Schweitzer Fachinformationen
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Für die Handvoll Demonstranten hinter der Absperrung war der Fall klar: Profitgier, Ausbeutung, die korrupte Politik.
Vincent stapfte durch aufgeweichte Erde. Kein Grün, so weit er blicken konnte. Die Seestern-Arkaden sollten hier entstehen, ein von Beginn an umstrittenes Projekt der Osterkamp-Entwicklungsgesellschaft. Das Schild an der Zufahrt zeigte eine Computergraphik mit transparenten Fassaden, Bäumen und blauem Himmel. Dazu den Slogan: Die Zukunft beginnt jetzt.
Der Wind trug Protestparolen herüber und das Rauschen der nahen Schnellstraße. Davon abgesehen war es still, seit der Nacht ruhte die Arbeit, wo sonst die Maschinen rund um die Uhr dröhnten. Uniformierte suchten das Gelände ab - vielleicht lag irgendwo ein weggeworfener Benzinkanister.
Vincent vergrub die Fäuste in den Taschen seiner Lederjacke. Es war Mai, aber kalt, die Eisheiligen. Löschwasser hatte Pfützen gebildet, der Matsch schmatzte unter Vincents Schritten und verdreckte seine Schuhe. Warum hatte er nicht an Gummistiefel gedacht? Auf keiner Großbaustelle ging es sauber zu, auf dieser schon gar nicht.
Keine zwanzig Meter von der Grube der künftigen Tiefgarage entfernt, bogen sich verrußte Zeltstangen wie die Rippen eines skelettierten Riesen dem Himmel entgegen und markierten den Ort des Unglücks. Dazwischen zwei Reihen schwarzer Stahlgestelle - einst Stockbetten, in denen Menschen schliefen. Vincent stellte sich die Flammen vor und den Qualm, der das Atmen unmöglich machte. Drei ukrainische Arbeiter waren hier ums Leben gekommen, am gestrigen Sonntagabend kurz nach zehn.
Eigentlich kein Fall für eine Mordkommission, aber es gab Gerüchte: Die Konkurrenz habe gezündelt. Linke Gegner des Projekts. Oder Neonazis, Ausländerfeinde.
Vincent erblickte Anna, die Kollegin trug die Montur der Spurensicherung, Overall und Handschuhe. Ihr erster Tag im Dienst, nachdem sie letzte Woche krankheitshalber gefehlt hatte.
Er ging zu ihr hin. «Und?»
Anna zuckte mit den Schultern.
«Wo sind die anderen?»
«Zeugen befragen. Im Krankenhaus, im Präsidium.»
«Und der Sachverständige?»
«Stell dir vor, Vincent, es gab nur einen Feuerlöscher für das ganze Zelt, und der war leer!»
«Grobe Fahrlässigkeit. Darum kümmern sich die Brandsachbearbeiter.»
«Weißt du, was eine Befüllung kostet? Schlappe zwanzig Euro.»
«Spuren von Brandbeschleunigern?»
«Zwanzig Euro! Da riskiert man lieber das Leben von Bauarbeitern. Auf diese Art verdient sich Osterkamp seine Millionen!»
«Du kannst das System nicht überwinden», antwortete Vincent.
«Das System? Worin besteht es deiner Ansicht nach?»
«Keine Ahnung.»
«Wie willst du dann behaupten, dass du es nicht überwinden kannst?»
Er nickte zu den Leuten hinüber, die hinter dem Flatterband Plakate hochhielten. «Wetten, die können es auch nicht?»
Anna zog die Handschuhe aus. «Ich bin hier fertig.»
Sie gingen zu den Wohncontainern, die man in drei Etagen übereinandergestapelt hatte, noch näher an der riesigen Grube. Die weißen Kisten waren vom Feuer verschont geblieben, nur an der Seite gab es Spuren von Ruß. Hier hatten sie beide geparkt.
«Der Sachverständige hat seine Proben genommen», sagte Anna und beantwortete damit endlich seine Frage. «Keine Ahnung, wann er damit fertig ist und ob er etwas findet. Aber um ein Verbrechen handelt es sich so oder so. Das Zelt war lediglich für das Unterstellen von Baumaschinen zugelassen. Nur eine Stunde später wäre es voll belegt gewesen. Nicht auszudenken, wie viele Arbeiter dann .» Sie öffnete den Kofferraum ihres Dienstwagens, zog den Overall aus und warf ihn hinein. «Weißt du, was der Mehrpreis für eine feuerfeste Plane gewesen wäre? Ganze hundertdreißig Euro. So hoch ist der Gegenwert für drei Menschenleben auf einer Osterkamp-Baustelle für ein weiteres Einkaufszentrum, das keiner braucht!»
«Woher weißt du das so genau?»
Die Kollegin strich eine Strähne hinter ihr Ohr. Dunkelrot gefärbt - er fragte sich, ob das neu war oder ihm jetzt erst auffiel. Anna musterte ihn. «Warum bist du hier, Vincent?»
«Mir ein Bild machen.»
«Wird das der kommende Führungsstil? Ein Kommissariatsleiter, der selbst an jeden Tatort fährt?»
Vincent schüttelte den Kopf. «Wetten, dass Thilo Becker die Stelle kriegt? Er ist länger MK-Chef als ich.»
«Da halte ich dagegen.» Anna holte einen Zehneuroschein aus ihrem Portemonnaie. «Komm schon. Oder ist etwa schon alles entschieden?»
Vincent kramte nach seinem Geld. Sie steckten die Scheine in einen Spurenbeutel, den Anna beschriftete. Chefwette.
Vincents neues Smartphone spielte Musik.
«Was ist das?», fragte Anna, während er in der Jackentasche nach dem Gerät fischte.
«London Calling, The Clash.»
«Kenne ich nicht.»
«Ende der Siebziger. Dafür bist du zu jung.»
Das Display zeigte die Nummer von Nina, seiner Freundin. Die Erinnerung an den Streit beim Frühstück sprang ihn an. Vincent suchte Abstand zur Kollegin und versank nach ein paar Schritten bis zu den Knöcheln im Schlamm.
Er war wütend auf Nina, die ihn vor ein paar Wochen mit einem Anwalt betrogen hatte, den sie auch beruflich ab und zu traf. Nina hatte den Seitensprung gestanden und glaubte, damit sei alles aus der Welt. Seitdem warf sie ihm seine Verletztheit vor - verkehrte Welt, fand Vincent.
Schon nach den ersten Worten wurde ihm klar, dass Nina nicht daran dachte, etwas zu bereuen. Ruhig bleiben, ermahnte er sich. Anna brauchte nicht alles mitzubekommen.
«Ich werde für ein paar Tage zu einer Kollegin ziehen», sagte Nina.
«Bitte?»
«Ich brauche Abstand. Ich muss mir klar darüber werden, ob das eine Krise ist, die vorbeigeht, oder so etwas wie unsere Schlussphase.»
Vincent spürte, wie es in seinem Magen rumorte. «Wetten, dass die Kollegin in Wirklichkeit männlich ist und auf den Namen Jens hört? Viel Spaß!» Er tippte auf die rote Taste und stapfte zu Anna Winkler zurück.
Erneut das Handy.
«Geiler Song», bemerkte die Kollegin.
Vincent nahm das Gespräch an und konnte nicht verhindern, etwas lauter zu werden. «Weißt du, was du mich kannst?»
«Ich find's schön, wie du heute deinen Charme spielen lässt.» Die Stimme am Telefon gehörte Ela Bach, seiner Noch-Chefin. Es war ihr letzter Tag in der Dienststelle, am Nachmittag würde es einen Umtrunk geben. Sie hatte sich auf einen Posten beim Landeskriminalamt beworben, und plötzlich war alles ganz schnell gegangen. Keiner im KK11 hatte so recht begriffen, was Ela zu dem Wechsel bewegte, und bislang hatten die Obermuftis die Nachfolgefrage nicht geklärt - die Stelle war noch nicht einmal ausgeschrieben.
«Entschuldige, Ela, ich hab dich verwechselt.»
«Wie sieht's aus?»
«Bis jetzt kein Hinweis auf einen Vorsatz.»
«Mach das bitte der Behördenleitung klar. Die drehen völlig am Rad, als hätte der nationalsozialistische Untergrund wieder zugeschlagen. Und außerdem soll ich dir ausrichten, dass Thann dich um vierzehn Uhr in seinem Büro sehen will.»
«Der Inspektionsleiter? Mich?»
«Ja, die Würfel sind offenbar gefallen.»
Anna hatte seine Worte aufgeschnappt. Sie wedelte mit dem Beutel, der die zwanzig Euro enthielt.
Vincent winkte ab. Er würde es erst glauben, wenn er die Beförderung schriftlich hatte. Es wäre die Krönung einer Polizistenlaufbahn im gehobenen Dienst - dass Ela ihn vorgeschlagen hatte, wusste er, aber er hatte nicht damit gerechnet, dass sich die Chefs so entscheiden würden.
Er musste an seinen Großvater denken, der stets getan hatte, was man von ihm erwartete. An seine Mutter, die stolz darauf war, genau das Gegenteil zu tun.
«Glückwunsch, Vincent!», kam Elas Stimme aus dem Handy.
Er bedankte sich.
Die Mahnwache an der Absperrung hatte Zulauf bekommen. Etwa fünfzig Menschen jeden Alters waren es jetzt, hüpfend trotzten sie dem kalten Wind. Lieder und bunte Transparente. Vincent konnte Kamerateams ausmachen. Ein VW-Bulli fuhr vor und entließ Uniformierte, die das Flatterband sicherten. Noch ein Transporter, Beamte der Einsatzhundertschaft mit Schild und Helm.
Vincent gefiel nicht, was er sah. Es wirkte, als stünde die Polizei für die Bösen. Als sei das Gesetz nicht neutral.
Ein Journalist, den er vom Sehen kannte, eilte auf ihn zu. Atemlos, eine Hand auf der Kamera, die an seinem Hals hing. Weiß der Geier, wie der Kerl auf diese Seite des Geländes gefunden hatte.
«Ist schon bekannt, wer das Feuer gelegt hat?», rief der Zeitungsfritze herüber.
Vincent drehte sich weg und stieg in sein Auto.
Der Typ von der Presse hatte ihn fast erreicht. «Warten Sie! Was soll es denn sonst bedeuten, wenn Sie von der Mordkommission ermitteln? Lassen Sie uns reden!»
«Da gibt's nichts zu reden», antwortete Vincent und zog die Tür zu.
Beim Starten wühlten sich die Räder in den Dreck. Er nahm das Gas zurück, erreichte die Baustellenausfahrt und die Brücke über den Rhein. Schafe grasten am Ufer. In der Strömung mühte sich ein Frachter ab und kam kaum von der Stelle.
Vincent raste auf die Innenstadt zu, deren Bürotürme im Dunst flimmerten. Er musste an einen Spielfilm von Dominik Graf denken, der mit genau dieser Fahrt begann. Man müsste den Streifen noch einmal drehen, dachte er. Damals war noch alles überschaubar gewesen. Die Zukunft hatte noch nicht...
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