Schweitzer Fachinformationen
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ALF
Alf lebt mittlerweile seit fast einem halben Jahr in Rom, doch die Art, wie die Sonne auch die schäbigsten Gebäude erstrahlen lässt, hebt noch immer seine Laune. Er ist auf dem Weg zur Sprachenschule, doch er schlendert gern an Orten vorbei, die schon in einer Stunde von Touristenmassen überfüllt sein würden. Es kommt ihm vor wie ein Privileg, als befände er sich allein in einem Freizeitpark. Erst der lange, langsame Anstieg durch die schicke Wohngegend, bis die Straße auf eine riesige vertrocknete Grasfläche trifft, den Circus Maximus. Dann eine von Bäumen gesäumte Straße zwischen Palatin und Caelius, zwei der sieben Hügel Roms, hinauf. Und plötzlich steht man vor dem Kolosseum. Es erstaunt ihn immer wieder, dass das Gebäude einfach so dasteht, so berühmt, dass es unmöglich real sein kann. Gold vor Blau. Im Morgenlicht sind die Farben so klar und leuchtend wie auf den Postkarten an den Souvenirständen, die gerade ihr Tagesgeschäft beginnen. Er macht ein Foto und postet es auf Instagram mit dem Gruß: Buongiorno! #Roma #Rom #colosseo #bella #schön.
Alf scrollt durch seinen Feed und hält inne, als er ein Foto von seinen breit lächelnden Großeltern entdeckt. Cheryl, seine Großmutter, trägt eines ihrer alten Turnierkleider, die Alf stets an einen Cupcake erinnern, denn die vielen Tüllschichten lassen den Rock von allein stehen, auch ohne dass Cheryl in ihm steckt. Das Kleid ist leuchtend pink, das Mieder mit silbernen Paillettenwirbeln verziert. Sein Großvater Chris trägt einen weißen Frack mit weißer Krawatte. Die Unterschrift lautet: Hört nicht auf zu tanzen! #langsamerfoxtrott #niezualtzumtanzen. Alf ist noch nie auf einem Kreuzfahrtschiff gewesen, aber er weiß, dass man dort in Kabinen wohnt. Tausende davon sind wie in einem Wohnblock übereinandergestapelt. Unvorstellbar, dass es dort einen Schrank gibt, der ausreichend Platz für solche Tanzkostüme bietet. Die anderen älteren Herrschaften, die ihren Urlaub auf dem Kreuzfahrtschiff verbringen und sich nichts ahnend für ein kleines Tänzchen auf die Tanzfläche wagen, tun ihm leid, denn sie haben das Pech, mit Cheryl auf demselben Schiff zu reisen. Mit ihrem Kleid fegt sie raschelnd jeden nicht perfekt koordinierten Tänzer aus dem Weg und kann es sich dabei nicht verkneifen, im Vorbeiwirbeln auch noch Anweisungen zu erteilen.
»Lassen Sie den Mann führen!« »Halten Sie den Kopf hoch, nicht wie eine welke Blume in der Vase!«
Alf »likt« das Foto, ohne zu wissen, ob seine Großmutter sich freuen oder ärgern wird. Sieht sie sich seine Posts überhaupt jemals an? Sie »likt« sie nie. Wahrscheinlich fürchtet sie, ihm damit so etwas wie Zustimmung zu signalisieren.
Wie wohl das Wetter in Blackpool ist? Wenn er an zu Hause denkt, sieht er jedes Mal die Promenade vor sich, auf die der Regen niederprasselt. Das Wasser zinnfarben, die Wolken so grau, dass man kaum sagen kann, wo der Himmel aufhört und das Meer anfängt. Doch das liegt nur daran, dass am Tag seiner Abreise genauso ein Wetter war. Wenn die Sonne scheint, ist Blackpool so schön wie jede andere Stadt.
Doch nicht so schön wie Rom. Was er an Rom liebt, sind die Überraschungsmomente. Man geht durch eine Straße - ganz hübsch, aber nichts Besonderes -, und dann steht dort auf einmal eine Kirche mit Turm und Ziegeldach, so alt, dass sie aussieht wie aus einem Filmset. Oder eine Mauer aus unzähligen schmalen Ziegelsteinen, die lange vor der Erfindung moderner Technik gebaut wurde und dort seit zweitausend Jahren steht.
Als er sich einen Weg durch die mit Kopfstein gepflasterten Straßen des Monti sucht, um dem Verkehr auf der Hauptstraße zu entgehen, lockt ihn aus jeder Bar der Duft von frischem Espresso, aber er muss pünktlich sein. Vor Unterrichtsbeginn muss man einen Sprachtest absolvieren, anschließend wird man einer Klasse zugeteilt. Man muss nichts schreiben, nur das richtige Kästchen ankreuzen, hat ihm die nette Empfangsdame versichert, als sie seinen Gesichtsausdruck sah.
Hinter ihm hupt jemand, um ihn von der Straße zu scheuchen, und ein alter Fiat Cinquecento fährt vorbei. Der knatternde Motor klingt wie ein Moped, als er den Berg hinauffährt. Aus dem Radio tönt Pharrell Williams' »Happy« - ein fröhlicher Start in den Tag. Jive, denkt Alf, und seine Füße zucken automatisch im Takt, bis der Wagen nach rechts abbiegt und die Musik sich entfernt.
Alf hat keine Ahnung von italienischer Grammatik, darum kreuzt er in dem Multiple-Choice-Test einfach an, was sich für ihn am besten anhört. Anschließend schickt man ihn zum Leiter der Schule, der seine mündlichen Sprachkenntnisse testet. Die Tür zum Büro ist geschlossen. Drinnen hört er, wie ein Mann langsam auf Italienisch Fragen stellt und eine Frau leise und zögerlich antwortet. Dann wird ein Stuhl zurückgeschoben, und schneller als erwartet geht die Tür auf, und die junge Frau, die herauskommt, starrt Alf an, als hätte er gelauscht.
Dass sie atemberaubend schön ist und mit nach außen gerichteten Fußspitzen wie eine Tänzerin auf die Treppe zugeht, bringt ihn nur noch mehr aus dem Konzept.
»Buongiorno!« Der Direktor winkt ihn in sein Büro.
Nach Alfs Erfahrung besteht die italienische Kommunikation vor allem aus Gesten. Er hat Italiener dabei beobachtet, wie sie sich unterhalten. Selbst wenn sie allein am Handy sprechen, bewegen sie die Hand, um eine Aussage zu unterstreichen oder ihre Überraschung oder Verzweiflung zum Ausdruck zu bringen. Sally und Mike, mit denen er sich eine Wohnung teilt, sind schon deutlich länger in Rom als er und sprechen viel besser Italienisch, doch es ist Alf, der immer für seine Sprachkenntnisse gelobt wird, weil er seinen Körper einsetzt. Der Schuldirektor ist weniger beeindruckt. Alfs Aussprache gefällt ihm zwar, aber Grammatikkenntnisse sind so gut wie gar nicht vorhanden. Er reicht ihm ein Papier mit der Nummer eines Klassenzimmers ganz oben im Gebäude.
In der Klasse sind noch sieben andere Schüler. Sechs von ihnen versuchen gerade, sich mit den wenigen Brocken Italienisch, die sie schon können, zu unterhalten. Die junge Frau, die er unten gesehen hat, sitzt allein und konzentriert sich auf ein Wörterbuch Italienisch-Englisch. Sie trägt ein langärmeliges graues T-Shirt, das zwei- oder dreihundert Pfund gekostet haben könnte, denn an ihr würde auch der billigste Fummel elegant aussehen, und zerrissene Jeans. Doch anders als bei den Mädchen zu Hause, bei denen das weiße Fleisch durch die Löcher quillt, sitzt die Hose bei ihr locker und wird nur von ihren Hüftknochen gehalten. Die Risse gewähren Blicke auf die schlanken nackten Beine darunter.
Der einzige noch freie Platz ist der neben ihr. Als Alf sich auf den Stuhl setzt, rückt sie ihren etwas ab.
Die Lehrerin heißt Susanna und hält vier schmale goldfarbene Bändchen hoch, mit denen ein pasticcerie die Tabletts voll winziger Törtchen umwickelt, die die Italiener sonntags mit zum Essen bei ihren Familien nehmen. Sie hält sie in der Mitte fest und bedeutet den Schülern, nach vorn zu kommen und sich jeder ein Ende zu nehmen, dann lässt sie los. Nun halten je zwei Schüler zusammen ein Band.
»Introduzioni!«, verkündet sie und zeigt auf ein paar italienische Begrüßungen, die sie aufs Whiteboard geschrieben hat.
Die Paare halten brav ihre Bändchen in den Händen und lächeln unsicher, bis Alf das Schweigen bricht.
»Ciao!«, sagt er zu der schönen jungen Frau, die er erfreulicherweise erwischt hat. »Come ti chiami?«
Als hätte er ihnen damit die Erlaubnis erteilt, geraten die anderen nun ebenfalls in Bewegung, wiederholen seinen Gruß, und mit leichtem Hüsteln und beschämtem Lachen erwacht der Klassenraum zum Leben.
»Mi chiamo Letty«, antwortet die junge Frau.
»Letty?«
»Kurzform von Violet«, erklärt sie.
»Piacere«, sagt er.
»Come ti chiami?«, fragt sie ihn.
»Alf«, sagt er. »Einfach Alf.«
Sie fragt, woher er komme.
»Inghilterra«, antwortet er.
»Zwei Engländer! Keine gute Idee!«, schaltet sich die Lehrerin ein und fordert sie auf, die Partner zu wechseln.
LETTY
Sie sind zu acht in der Klasse und wechseln weiter die Partner, bis jeder jeden kennengelernt hat. Masakasu ist Japaner, Paola und Carla kommen aus Kolumbien, Jo ist Norweger, Angela Österreicherin, Heidi ist aus der Schweiz und Alf aus England. Seinem Akzent nach zu urteilen, stammt er aus dem Norden.
Letty fragt sich, ob ihr Italienisch jemals flüssig genug sein wird, um herauszufinden, was diese ungleichen Menschen wie Strandgut in diesem dunklen Klassenzimmer zusammengetrieben hat - in einer quasi leeren Sprachenschule im April in Rom.
Welche Geschichten haben sie hergeführt? Und werden sie ihre erfahren wollen? Wenn ja, was soll sie ihnen erzählen?
Wenn sie wollte, könnte sie eine völlig andere Version von sich erschaffen.
Letty sieht zum Fenster. Der strahlende Sonnenschein, der noch nicht den Weg ins Klassenzimmer gefunden hat, lässt die Aussicht wie eine Postkarte wirken: ein Flecken violetter Bougainvillea, geometrisch angeordnete schräge Terrakottadächer und kugelförmige grünschwarze Baumkronen. Ein klarer blauer Himmel.
Ich bin in Rom, denkt sie. Hier kenne ich niemanden, und niemand kennt mich.
Sie sieht, dass sie das goldene Band unbewusst wie einen Ring um ihren Finger gelegt hat.
Die Lehrerin spielt ihnen eine Aufnahme von Italienern...
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