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Meine früheste Kindheitserinnerung ist die an unsere Wohnstube im Elternhaus meines Vaters in Spielberg in Hessen, wo ich am 29. September 1939 zur Welt gekommen bin.
Sie maß etwa dreieinhalb mal viereinhalb Meter, was sich mir deswegen eingeprägt hat, weil ich später - mehr als 40 Jahre danach - das Haus innen umbaute und aus der Wohnstube zusammen mit der Schlafkammer der Großeltern, der Küche und der Vorratskammer einen sehr gemütlichen großen Wohnraum machte. Mein Vater und ich befanden uns in der Wohnstube, in die es gleich rechts neben der Haustür gegenüber dem »Büro« ging, was auf einem kleinen weißen Emailleschild in schwarzen Buchstaben geschrieben stand.
Es ist die einzige persönliche Verbindung, die übrig geblieben ist mit dieser normalerweise wichtigen Person im Leben eines Menschen, neben der Mutter natürlich. Das muss so einige Monate vor meinem zweiten Geburtstag gewesen sein, also im Spätsommer 1941. Es war sein letzter Urlaub von der Wehrmacht in seinem Elternhaus in Spielberg. Ich erinnerte mich eigentlich erst viel später daran, wie ein freudiger junger Mensch mich ausgelassen immer wieder vom Boden aufhob, auf seine Schultern setzte, hochhob und das immerfort wiederholte, und dass ihm dabei die Schirmmütze vom Kopf fiel, die wohl seine Lieblingsmütze war.
Ich weiß, dass über den Wahrheitsgehalt frühester Kindheitserinnerungen gestritten wird. Ich habe darüber nachgedacht: In der Zeit davor war der Vater sicher auch schon auf Urlaub von der Wehrmacht in seinem Elternhaus gewesen. Da war ich aber wahrscheinlich noch viel zu jung, um mich an ihn erinnern zu können. Als mir später bewusst wurde, dass ich ohne Vater aufwuchs, hat sich dieses Erlebnis in meinem Gedächtnis entwickelt und festgesetzt.
Die Mütze wurde von seinen Eltern aufgehoben als Erinnerungsstück an ihren Sohn, der am 2. November 1941 im Russlandkrieg, nicht weit entfernt von Moskau, in einer Spähtruppaktion seiner Kompanie im Nahkampf fiel. Das war bei dem Ort Stara Rusija und wurde so von überlebenden »Kameraden«, wie meine Mutter später immer wieder erzählte, geschildert. Er hatte wohl meiner Mutter auf einer Feldpostkarte, die erst nach seinem Tod ankam, geschrieben, dass sie in der Ferne die Häuser Moskaus sehen würden. Wahrscheinlich war da aber ein Stück Euphorie dabei, denn es sollen noch circa 40 Kilometer bis nach Moskau gewesen sein.
November 1941, das Soldatengrab meines Vaters 40 Kilometer vor Moskau
Ich kann mir das aber gut vorstellen, denn bis dahin war ja die Wehrmacht sozusagen pausenlos vorwärtsgekommen und er war von Anfang an, also seit Juni 1941, im Russlandkrieg dabei.
Es ging alles noch geordnet zu und deshalb erhielt meine Mutter die Fotografie seines Grabes mit einem Birkenkreuz, auf dem sein Name und der Todestag standen, umrahmt von Gräbern mit ebensolchen Kreuzen, auf denen die Namen zweier mit ihm gefallener Kameraden geschrieben waren. Das war das Ende eines jungen deutschen Mannes, der bis dahin, mit nur kurzen Unterbrechungen, mehr als sechs Jahre als Wehrmachtssoldat ausgebildet worden war und bis zu seinem Tod die Kriege Hitler-Deutschlands, zum Schluss als Obergefreiter, mitgemacht hatte. Es waren vorher die Kriege in Polen und in Frankreich gewesen.
Mein Vater hat viel fotografiert und es existieren zahlreiche Bilder mit Beschriftungen aus den Kriegsjahren. Man sieht ihn darauf auch manchmal fröhlich und in fast freundschaftlicher Runde mit Zivilisten während der Besatzungszeit in Frankreich. Wie ich später immer wieder von seiner sehr traurigen Mutter hörte, ging er mit seinen Mitmenschen liebenswürdig und hilfsbereit um. Sie weinte sehr oft über seinen frühen Tod. Übrig von ihm blieb die Schirmmütze als Erinnerung. Die hat seine Mutter in Ehren gehalten und ihrem kleinen Enkelsohn das so vermittelt. Für meine Kindheit hatte sein Tod natürlich prägende Folgen, denn von nun an lief das weitere Leben anders ab, als man sich das normalerweise in einer jungen Familie vorgestellt hätte.
An dieser Stelle möchte ich die Frage aufwerfen, die sich mir später wiederholt stellte: Wie wäre mein Leben verlaufen, wenn der Vater aus dem Krieg zurückgekommen wäre? Sein Tod hat, weil dieses einschneidende Ereignis am Anfang meines Lebens eintrat, dessen gesamten Ablauf in Bahnen gelenkt, die andernfalls völlig anders verlaufen wären. Ich möchte das nicht ausmalen, sondern unbeantwortet stehenlassen. Mein Leben hätte dann aber sicher nicht die Dimension und die Konsequenzen gehabt, die eine Auseinandersetzung damit rechtfertigen würden. Dieses summarische Urteil möchte ich aber fällen: Mein Leben wäre wesentlich einförmiger abgelaufen, als es gewesen ist. Das kommt mir in den Sinn, wenn ich darüber nachdenke, wie es war und wie viele Einflüsse ihm die Richtung gaben, die es genommen hat. Die hätte es alle nicht gegeben, wenn der Vater den Krieg überlebt hätte.
In den nächsten vier Lebensjahren ging ja nicht nur der schlimme Krieg weiter, sondern eine gerade mal 25 Jahre alte junge Frau musste sich bei all der Trauer über das immer nur kurzfristige Zusammensein mit ihrem Ehemann - meine Eltern hatten 1939 erst kurz vor meiner Geburt geheiratet - auch noch mit ihren Schwiegereltern arrangieren, denn in deren Haus lebte sie zusammen mit mir, wie es damals, jedenfalls auf dem Land, üblich war.
Und wie muss man sich das Haus, besser gesagt »die Hofreite«, wie man das früher nannte, vorstellen, in dem sich das Leben abgespielt hat und in dem ich während der ersten sieben, besser gesagt zehn Jahre aufwuchs, in Spielberg, der Burgstraße Nr. 1. Bevor die Gemeinde den Straßen in Spielberg Namen gab, hatte es einfach Haus Nr. 16 geheißen.
Dem kleinen Buben gefiel im Wohnzimmer am besten der gusseiserne Ofen, der an Sonn- und Feiertagen mit Buchenholzscheiten »angesteckt« wurde, weil der so eigenwillig mal laut, mal leise vor sich hin blubberte und ab und zu knackend und auch mal krachend auf sich aufmerksam machte, bis die letzten Holzspäne dran waren und das Feuer langsam abbrannte. Dann legte die Großmutter ein Holzscheit nach oder zwei, damit das Feuer nicht ausging.
An diesem Spätsommertag war der Ofen natürlich nicht an, denn das war er nur im Winter und da auch nur an Sonn- und Feiertagen, damit das sogenannte Losholz reichte, das für das ganze Jahr in Festmetern gerechnet aus dem Büdinger Wald geholt wurde, wo es jeder Familie in festgelegter Menge - das war von der Zahl der Familienmitglieder abhängig - vom Fürst Ysenburgschen Forstamt zugeteilt wurde. Diese Allmende ist heute ausgestorben, weil die Einwohner der Dörfer später lieber Öl zum Heizen bevorzugten. Das konnte bequemer gehandhabt werden.
Viel später, während meiner Zeit als Schüler am Gelnhäuser Gymnasium, hackte ich jedes Jahr für meine Großmutter in der Burgstraße die ihr zugeteilten drei Festmeter Buchenholz mit der Axt zu kleinen Scheiten, die der Holzschneider Weber aus Wittgenborn mit seiner fahrbaren, dieselgetriebenen Bandsäge von meterlangen Stämmen in kurze Stücke gesägt hatte. Vorher hatten die Pferde des Neuenschmidtener Großvaters die Buchenstämme auf dem Leiterwagen vom Wald nach Spielberg gezogen. Seitdem, und heute noch besser, kann ich gut einschätzen, wie viel Liter Pferde- und Menschenschweiß im Heizwert eines Festmeters selbst gemachten Brennholzes enthalten sind. Es gab übrigens auch damals schon zwar naturnahe, aber ökologisch »nicht einwandfreie« Braunkohle, die aus der Grube Maria, ebenfalls im Büdinger Wald nahe Wittgenborn gelegen, geholt wurde. Die wurde auch in den Öfen der Häuser verbrannt.
In der Wohnstube saßen wir, besonders gerne an kalten Winterabenden, neben dem wärmenden Ofen auf dem damals schon altersschwachen Familiensofa mit seinem geschwungenen Holzrahmen, das laut knarrte, wenn ich darauf herumhüpfte. Es war mit zartem, samtigem Stoff bezogen, der meinen Kinderhänden guttat, wenn ich ihn anfasste. Er hatte eine graugrüne Farbe und war mit vielen kleinen Blüten bedruckt. Das hat sich mir damals schon als so schön und gemütlich eingeprägt, dass ich das Sofa später restaurieren ließ. Es fügt sich heute mit allen Erinnerungen, die ich daran habe, als Kontrast und harmonisch zugleich in unsere sonst modern und eher sachlich gehaltene Frankfurter Wohnungseinrichtung. Der Restaurator ordnete das Sofa den sogenannten Mainzer Sitzmöbeln zu, die in unserer Gegend wohl häufiger vorkommen. Es war wahrscheinlich von den Großeltern um die vorletzte Jahrhundertwende...
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