hatte, lernte er dabei ein weiteres Mal kennen: unter blauem Himmel und bestens ausgeleuchtet. Im Gespräch mit mir erinnerte er sich an einen längeren Trainingslauf, den er während seiner herbstlichen Tour unternommen hatte. Dem Projektnamen zum Trotz war er im Oldenburger Land nämlich weniger als Landgänger, sondern vielmehr als Läufer unterwegs. Als routinierter Läufer lief Politycki auf beiden Reisen alle zwei Tage. Bei der Lesereise hatte er Tage als Lauftage definiert, deren Stationen er beim ersten Besuch nur gehend oder mit dem Mietwagen erkundet hatte. Und er freute sich im Rückblick, dass das Hoch Oldenburgia nicht die komplette Recherchereise dominiert hatte, sondern immer wieder von Regenfronten abgelöst worden war. Allzu schönes Wetter macht ihn traurig, wenn er alleine reist. Weil er das Schöne dann nicht teilen kann. Neben dem Wetter beeinflusste also auch der Wechsel der Geschwindigkeiten seinen Blick, denn das beschleunigte Laufen schärft seine Wahrnehmung.
Matthias Politycki hat nicht zum ersten Mal eine Reise als Stipendiat unternommen. Schon vor Jahren ging er für längere Zeit an Bord der MS Europa. Danach schrieb er den Schelmenroman In 180 Tagen um die Welt. Auf dem Luxusschiff, erwiderte er auf meine Frage nach den markantesten Unterschieden zur Rundtour im Mietwagen, habe er sich wegen der steten Gruppe der Mitreisenden vor allem ein halbes Jahr lang durch Deutschland bewegt. Die Reise durchs Oldenburger Land sei nicht nur deutlich kürzer, sondern im Hinblick auf Ausweichmöglichkeiten auch einfacher gewesen. Allzu einfach soll das Reisen für ihn aber gar nicht sein, sondern lieber zu Ausbrüchen aus der Komfortzone führen. Das Selfie vor der im Reiseführer angepriesenen Sehenswürdigkeit überlässt er gerne den Urlaubern, um sich über die vom Tourismusmarketing gelisteten Sehenswürdigkeiten hinaus in eine Stadt oder Landschaft zu begeben.
Nicht 180 Tage, sondern eine Woche. Nicht um die Welt, sondern in eine Region, die bei Weltreisenden in aller Regel nicht auf der Wunschliste stehen dürfte, führte ihn das Landgang-Stipendium. Im Gespräch mit mir betonte Matthias Politycki die generelle Notwendigkeit, auch an der Peripherie gelegene, kleinere Regionen Deutschlands ins kulturelle Bewusstsein zu heben, um die Vielfalt der Regionen zu bewahren. Und was an der Peripherie liegt, ergänze ich, ist letztlich nur eine Frage der Perspektive.
Die Stipendiaten reisen mit der Bahn oder mit einem Mietwagen durch den Nordwesten, so der Plan. Doch Marion Poschmann wollte mit dem Fahrrad unterwegs sein. Ich traf deutliche Aussagen über Regenfälle im norddeutschen Herbst. Sie konterte mit dem Besitz von Regenkleidung und brachte 2016 Ende September ihr altes Fahrrad aus Berlin mit. Immerhin ließ sie sich von ihrem Mann begleiten, was meine Sorge hinsichtlich möglicher Unglücke - platte Reifen irgendwo im Niemandsland, gestohlene Räder fernab der Zivilisation - relativierte. Die Passagen zwischen den Stationen gewannen an Bedeutung, weil die Autorin des Reisetempos wegen viel Zeit hatte, den Blick unterwegs in die Landschaften zu richten. Auch im Mittelpunkt ihrer zuletzt erschienenen Gedichtbände Geliehene Landschaften und Nimbus steht die Naturbetrachtung. 2017 erhielt Marion Poschmann den erstmals vergebenen Deutschen Preis für Nature Writing. »Bereits in ihren Gedichtbüchern Grund zu Schafen (2004) und Geistersehen (2010) hat Poschmann einen neuen Typus des Naturgedichts entwickelt, der die ästhetische Erfahrung von Landschaft auf neue Fundamente stellte«, formulierte die Jury für den Hölty Preis, der ihr 2020 zugesprochen wurde. »Nimbus präsentiert Gedichte, die vom irreversiblen zerstörerischen Eingriff des Menschen in die Natur erzählen und zugleich der noch nicht verschwundenen Magie der einzelnen Naturphänomene zu sinnlicher Präsenz verhelfen.«
Marion Poschmann sucht nicht nach den augenfälligen Attraktionen der Natur. In ihrem Beitrag On the Road in der WELT vom 25.1.2014 formuliert sie: »Seit einiger Zeit verfolge ich ein Projekt namens FADE ORTE. Ein fader Ort ist ein Ort ohne besondere Merkmale, im Grunde so etwas wie der Mann ohne Eigenschaften, nur eben räumlich aufgefasst. Der Begriff des Faden stammt aus der chinesischen Ästhetik und meint eine subtile Qualität, die des Unauffälligen, Gemäßigten, in keiner Weise Hervorstechenden. Ein fader Ort kann für die Dichtung sehr produktiv sein. Notwendige Bedingung ist die Abwesenheit schriller Reize, wobei schon das satte Grün eines Rasens als unerhört grobschlächtig gilt.« Ich war lange skeptisch, ob die Schriftstellerin im Frühherbst 2016 fade Orte finden würde, als sie im Oldenburger Land mit dem Fahrrad >on the road< war. Auf blauen Himmel traf ihr Blick und auf durchaus noch satte Grünflächen. Umso erleichterter war ich, als Marion Poschmann mir am Ende ihrer Erkundungstour sagte, die Reise habe unter einem guten Stern gestanden.
Ein guter Stern, das legt die Lektüre ihres Reisetagebuchs nahe, begleitete auch ihre Arbeit an diesem Text. Als Vorbild führt sie im Prolog das Reisebuch Auf schmalen Pfaden durchs Hinterland des japanischen Schriftstellers Basho an, einen Klassiker der Weltliteratur. In der Reiseliteratur Asiens, so Marion Poschmann, herrsche die Ansicht, dass jeder Reise unabhängig von ihrer Länge die Ernsthaftigkeit einer Lebensreise zugemessen werden könne. Von keiner Reise, dauere sie auch nur sieben Tage, komme man als derselbe zurück. Auch ihre Reise durch den Nordwesten hat sie beeinflusst. »Nach einer Woche im Oldenburger Land bin ich ruhiger geworden. Mein äußeres Tempo war vom Fahrrad vorgegeben, mein inneres Tempo hat sich der Landschaft angepasst«, bilanziert ihr...
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