Kapitel 1. Allgemeine Entzündungslehre
Kapitel 2. Tumoren und tumorartige Läsionen der Mundschleimhaut
Kapitel 3. Erkrankungen der Haut mit oralen Manifestationen
Kapitel 4. Systemische Erkrankungen
Kapitel 5. Erkrankungen der Speicheldrüsen
Kapitel 6. Zysten im Kiefergesichtsbereich
Kapitel 7. Odontogene Tumoren
Kapitel 8. Erkrankungen der Knochen
Kapitel 9. Zahnimplantate
2Tumoren und tumorartige Läsionen der Mundschleimhaut
Peter A. Reichart
Der Begriff Tumor ist unspezifisch und bedeutet "Schwellung". Um eine wachsende Neubildung zu beschreiben, eignet sich eher der Begriff Neoplasie. Es hat sich allerdings der Begriff Tumor etabliert, um neoplastische Veränderungen zu beschreiben. Zu unterscheiden sind gutartige (benigne) und bösartige (maligne) Tumoren (Neoplasien). Die benigne Neoplasie ist gekennzeichnet durch geregeltes Wachstum einer Zellpopulation. Eine benigne Neoplasie weist meist eine Kapsel auf. Metastasen bilden sich nicht. Malignes Wachstum einer Neoplasie ist gekennzeichnet durch ungeregelte Proliferation einer Zellpopulation, die die Ähnlichkeit mit ihrer Mutterzelle weitgehend verloren hat. Das Wachstum ist infiltrativ und destruktiv. Hauptkriterium des malignen Wachstums ist die Bildung von Metastasen in die loco-regionalen Lymphknoten und in andere Organsysteme (Lunge, Gehirn, Knochen u. a.). Für manche Tumorarten, wie z. B. für das Ameloblastom, wird auch von semi-maligner Wachstumstendenz gesprochen. Grundsätzlich ist ein solcher Tumor benigne, er bildet in der Regel keine Metastasen. Lokale Destruktion und Infiltration ist dagegen ein bezeichnendes Kriterium semi-maligner Tumorentitäten.
2.1Tumoren und tumorartige Läsionen mesenchymalen Ursprungs
Tumoren, Neoplasien und tumorartige Läsionen mesenchymalen Ursprungs der Mundschleimhaut entstehen aus Binde-, Nerven-, Fett-, Muskelgewebe oder aus Blut- oder Lymphgefäßen.
2.1.1Fibrome und fibromatöse Läsionen
In der Mundhöhle sind echte Fibrome extrem selten, können aber nicht von nicht neoplastischen fibrösen hyperplastischen Läsionen unterschieden werden. Sogenannte Fibrome können mit Neurofibromen oder Fibrosarkomen verwechselt werden. Die meisten fibrösen Läsionen der Mundhöhle sind gutartig.
Abb. 2-1 Fibröse Epulis mit kleiner, traumabedingter Ulzeration zwischen Zahn 45 und 47.
Abb. 2-2 Röntgenologisch findet sich eine schüsselförmige Erosion im betroffenen Bereich.
Abb. 2-3 Große fibröse Epulis im rechten Oberkiefer.
Abb. 2-4 Ausgedehnte fibröse Epulis im Bereich des rechten Unterkiefers.
2.1.1.1Fibröse Epulis, Prothesenreizfibrom (Prothesenhyperplasie) und andere fibröse Neubildungen
Definition: Hyperplastische fibröse Neubildungen, die durch chronische Irritation (Mikrotraumata) entstehen.
Epidemiologie
Orale hyperplastische fibröse Neubildungen sind die häufigsten Neubildungen im Bereich der Mundhöhle.
Lokalisation
Die fibröse Epulis (Abb. 2-1 bis 2-4) (Epulis; gr: "auf dem Zahnfleisch sitzend") sowie protheseninduzierte Hyperplasien sind vorwiegend am zahntragenden oder zahnlosen Alveolarfortsatz lokalisiert. Sogenannte "fibroepitheliale Polypen" (Hyperplasien) sind vorwiegend an der Wangenschleimhaut und am Zungenrand zu finden.
Abb. 2-5 Sogenanntes "Fibrom" der Wange (fibroepithelialer Polyp).
Abb. 2-6 Fibroepithelialer Polyp im Bereich der linken Unterlippe.
Abb. 2-7 Im Bereich des Oberkiefervestibulums liegen prothesenbedingte, lappenförmige Reizhyperplasien vor. Diese sind teilweise ulzeriert.
Abb. 2-8 Histopathologisches Bild einer fibrösen Reizhyperplasie. Das parakeratinisierte Oberflächenepithel hat zum Teil längere Retefortsätze ausgebildet. Das subepitheliale Bindegewebe besteht aus dichten Bündeln kollagener Fasern.
Klinik
Klinisch imponieren rosafarbene Knoten oder "lappenartige" Reizhyperplasien (Abb. 2-5 bis 2-7). In vielen Fällen liegen Ulzerationen vor. Protheseninduzierte Hyperplasien bilden sich an Prothesenrändern, gelegentlich aber auch in der Mitte des Gaumens (papilläre Hyperplasie).
Histopathologie
Alle genannten Varianten bestehen aus Bündeln kollagener Fasern ohne Kapselbildung. Das Mundschleimhautepithel kann leicht verbreitert sein (Abb. 2-8). Protheseninduzierte Hyperplasien zeigen meist keine Entzündungszeichen, es sei denn, Ulzerationen liegen vor. Fibröse Epuliden können dystrophische Kalzifizierung und Knochenbildung aufweisen.
Differenzialdiagnose
Riesenzellfibrome, pyogene Granulome oder periphere Riesenzellepuliden (Riesenzellgranulome) kommen differenzialdiagnostisch infrage.
Therapie und Prognose
Die chirurgische Entfernung der fibrösen Epulis sowie der protheseninduzierten Hyperplasie ist notwendig. Rezidive treten auf, insbesondere wenn keine Erneuerung der Prothese bzw. eine Verbesserung des Prothesensitzes durchgeführt wird.
2.1.1.2Riesenzellfibrom
Definition: Das Riesenzellfibrom (RZF) ist eine häufige Variante der fibrösen Epuliden.
Epidemiologie
60 % entwickeln sich in den ersten drei Lebensdekaden. 60 % der RZF treten bei Frauen mit einem mittleren Lebensalter von 26 Jahren auf.
Lokalisation
Die Gingiva des Unterkiefers ist am häufigsten betroffen (50 %).
Klinik
Das RZF ist meist gestielt. Die Oberfläche ist häufig (60 %) warzenähnlich oder knotig.
Histopathologie
Es finden sich vor allem Riesenfibroblasten sowie ein ausgeprägter Kapillarreichtum.
Therapie und Prognose
Das RZF ist gutartig und bedarf einer ausreichenden Exzision.
2.1.1.3Pyogenes Granulom
Definition: Pyogene Granulome sind schnell aufschießende, reaktive, leicht blutende Gewebsformationen.
Epidemiologie
Pyogene Granulome sind weit seltener als fibröse oder fibromatöse Veränderungen.
Lokalisation
Orale pyogene Granulome treten meist an den Zahnfleischrändern auf, können aber auch andere Regionen wie die Wangenschleimhaut betreffen.
Klinik
Klinisch erscheinen pyogene Granulome als rote, weiche Gewebsproliferationen (Abb. 2-9).
Histopathologie
Pyogene Granulome bestehen aus einem lockeren, ödematösen und muzinösen Stroma mit einer Vielzahl von dünnwandigen Blutgefäßen. Leukozyteninfiltration ist typisch. Die Vielzahl der Gefäße hat zu der Bezeichnung Granuloma teleangiectaticum geführt. Echte Granulome findet man jedoch nicht.
Abb. 2-9 Pyogenes Granulom zwischen den mittleren Schneidezähnen des Oberkiefers bei einer schwangeren Frau.
Therapie
Exzision.
2.1.1.4Schwangerschaftsepulis
Definition: Während der Schwangerschaft besteht die Tendenz zur Bildung einer proliferativen Gingivitis oder eines pyogenen Granuloms an der Gingiva. Die Schwangerschaftsepulis bildet sich vorwiegend in den letzten beiden Trimestern.
Histopathologie
Das histologische Bild ist identisch mit dem des pyogenen Granuloms.
Therapie
Gingivahyperplasie während der Schwangerschaft sollte durch sorgfältige Mundhygiene behandelt werden. Bleibt eine Schwangerschaftsepulis nach Geburt bestehen, sollte diese exzidiert werden.
2.1.1.5Riesenzellepulis
(Früher auch als peripheres reparatives Riesenzellgranulom bezeichnet)
Definition: Die Riesenzellepulis (RZE) ist unbekannter Ätiologie, entwickelt sich allerdings in Beziehung zum Zahnsystem. Ursprung sind möglicherweise die für die Resorption der Milchzähne verantwortlichen Riesenzellen.
Epidemiologie
Die RZE ist seltener als andere fibromatöse Läsionen der Mundhöhle.
Lokalisation
Die RZE findet sich häufiger in Bezug zu den Zähnen des Oberkiefers. Die zweite und dritte Lebensdekade ist besonders betroffen.
Abb. 2-10 Peripheres Riesenzellgranulom im Bereich des linken Unterkiefers. Die blau-violette Färbung ist typisch....