Schweitzer Fachinformationen
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TROCADÉRO. Wohnung in idealer Lage, Licht von zwei Seiten, 62 m², oberste Etage eines von Henri Sauvage entworfenen Art-déco-Gebäudes. Stil Künstleratelier (lichte Raumhöhe 5 Meter), volle Südlage, seltenes Objekt, sehr ruhig, unverbaubarer Blick auf den Palais de Chaillot und den Friedhof von Passy.
Aufzug, Keller, Stellplatz optional.
Preis auf Anfrage.
Dieser Preis passt aber überhaupt nicht, schätzte der Makler, Sie verlangen viel zu viel. Ich weiß, räumte Constance ein, aber ich will die Wohnung gar nicht unbedingt so schnell loswerden, ich habe keine Eile. Es geht mir erst mal um einen Anhaltspunkt, ich will sehen, ob sie zu dem Preis weggehen würde. Der Makler namens Philippe Dieulangard zuckte mit den Schultern, dann setzte er sich vor seinen Laptop. Da diese Bewegung eine machtvolle Ausdünstung seines Hugo-Boss-Rasierwassers bewirkte, zogen sich Constances Nasenlöcher zusammen. Dieulangard ergänzte die Annonce um ein paar Details (Raumaufteilung, integrierte Küche, Gästetoilette etc.), dann machte er das Layout fertig und druckte sie aus, in ochsenblutroten gotischen Großbuchstaben mit dem Adjektiv SELTENHEIT gestempelt. Nachdem er sie zu den anderen in das Schaufenster des Büros gehängt hatte, gingen Constance und er hinaus, um die Wirkung zu prüfen.
Ein Foto wäre noch besser, bemerkte Dieulangard. Das spricht mehr an, so ein Foto erzählt was. Da sie auch darauf keinen Wert legte, zuckte er diesmal mit nur einer Schulter, verabschiedete sich und ließ sie vor dem Fenster stehen, in dem Constance nun sorgfältig alle anderen Annoncen von Miet- und Eigentumswohnungen studierte und sich Mal um Mal ein anderes Leben vorstellte, andere Schicksale, Liebschaften und Kümmernisse. Und sich fragte, wie sie sich je nach Behausung anders ausstaffieren würde, wie wenn man sich zu einem neuen Casting begibt: Garderobe, Frisur, Make-up. Während sie vor dem Fenster tagträumt und sich darin spiegelt, nutzt sie die Gelegenheit für eine rasche Kontrolle: geschwind die Lippen nachgezogen, Burberry 308 seidenmatt, ein Blick auf den Nagellack, Chanel 599 PROVOCATION, sie verwuschelt ein wenig ihren Pony, pudert sich die Nase nach und tritt dann einen Schritt zurück: Vollansicht Constance im Schaufenster von Dieulangard Immo vor dem Hintergrund des nicht sehr dichten Einbahnverkehrs auf der Rue Greuze.
Straff sitzende blaue Bluse, anthrazitgraue Skinny-Jeans, flache Schuhe, ein Haarschnitt à la Louise Brooks und Kurven wie Michèle Mercier - das scheint nicht so recht zueinander zu passen, aber siehe da, es funktioniert sehr gut. Sie ist vierunddreißig Jahre alt, nicht sehr berufstätig und nicht sehr ausgebildet - gerade mal zwei Jahre Jura-Studium für die Verwaltungslaufbahn -, mit einem Mann verheiratet, dessen Geschäfte gut laufen oder wenigstens gut liefen, aber das Leben mit diesem Mann läuft nur soso: Materiell ist sie sanft gebettet, in Sachen Eheleben nicht. Gedanken an Scheidung, Aussichten auf Arrangements, Streitereien, gefolgt von Kompromissen, je nach Tagesform. Auf diese Weise lebt sie mal in der ehelichen Wohnung, wenn auch immer seltener, mal in der Wohnung, die sie jetzt zu verkaufen plant. Nach Fertigstellung dieses raschen Steckbriefs wendet Constance ihrem Spiegelbild den Rücken zu, entfernt sich von dem Maklerbüro, und zu Fuß sind es von der Rue Greuze zu ihrem seltenen, sehr ruhigen Objekt sechs bis acht Minuten, immer am Friedhof von Passy entlang.
Während dieser Bewegung auf ihr Zuhause zu hat sie zwei andere Bewegungen nicht bemerkt, die ihr parallel folgten: ein Mann in fünfzig, ein Lieferwagen in einhundert Metern Entfernung. Der Mann trägt einen sehr sauberen, fast anormal sorgfältig gebügelten blauen Arbeitsoverall, dazu an einem Riemen über der Schulter etwas wie eine Werkzeugtasche. Hinter ihm das Nutzfahrzeug hat zwar weder hinten noch seitlich Fenster, zeigt dafür aber an ihrer Stelle das Logo einer Pannenhilfe, die auch noch weitere Dienstleistungen anbietet. Da Constance eben vor dem monumentalen Eingangstor des Friedhofs stehen geblieben ist, halten auch Mann und Lieferwagen sofort an. Und da sie nichts zu tun hat, was häufig der Fall ist, da der keimende Frühling es erlaubt, scheint ihr die Idee eines Spaziergangs über den Friedhof zu kommen. Sobald sie zwischen den Gräbern verschwunden ist, richten Lieferwagen und Mann sich zu beiden Seiten des Tors auf eine gewisse Wartezeit ein, jener parkt, dieser zündet sich eine Zigarette an.
Der Friedhof Passy ist bei weitem der schickste von ganz Paris. Zwar von recht geringer Größe, ist er doch unschlagbar bezüglich der Dichte von Reichen und Berühmten pro Quadratmeter, zumal aus Kunst und Literatur. Übrigens ist er an einem Hang angelegt, was denen, die hier liegen, erlaubt, sich immer über den Lebenden zu halten. Alles trägt zum gesitteten Eindruck bei. Gedämpfte Atmosphäre zwischen den mit dem Pinsel sauber gehaltenen Grabstätten, das Pflaster der Wege wird mit der Pinzette gereinigt, Körperhaltung und Tracht von Witwen und Erben verraten einen angeborenen Adel, wenn sie mit einer Gießkanne gerüstet unter den Kastanienbäumen und Magnolien ihre lieben Verstorbenen erfrischen gehen. Und auch für das Wohlbefinden der Weiterlebenden wird alles Erdenkliche getan: Dies ist der einzige Totenacker der Hauptstadt mit beheizter Trauerhalle.
Allzu wenig bekannt ist übrigens, dass die Bewohner dieses Friedhofs alljährlich fern des Weltgetümmels und der Scheinwerfer eine große Silvestergala geben, geleitet von einem ganz bemerkenswerten Team: Fernandel, François Périer, Jean Servais und in den Damenrollen Réjane und Pearl White. Die hohe Qualität der Darbietung wird von anderen Entschlafenen garantiert: Bühnentext von Tristan Bernard und Henry Bernstein nach einer Idee von Octave Mirbeau, Dialoge von Jean Giraudoux, Bühnenbild von Robert Mallet-Stevens, Kostüme von Jean Patou, Musik von Claude Debussy. Der Vorhang ist von Édouard Manet entworfen, Regie führt Jean-Louis Barrault. In Buchform ist der Text bei Arthème Fayard erschienen. Den meisten ist das nicht bekannt.
Constance spazierte also ein wenig über diesen Friedhof. Wir befanden uns im April, an einem Spätvormittag im April, zahlreiche Knospen versprachen baldig um die Stelen herum zu erblühen, die Thujen schlugen mächtig aus. Stiefmütterchen, Ringelblumen, Narzissen waren offenbar in Bestform, auch wenn nicht wenige schlaffe, verwelkte, vermodernde Blumen auf den Gräbern lagen, die von den Friedhofsgärtnern noch nicht fortgeschafft worden waren.
Als sie aus dieser Einrichtung wieder herauskam, trat der Mann im Overall mit besorgter Miene auf sie zu, einen Zettel in der Hand, den er offenbar zu entziffern versuchte. Ein sehr attraktiver Mann in seiner Berufskleidung, stellte Constance sofort fest und war folglich nur zu gern bereit, ihm mit einer Auskunft weiterzuhelfen. Der Mann sagte, er suche die Rue Pétrarque, und siehe da, die Rue Pétrarque kannte Constance sehr gut. Erstens, teilte sie ihm mit, befand sie sich gleich um die Ecke. Zweitens hat sie hier vor zehn Jahren mit einem gewissen Fred zwei Monate im Bett verbracht, ohne je auszugehen, aufzustehen oder auch nur die Fensterläden seiner im Erdgeschoss zum Hof hin gelegenen Wohnung zu öffnen.
Diese Episode jedoch erwähnte Constance nicht. Sie sagte nur, es sei hier um die Ecke, sie könne den Mann sogar dorthin begleiten, und der Mann sagte, sehr gern, und setzte dazu ein seltsam gutmütiges, fürsorgliches, unschuldiges Lächeln auf, das doch auch gerissen wirkte, belustigt und ein wenig traurig, eigenartiger Kerl das. Ein interessanter Typ, wirklich ansprechend, und Constance hatte den Eindruck, dass auch sie ihm gefiel, spontan und gegenseitig, dass das hier sich gar nicht schlecht anließ, vielversprechend und genau zum passenden Zeitpunkt, und so gingen sie die Rue du Commandant-Schloesing miteinander bis zur Ecke Rue Pétrarque hoch. Hierbei handelt es sich um eine stets ruhige und wenig befahrene Gegend der Stadt, die sie unter ein paar Sätzen zum beginnenden Frühling erreichten, während der Kleintransporter langsam an ihnen vorbeirollte. Da man hier auch ohne größere Probleme parken kann, hatte der Wagen sogleich einen Platz gefunden.
Auf Höhe dieses Fahrzeugs blieb der Mann im Overall dann stehen: Warten Sie mal kurz, ich möchte Ihnen etwas zeigen, das Sie interessieren könnte, und Constance schien durchaus bereit, sich dafür zu interessieren. Er ließ den Riemen seiner Werkzeugtasche von der Schulter gleiten, öffnete sie und beförderte immer noch lächelnd ein Bohrgerät zutage. Schauen Sie mal, sagte er, ist das nicht schön? Dieser Bohrer ist der reinste Wahnsinn, es gibt keinen besseren. Kompakt, leicht, stark, absolut leise. Nicht übel, was?
Eben nickte Constance noch höflich, da spürte sie, wie sie am Ellbogen gefasst wurde: Sie drehte sich herum, es war ein Typ, der eben auf der Beifahrerseite aus dem Lieferwagen gestiegen war und sie jetzt sehr freundlich beim Arm hielt, ebenso lächelnd, wenn auch deutlich weniger attraktiv: groß, knochig, hagerer Hals, Blick wie ein Vogel Strauß. Sehen Sie, fuhr der Mann im Overall fort, er ist ausgezeichnet für heikle Präzisionsarbeiten geeignet, und für hohe Stückzahlen. Funktioniert übrigens auch als Bohrschrauber. Schauen Sie mal, ich werde ihn Ihnen mal vorführen. Und da stellte Constance fest, dass ein dritter Mann, wohl der Fahrer des Lieferwagens, sie beim anderen Arm nahm, nicht ohne ein ebenso liebenswürdiges Lächeln, und der war auch nicht gerade hübsch: gedrungen, kurzbeinig, rotgesichtig, eine Schnute wie eine Seekuh. Eine derartige...
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