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Während der eigentlichen Blütezeit der christlichen Mystik, d.h. im Hoch- und Spätmittelalter, war Spanien weitaus ärmer an spirituellen Persönlichkeiten und Erzeugnissen als andere Länder und Gegenden Europas. Im deutschen Sprachraum machten in dieser Epoche beispielsweise Hildegard von Bingen und Meister Eckhart von sich reden; in Italien gab es u.a. Franz von Assisi und Katharina von Siena, in Frankreich z.B. Bernhard von Clairvaux und Margarete Porete. Spanien allerdings brachte lange Zeit kaum Menschen hervor, die im Bereich der Spiritualität besonders auf sich aufmerksam gemacht hätten.1 Der einzige Spanier aus dem Mittelalter, dessen mystische Werke einen größeren Bekanntheitsgrad erlangten, war der Mallorquiner Ramon Llull, besser bekannt unter seinem latinisierten Namen Raymundus Lullus (etwa 1232-1316). Dieser war aber nicht in erster Linie Mystiker, sondern v.a. scholastischer Theologe und Philosoph; die mystischen Schriften stellen in seinem Gesamtwerk eher ein Randphänomen dar. Obendrein wurden die Veröffentlichungen Ramon Llulls schon zu seinen Lebzeiten sehr kontrovers bewertet; auch nach seinem Tod blieben das Leben und das Werk dieses vielseitigen und z.T. widersprüchlichen Menschen umstritten.2
Sieht man von Raymundus Lullus ab, lässt sich sagen: Eine eigenständige 'spanische Mystik' im Sinne mystischer Erfahrungen spanischstämmiger Menschen und der schriftlichen Aufzeichnung dieser Erfahrungen in spanischer Sprache entstand erst zu einer Zeit, als Spanien auch im Bereich der Politik und Wirtschaft an Bedeutung gewann, nämlich im beginnenden 16. Jahrhundert.3 Irene Behn führt dazu aus: "Während es zu Anfang des goldenen Jahrhunderts noch so scheinen mochte, als wäre die Kirche des Jakobus [.] ganz überwiegend auf nichtspanische Mystographen angewiesen, wuchs ihr eine um die Jahrhundertwende geborene Generation tatkräftiger und formgewaltiger Mystiker heran."4 Hier ist v.a. an Ignatius von Loyola, Johannes vom Kreuz und Teresa von Ávila zu denken. Deren Mystik, die das 'Goldene Jahrhundert' Spaniens prägen sollte, verstand sich nicht als Geheimlehre, sondern wurde schnell zu einer Art Volksbewegung - offen für jeden, der bereit war, sich auf den Weg der inneren Einkehr und Selbsterkenntnis zu begeben, um nach und nach in die Transzendenz Gottes zu treten.5
Hinsichtlich der Frage nach dem besonderen Charakter der spanischen Mystik ist zunächst festzuhalten: "Christliche Mystik, bestimmt durch die nachahmende, umwandelnde, gotteinigende Kraft der Liebe, ist wesentlich Liebesmystik. Im Gegensatz zu ihr steht eine Erkenntnismystik, deren Gotteserfahrung vereinzelt und nicht umwandelnd ist [.]."6 Was für die christliche Mystik allgemein gilt, trifft nun auf die spanische Mystik in besonderem Maße zu. Spanische Mystik ist sozusagen Liebesmystik reinster Prägung. Sie schließt die noëtische Gotteserfahrung zwar ein, geht aber deutlich darüber hinaus. Liebesmystik betont die Bedeutung des Ethischen.7 Der christlichen Mystik würde heute eine wesentliche Seite fehlen, hätte sie nicht diese ethisch-praktische Prägung aus Spanien erhalten.8 Johannes Boldt hält fest: "Die Spanische Mystik des Siglo de Oro, des Goldenen Zeitalters [.] ist eine enorme Bereicherung für die christliche Mystik Europas, denn sie beweist ihre praktische, ja politische Seite, ohne ihre intellektuelle aufzugeben."9 Tendenziell gilt: Nicht-spanische Mystik neigt eher zum 'Dichten und Denken', spanische Mystik eher zum 'Helfen und Handeln'.
Die spanische Mystik zeichnet sich demnach - im Vergleich beispielsweise zur deutschen Mystik - durch einen besonders starken 'Praxisbezug' aus. Das macht die Texte der spanischen Mystik gerade für eine praktisch-theologische Untersuchung attraktiv. Die meisten spanischen Mystikerinnen und Mystiker waren nicht nur Mystographinnen und Mystographen, d.h. Autorinnen und Autoren mystischer Texte, sondern auch Mystagoginnen und Mystagogen, d.h. spirituelle Seelenführer/-innen.10 Außerdem ist die 'Menschheit Christi' bzw. das 'Menschsein Christi' [humanidad de Cristo] für die spanische Mystik von herausgehobener Bedeutung. Es ist kennzeichnend für das Denken und Glauben von Ignatius, Johannes und Teresa, dass diese sich Jesus primär in seiner menschlichen Gestalt vorstellen - und erst sekundär als verherrlichten, inthronisierten Gottessohn.11 Aus diesem Grund bietet es sich an, das seelsorgliche Agieren der drei Personen in Beziehung zu setzen mit dem heilenden Handeln des historischen Jesus von Nazareth, wie es z.B. in Peter Zimmerlings Buch Hirte, Meister, Freund aus dem Jahr 2022 skizziert wird.
Bei aller Eigenständigkeit und Originalität vieler Werke aus der Feder von Ignatius, Johannes und Teresa ist festzuhalten: Auch diese drei bedeutenden Personen lebten und wirkten nicht im luftleeren Raum; vielmehr sahen auch sie sich mit konkreten historischen und sozialen Bedingungen konfrontiert, die sich auf ihren Charakter und ihre Arbeitsweise auswirkten.12 Um die zentralen Inhalte und Intentionen der von den dreien geschaffenen spanischen Mystik richtig einordnen zu können, ist es deshalb wichtig, sich die religiösen Verhältnisse in Spanien während der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts vor Augen zu führen. Die institutionell verfasste Kirche war damals in einem desolaten Zustand. Die meisten Priester waren theologisch und spirituell ungebildet; auch die meisten Klöster waren weitgehend verweltlicht, sodass von ihnen kaum noch geistliche Impulse ausgingen. Gleichzeitig herrschte aufgrund der allgegenwärtigen und mit weitreichenden Befugnissen ausgestatteten Inquisition ein weitverbreitetes Klima der Angst. Sich selbst auf die Suche nach religiöser Wahrheit zu machen und die eigene Spiritualität auf individuell stimmige Weise auszuleben, konnte deshalb für den einzelnen Menschen ein großes Wagnis sein. Dennoch kam es damals in weiten Teilen der Gesellschaft zu einer begeisterten Aufnahme und Verbreitung geistlicher Schriften. Insbesondere spirituelle Werke aus dem deutschen und dem italienischen Sprachraum mit ihrer Forderung nach einer Hinwendung zur Bibel fanden große Resonanz. Im Zusammenhang mit der Rezeption dieser Schriften hatten sich in Spanien u.a. die sogenannten Alumbrados ('Erleuchtete') formiert. Diese vertraten eine Frömmigkeit, in deren Mittelpunkt die persönliche Hingabe des einzelnen Menschen an Gott im Rahmen einer Liebesbeziehung stand. Traditionelle Frömmigkeitsformen hingegen wurden von den Alumbrados oftmals abgelehnt, weshalb diese Gruppierung immer wieder der Kritik und z.T. auch der Verfolgung durch die Inquisition ausgesetzt war.13
Die eben geschilderten Umstände haben sich, wie bereits erwähnt, auch auf die Werke von Ignatius, Johannes und Teresa ausgewirkt. Auch diese drei großen Gestalten der Mystik standen in einer Tradition und können nicht von dieser isoliert betrachtet werden. Allerdings ist die vorliegende Arbeit, wie in der Einleitung bereits erwähnt, nicht kirchengeschichtlich, sondern praktisch-theologisch orientiert. Sie erhebt deshalb auch nicht den Anspruch, möglichst viele mystische Texte spanischer Herkunft in ihrem geschichtlichen Kontext zu untersuchen und in historisch bedingte Kategorien einzuteilen. Vielmehr sollen in diesem Werk aus einzelnen mystischen Schriften konkrete Impulse für die Seelsorge in der Postmoderne gewonnen werden. Deshalb wird der zeitliche und räumliche Kontext der untersuchten Texte nur dann thematisiert, wenn es zum Verständnis eines Zitats oder eines Sachverhalts unbedingt erforderlich ist.
Ebenso soll an dieser Stelle noch einmal erwähnt werden, dass das Wirken der großen spanischen Mystiker/-innen zeitlich mit der Renaissance und der Reformation zusammenfällt (vgl. Kapitel 1.1). Eine der Hauptströmungen der Renaissance war der Humanismus. Dieser knüpfte an die Ideale der Antike an und stellte nicht mehr Gott und das ewige Leben, sondern die Vervollkommnung des einzelnen Menschen im Diesseits in den Vordergrund. Die Reformation übertrug dieses neue Lebensgefühl - trotz der Kritik mancher Reformatoren an einzelnen humanistischen Ansichten - auch auf den Bereich der Religion: Anstatt auf die Institution Kirche und die von ihr verwalteten Heilsmittel zu vertrauen, wurden die Freiheit und die Gottunmittelbarkeit des Individuums betont.14 Aus katholischer Sicht gebührt den großen Gestalten der spanischen Mystik das Verdienst, in einer Zeit der religiösen Verunsicherung vielen Menschen wieder eine feste spirituelle Orientierung gegeben zu haben, die sowohl der kirchlichen Tradition als auch den Anforderungen der damaligen Zeit gerecht wurde.15 Tatsächlich lässt sich wohl sagen, dass die Reformation in Spanien durch das Leben und die Schriften der landeseigenen katholischen Mystiker/-innen effektiver zurückgedrängt werden konnte als durch die Inquisition und das Reformkonzil von Trient.16 Gleichzeitig ist festzuhalten: "Es mag verschiedene Traditionen und Zugänge auf dem Gebiet christlicher Spiritualität geben, wenn es aber wirklich 'christliche' Spiritualität ist (die ihren Namen zu Recht trägt), dann ist das Entscheidende letztlich nicht katholisch oder evangelisch [.], sondern im Kern geht es um das Evangelium...
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