Schweitzer Fachinformationen
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1989
Es war an einem Morgen im April, als Mat mir mitteilte, dass er bald verschwinden würde. Wir saßen im Pyjama auf dem Dach unseres Hauses und aßen Marshmallows, die wir in Kakao tunkten. Der Zucker schmerzte an den Zähnen. Mat grinste zufrieden, badete die rosafarbene Pampe in der warmen Milch und zeigte mit der freien Hand auf das Meer, das in den Horizont überging, die Umrisse einiger Segelboote, weiter draußen zwei Tanker, die Kurs auf die offene See nahmen. Er werde demnächst verschwinden, weil es das Einfachste sei, was er tun könnte, sagte er, schob sich das nächste Marshmallow in den Mund und kramte die flache Mütze hervor, die er aus einer Kiste in unserem Keller gezogen hatte. Meine Mutter wollte sie nicht im Haus haben, was wir beide nicht verstanden, und der Keller gehörte zum Haus, wie Mat ihr erklärte, worüber sie nur die Augen verdrehte. Sie wollte auch nicht, dass Mat sie trug, aber er war noch dickköpfiger als meine Mutter, also gab sie irgendwann auf und verbot ihm nur, sie außerhalb unseres Hauses zu tragen.
«Das brauchen wir nicht, diesen Humbug», sagte sie jedes Mal, wenn sie ihn mit der Mütze sah, «und deshalb bleibt das hier, in unseren vier Wänden.»
«Eigentlich sind es mehr als vier -»
«Mat!»
«Hochundheiligesehrenwort.»
«Vergiss nicht, sie wieder abzunehmen, wenn du gehst!»
So oder so ähnlich liefen die Unterhaltungen zwischen ihnen ab.
Mat klippte sie mit einer Mickey-Mouse-Haarspange im Haar fest, weil sie eigentlich keine Mütze war, eher eine Art Deckel oder Kappe, die nur den Hinterkopf bedeckte. Vom Hafen her stank es nach Fisch aus der Konservenfabrik. Mat tunkte das nächste Marshmallow in die Milch und kaute, den Blick auf den Horizont geheftet, seine Kopfbedeckung flatterte im Wind.
«Wir müssen üben, Raisa», sagte er, «wir müssen es üben, bis wir es ohne Probleme können. Dann kann ich dich vielleicht sogar mitnehmen.»
Mat schielte zu mir hinüber. Ich nickte vorsichtshalber. Ich hatte den Mund voller Marshmallows und wusste nicht, was ich dazu sagen sollte. Ich wollte nicht verschwinden. Um nichts in der Welt.
Mat und ich saßen damals an den Wochenenden, an denen wir keinen Samstagsunterricht hatten, oft auf dem Dach und starrten auf das Wasser. Wir beobachteten die Silhouetten der Nachbarn, wie sie hinter durchscheinenden Vorhängen stritten oder auf ausgeblichenen Plastikstühlen saßen und sich anschwiegen. Meist rauchten die Männer, und die Frauen tranken irgendetwas, das Farbe zurück in ihre Gesichter brachte. Manchmal standen sie auch nur in Funktionsjacken im Garten herum und schwiegen sich an, bevor einer von beiden zurück ins Haus ging. Wir nannten das die Schweigegespräche.
Wenn Mat mit mir zusammen war, war er das Gegenteil davon. Meistens plapperte er ohne Pause und erzählte mir eine Geschichte nach der anderen. Wie die von dem unsichtbaren Mädchen, das ihn ab und zu besuchte, ein angeschlagenes, bildschönes Geschöpf mit dunklen Locken, mit dem ich Mitleid haben musste. Mat machte sich lustig über ihre Flugversuche, bei denen sie nur wenige Meter vom Boden abhob, als ob er selbst jeden Morgen in Lichtgeschwindigkeit um die Welt sausen würde. Sie sei auf einem Floß hergekommen, es läge gleich neben dem Anleger des alten Amerikahafens, der jetzt Touristen als Aussichtspunkt diente. Warum er ein unsichtbares Mädchen sehen könnte und warum es ein Floß bräuchte, fragte ich, wenn es doch eigentlich fliegen könnte. Mat sah mich nur verächtlich an und erzählte weiter. Von dem Schiff, das er eines Tages bauen würde, mit einer Bibliothek im Bauch, eine Art Arche Noah, und wenn die Flut käme, dann wären wir alle verloren, nur die Figuren in den Büchern nicht. Ich nickte und fischte ein pinkes Marshmallow aus der Tüte. Das Schweigegespräch der Nachbarn gegenüber dauerte heute besonders lang. Selbst der Hund schwieg. Erst nach einer Stunde gab der Mann auf und zog sich ins Haus zurück, ohne die Gummistiefel auszuziehen.
Mats Mutter hatte eine Ganztagsstelle im Büro des örtlichen Stromanbieters angenommen. Sie war nie zuhause, wenn wir aus der Schule kamen, deswegen kam Mat oft mit zu uns. Mat krempelte immer seine Hosen hoch, zu hoch, so dass sie über den Knöcheln hingen, als hätten wir Hochwasser, dabei war nicht mal Herbst und auch keine Sturmflutwarnung stand an. Manchmal vergaß er die Mickey-Mouse-Haarspange vor dem Einschlafen in seinem Haar, so dass sie am nächsten Morgen noch irgendwo auf dem Hinterkopf klemmte, wenn er im Matheunterricht vor mir saß. Ein halbes Jahr lang trug Mat eine Brille, bei der ein Glas abgeklebt war, weil seine Mutter und der Arzt überzeugt waren, dass er sonst zu schielen beginnen würde wie sein Großvater, von dem es nur ein einziges Foto gibt, auf dem er furchtbar angestrengt in die Kamera schaut und seine eigene Nase den Augen im Weg ist. Mat trug die abgeklebte Brille und war stolz, ein Pirat zu sein, obwohl das lächerlich war, und er wusste das auch. Das war, bevor Mat und seine Mutter in die Siedlung in das Haus neben uns einzogen. Und bevor meine Mutter beschloss, dass wir jetzt ein festes Zuhause bräuchten und hierbleiben würden. Für immer, sagte sie nicht, denn daran glaubte sie nicht. Mat bewahrte die Brille auf wie einen Schatz.
«Aber das brauchen wir ja nicht, diesen Humbug», sagte er und grinste. Durch die Brillengläser sah die Welt, die Mat sah, an den Rändern verbogen aus. Ich probierte sie manchmal auf und jedes Mal wurde mir schwindelig.
Mat war eines der Kinder in der Siedlung, die einen Haustürschlüssel an einem Band um den Hals trugen. Das andere war Özlem, deren Eltern Nachtschichten in der Fischfabrik arbeiteten und meistens tagsüber schliefen, so dass sie leise in die Wohnung schleichen musste und sich Essen in der Mikrowelle zubereiten durfte. Özlems Schlüssel war riesig. Mat war neidisch darauf. Und auf die Mikrowelle.
Mat malte sich mit dem Kugelschreiber Bilder auf den Arm, weil das Foto, das in dem Holzkästchen mit der Mütze gelegen hatte, einen Mann zeigte, der in schlackernden Hosen mit einer Haartolle stolz unter einem Baum stand, auf dem Arm Bilder, die Mat nicht wirklich erkennen konnte, Rosen oder Anker oder nackte Frauen. Er hatte keine Ahnung. Wir hatten beide keine Ahnung, wir wussten nichts. Wir ahnten nur, dass es da irgendetwas gab, was nicht erzählt worden war und nicht erzählt werden würde, von unseren Müttern nicht, von ihren Müttern nicht und von den anderen ringsum nur hinter vorgehaltener Hand. Wir erkannten es in den Blicken, im Wegdrehen des Kopfes, im Flüsterton, den wir als das Fiepsen einer Maus wahrnahmen oder als den Hunger eines kleinen Vogels, der im Nest saß und rief.
Mat und ich waren uns nicht ähnlich, aber wir verstanden dieselben Dinge. Wir kannten beide unsere Väter nicht, wobei Mats Vater ihn einmal im Monat abholte und nach einem langen Wochenende zurückbrachte, was nicht bedeutete, dass er ihn deswegen besser kennen würde, wie Mat bemerkte, nur dass er ihn ab und zu sah. Wir verstanden beide, wie es war, am Morgen aufzuwachen und nicht zu wissen, wo. Unsere beiden Mütter arbeiteten von morgens bis abends, nur dass meine zuhause saß und strickte, während Mats Mutter die Elektrizität der Stadt bewachte, die Funken und die blau glimmenden Ströme, die durch die Häuser flossen. So beschrieb Mat es mir. Manchmal flossen blaue Ströme auch durch meine Mutter hindurch, und ihr Haar stand ab und funkte, wenn sie im Halbdunkeln auf dem Sofa saß. Rings um sie herum lagen die Wollknäule verteilt, Stricknadeln und fertige Teile eines Kleides oder einzelne Ärmel. Später würde sie die Teile zusammennähen und in die Boutique in der Einkaufsstraße bringen, wo ihre Pullover, Röcke und Mützen gegen Provision verkauft wurden. Meist summte sie dabei leise vor sich hin. Wenn ich sie bat, die Lieder lauter zu singen, lachte sie.
«Du weißt doch, dass ich nicht singen kann, mein Schatz.»
Also setzte ich mich auf die Treppe und hörte von dort aus zu, weil sie vielleicht lauter singen würde, wenn sie nicht wusste,...
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