Schweitzer Fachinformationen
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Ermutigung
Ich träume noch manchmal von der Kurischen Nehrung. Dann stehe ich auf der Großen Düne und schaue auf Nidden hinab. Ich spüre die Sonne im Rücken, und mein Schatten ist ein körperloser Mann auf Stelzen, der sich auf den makellosen Sand wirft. Wenn ich mich bewege, bewegt sich der Stelzenmann über den gerippten Untergrund und sieht aus, als würde er zittern. Am Fuße der Düne beginnt der Wald, und ich muss mich nur ein kleines Stück vorbeugen, um die weiße Gestalt zu sehen, die sich gemessenen Schrittes mit auf dem Rücken verschränkten Händen zwischen den sich im Wind hin und her wiegenden Bäumen bewegt. Thomas Mann trägt seinen Sommeranzug mit Tennisschuhen, steckt sich eine Zigarette an, raucht sie in einem Zug und wirft sie in den Wald, der sofort in Flammen aufgeht. Er ist nicht allein. Im gebührenden Abstand folgen ihm seine Niddener Zeitgenossen: Ich erkenne Ernst Mollenhauer, der alle paar Meter in die Knie geht und sorgsam die weggeworfenen Stummel des Dichters einsammelt. Da ist Max Pechstein, die Pfeife im Mund, er malt mit einem Pinsel Striche in die Luft. Frau Bryl jongliert mit dampfenden Zeppelinen und ruft dabei: »Levez-vous!« Hinterdrein schwebt Paul Isenfels in wallenden Gewändern und photographiert die vor ihm Gehenden mit einem winzigen Apparat. Ich lächle und winke, und der Dichter dreht sich zu mir um und zieht besorgt die linke Augenbraue hoch und höher, er droht dabei mit dem Zeigefinger, und dann bewegt sich der Boden unter mir, und eine Hand streckt sich aus dem Sand und tastet nach meinem Schatten, der zurückbleibt, während ich die Flucht ergreife. In Varianten des Traumes stehe ich in der Brandung der Ostsee, Blätter von Papier wehen in einer Windhose um mich herum, die Hand taucht aus dem Wasser auf, und der Dichter applaudiert sitzend in seinem Strandkorb. In besonders amüsanten Nächten reite ich auch mit Thomas Mann auf einem Elch durch den Nehrungswald.
Ich begehe nicht den Fehler, diesen Träumen eine Bedeutung zuzumessen. Sie sind nicht mehr als eine wilde Mischung von Erinnerungen, die mein Kopf, der auch im Wachzustand zunehmend Schwierigkeiten hat, die Dinge in eine Ordnung zu bringen, mir bröckchenweise hinwirft. Eine Mischung aus Bildern und Gefühlen, selten bedrohlich, oft unterhaltsam. Ich weiß, wem die Hand gehört, die nach meinem Schatten greift. Das Wissen um und die Erinnerung an eine ungesühnte Schuld waren es, die mich veranlassten, die Geschichte meines ersten Sommers mit Thomas Mann aufzuschreiben. Ich hatte sie teils als Geständnis, teils als Selbstvergewisserung zu Papier gebracht, ohne eine rechte Vorstellung davon, was nach Abschluss der Arbeit damit geschehen würde und wen sie interessieren könnte. Ich halte mich nicht für einen Menschen mit schriftstellerischem Talent. Ich bin nur ein Übersetzer und habe mir nie eingebildet, genügend Einbildungskraft für das Erfinden von Geschichten zu besitzen. Die Wahrheit aufzuschreiben, erfordert hingegen keinerlei schöpferische Kraft. Trotzdem war ich nach Abschluss der Arbeit erschöpft von der selbst auferlegten Pflicht, mir Wort für Wort die Schuldbrocken von der Seele zu schreiben, die seit Jahrzehnten auf mir lasteten. Darauf wollte ich es eigentlich beruhen lassen.
Doch der Dichter und meine Erlebnisse mit ihm beschäftigen mich weiterhin. Nichts nimmt Menschen meines Alters so sehr in Beschlag wie die Erinnerung. Wir haben viel Zeit dafür. Wer will also einem Mann von einhundertundzwei Lebensjahren vorwerfen, dass er in der Vergangenheit lebt? In einer Vergangenheit, die wie die eines jeden Menschen einmalig und unwiederbringlich ist, in meinem Fall aber zudem aufgrund der Beteiligten von erhöhtem Interesse für die Allgemeinheit? Tatsächlich beschleicht mich inzwischen gelegentlich ein unangenehm weihevolles Gefühl der Bestimmung. Es erstaunt mich selbst, denn hohles Pathos ist mir bei anderen Menschen ausgesprochen zuwider. Nein, es ging mir mit meinen Memoiren nie darum, meine eigene Rolle zu überhöhen. Doch es ist nun einmal die bescheidene Wahrheit, dass ich Seit an Seit gefahrvolle Situationen mit dem berühmten Dichter Thomas Mann durchgestanden habe, von denen keiner der Abertausenden Gelehrten und Studenten, die sich seit Jahrzehnten mit Leben und Werk des großen Mannes beschäftigen, zu berichten weiß. Deshalb hatte er mich einst am Ostseestrand als seine »glücklichste menschliche Akquise« bezeichnet. Und deshalb begann ich nach Abschluss des ersten Bandes mit dem Prolog für einen weiteren Band mit Erinnerungen, bevor mich die Kraft und die Lust verließen. Das Problem bestand vor allen Dingen darin, dass ich für das Schreiben an dem Computer, den mein Urenkel Jonas mir eingerichtet hatte, meinen Sessel verlassen und auf einem unbequemen Stuhl am Tisch sitzen musste. Schon nach kurzer Zeit verspürte ich ein Zwicken am Steiß, auf das ein Mann meines Alters gern verzichtet, wenn es sich vermeiden lässt. Also ließ ich meine Erinnerungen im Kopf und verfiel in meinen angestammten Tagesrhythmus.
Die Hälfte des Tages verbringe ich in meinem Sessel, die andere Hälfte in meinem Bett. Es handelt sich um einen sehr gemütlichen Sessel und um ein sehr bequemes Bett. Zwischen beiden liegen drei Meter. Von meinem Sessel aus ist alles, was ich von der Welt durch das Fenster sehe, die Spitze des Fernsehturms von Vilnius. Zwischen ihr und mir liegen ungefähr tausend Meter. Näher will ich die heutige Welt gar nicht an mich herankommen lassen. Nicht, weil ich Angst vor ihr hätte, sondern weil sie mich nicht mehr sonderlich interessiert. So wenig, wie diese Welt sich für mich interessiert. Nun, der Welt bin ich tatsächlich herzlich egal, aber bei einem winzigen und zugleich ungemein wichtigen Teil dieser Welt hatte ich Neugierde geweckt.
»Ist das alles?«
Mit dieser Frage müsste dieses Buch eigentlich beginnen.
Ich saß aufs Angenehmste ermattet in meinem Sessel und hielt die Augen geschlossen, denn ich hatte vor Kurzem erst gegessen, und in meinem Alter ist es nicht mehr möglich, zu verdauen und gleichzeitig irgendetwas anderes zu tun, zum Beispiel, eine sinnvolle Konversation mit Jonas zu führen. Was allerdings bis dato unter allen Umständen schwierig gewesen wäre, weil mein Urenkel Reden überhaupt für ziemlich überflüssig hält, weshalb wir bei seinen mehr oder weniger regelmäßigen Besuchen meist Schach spielen, denn dabei gibt es nicht viel zu sagen.
Nach der Partie, die ich wie immer verloren hatte, war die nette Nachbarin von Wohnung 36B vorbeigekommen und hatte mir mein Mittagessen gebracht. Ihren Namen hatte ich wieder vergessen, aber erstaunlicherweise erinnerte ich mich jetzt auf Anhieb daran, was ich gegessen hatte. Es war eine Suppe gewesen mit gelben Bohnen und Kartoffeln und Hähnchenfleisch, und sie hatte so gut geschmeckt, dass ich zwei Portionen gelöffelt hatte. Jetzt fiel mir erstaunlicherweise auch der Name meiner Nachbarin wieder ein, er lautete Girdauskiene, die Suppe hatte also tatsächlich ungeahnte Geisteskräfte in mir geweckt. Wie lange war das Mittagessen her? Wie lange döste ich schon im Sessel vor mich hin? Und warum war Jonas immer noch da, obgleich er, wie man so sagt, stets so viele Hummeln im Hintern hatte, dass er es kaum erwarten konnte, wieder zu gehen, kaum war er durch die Tür getreten? Gleichwie, wenn der Junge Hunger hatte, sollte er sich etwas von der Suppe nehmen, also sagte ich, noch immer, ohne die Augen zu öffnen: »Nein, der Rest ist im Kühlschrank.«
»Du bewahrst Teile des Manuskripts im Kühlschrank auf?«
Ich hob die Lider und fand mich einem erstaunlichen Bild gegenüber: Mein zweiundzwanzigjähriger Urenkel Jonas nicht etwa mit einem seiner flachen Geräte zum Wischen und Klicken hantierend, sondern mit einem Stapel Papier in beiden Händen, die Ellbogen auf den Wohnzimmertisch gestützt.
»Was ist das?«
»Was das ist? Das ist die Geschichte von dir und diesem Schriftsteller, die du selbst aufgeschrieben hast.«
Ich wusste natürlich, was er meinte. Es war mir nur kurz entfallen.
»Du hast sie gelesen?«
»Schon«, sagte er und wirkte auf mich beinahe so, als müsste er sich für das Eingeständnis, etwas gelesen zu haben, das nicht mit sogenannten Smileys angereichert war, geradezu schämen. Ich hatte meinen Urenkel noch nie mit einem Buch in der Hand gesehen. Las er überhaupt? Andererseits: Was wusste ich schon darüber, was und wie man in diesem Jahrtausend las. Der Ignoranz der Jugend, die man ihr in allen Zeiten nachsagt, steht stets auch die unzweifelhafte Arroganz des Alters gegenüber.
»Also die ganze Geschichte mit der verschwundenen Rede so quer, und dann noch das neue Kapitel mit dem Feuer.«
Jonas, so wurde mir in diesem Augenblick klar, war mein Erstleser. Er war also überhaupt der erste lebende Mensch auf Erden, der einen Teil meiner Abenteuer mit dem Dichter kannte. Der vage Plan, das fertige Manuskript in eine Schublade zu legen, sodass jemand es nach meinem hoffentlich baldigen Tod finden würde, um es zu lesen und dann - falls derjenige es für wert erachtete - möglicherweise zu veröffentlichen, war gescheitert. Und während ich mich sonst unter allen Umständen dagegen verwehrt hätte, dass jemand in meinem Privatleben herumschnüffelte, war mir mit einem Mal geradezu feierlich zumute. So musste es sich anfühlen, wenn man etwas an die jüngere Generation weitergab.
»Hat es dir gefallen?«
»Schon. Ich wusste gar nicht, dass du so berühmte Leute kennengelernt hast. Dieser Thomas Mann war ja ein ziemlich eingebildeter Typ, aber anscheinend so berühmt wie die Frau, die Harry Potter geschrieben hat.«
Ich nahm an, dass er von einem aktuellen Buch sprach, das mir nichts sagte. »Vielleicht...
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