Schweitzer Fachinformationen
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1. Kapitel
Sommer 2013
In jener ersten Nacht, als ich zu unserer himmlischen Decke hinaufblickte und dem sanften Rhythmus seines Atems lauschte, musste ich daran denken, wie verzaubert ich als Kind gewesen war, wenn meine Mutter mir vor dem Schlafengehen vorlas.
Ich kann nicht älter als vier gewesen sein, denn mit fünf Jahren konnte ich schon selbst lesen und verschlang jede Woche so viele Bücher, dass die nette Bibliothekarin mich mit Namen kannte und mir alle Neuerscheinungen empfahl.
»Es war einmal .« Wenn ich die Augen schloss, döste ich langsam ein und nahm entfernt wahr, wie Mums Stimme verklang, während Bilder von Schlössern mit Türmen durch meinen Kopf geisterten. Von Prinzessinnen, die so zart waren, dass sie gläserne Schuhe trugen oder eine Erbse durch ein Dutzend Matratzen fühlen konnten.
Die Geschichte von Gus und mir klang wie ein Märchen. Als wir uns an jenem ersten Abend in Florenz unterhielten, stellten wir fest, dass sich unsere Wege bei vielen Gelegenheiten gekreuzt haben mussten. Wir hatten im selben Flugzeug gesessen, waren auf demselben Konzert gewesen und wohnten nun an verschiedenen Enden derselben Londoner Straße. Es gab so viele andere verpasste Gelegenheiten, dass sich unsere Begegnung in der Kirche, in der wir uns zum ersten Mal gesehen hatten, eher wie Schicksal als wie reiner Zufall anfühlte. Es war, als hätten wir viele Hindernisse überwinden müssen, bevor wir uns endlich richtig begegneten. Wie der Prinz, der sich durch wucherndes Gestrüpp einen Weg zu Dornröschen schlagen muss, oder Aschenputtel, das die ganze verdammte Hausarbeit macht, bevor es zum Ball geht.
»Vielleicht verpassen sich aber auch alle Menschen ständig«, sagte Gus, als wir an einem Tisch auf dem Bürgersteig im Oltrarno saßen. »Wenn man bedenkt, wie viele Leben sich nur für eine Sekunde mit unserem kreuzen .«
Er machte eine Geste in Richtung der Einheimischen, die ihre abendliche passeggiata auf dem Platz unternahmen.
»All die Menschen, neben denen du jemals in der Schlange für einen Kaffee angestanden oder die du auf der Rolltreppe zur U-Bahn überholt hast? Vielleicht war das heute einfach nur Zufall?«
Beim Blick in den sich verdunkelnden Himmel beschloss ich, dass ein Zufall genauso romantisch war wie Schicksal, denn es bedeutete, dass es für alle Hoffnung gab.
Am Morgen wachte ich vor ihm auf. Ich verhielt mich so still wie möglich und kam mir etwas verstohlen vor, als ich sein Gesicht musterte. Schlafend sah er jünger aus als 34, eher wie ein Junge als wie ein Märchenprinz, mit rotbraunem Haar und einem sommersprossigen, hellen Teint, der sich nicht jeden Tag rasieren musste. Gerade als ich mich fragte, ob ich es wagen sollte, ihn wach zu küssen, bewegte er sich. Sein Atem roch ein wenig nach Knoblauch von der Pizza, die wir am Vorabend gegessen hatten. Ich überlegte, ob ich mich auf Zehenspitzen ins Bad schleichen könnte, um mir die Zähne zu putzen, ohne ihn zu stören, als er die Augen öffnete und mich eine Sekunde lang verwirrt ansah, bevor er sich erinnerte. Dann lächelte er und zog mich auf sich. Als wir uns küssten, wurde mein Körper von so intensiver Zuneigung und Sinnlichkeit durchdrungen, dass es sich anfühlte, als würde es niemals enden.
In der Nacht zuvor hatten wir uns wie von Sinnen geliebt, als hätten wir versucht, direkt zum Kern des anderen vorzudringen. Jetzt ließen wir uns viel Zeit und genossen es. Ich hatte nie gedacht, dass ich gut in Sex sei. Wenn ich neben früheren Liebhabern gelegen hatte, schien ich immer einen Arm oder ein Bein zu viel zu haben und wusste nicht, wohin damit. Die Nacktheit schien nur zu betonen, wie lang und unvollkommen mein Körper war, und ich wusste nie, ob ich genug oder zu viel Geräusche von mir gab. Aber mit Gus fühlte es sich völlig natürlich und unfassbar vollkommen an.
Schließlich bot er freiwillig an, uns Frühstück zu holen, und kam mit Erdbeeren und kleinen Gebäckstücken zurück. Wir liebten uns wieder, seine Lippen mit Puderzucker bestäubt, dann dösten wir, bis uns die Sonnenstrahlen blendeten, die durch die Fensterläden fielen. Entschlossen schlug ich das weiße Baumwolllaken zurück.
»Wir dürfen einen so schönen Tag nicht vergeuden .«
»Vergeuden?« Er grinste mich an.
»Du weißt schon, was ich meine .«
Manche Orte ähneln den Ansichten, die man von Postkarten kennt, so sehr, dass sie einem unwirklich erscheinen, wenn man dort ist. In Pisa, wohin wir an unserem ersten Tag fuhren, war der Himmel so blau, der exakt geschnittene Rasen so grün und die filigranen Marmorverzierungen des Doms und des Glockenturms so weiß, dass es fast war, als würden wir durch eine computergenerierte Landschaft schlendern. Die mittelalterlichen Kopfsteinpflasterstraßen und -plätze von San Gimignano an unserem zweiten Tag wirkten wie eine Filmkulisse für Romeo und Julia. Und ich war mit einem Fremden dorthin gestolpert, der genauso verliebt war wie ich.
In meinem Kopf fand ein unablässiger Dialog statt. Passiert das wirklich? Ist es Liebe oder nur Lust? Warum existiert die Liebe überhaupt? Lust allein würde für die Evolution doch genügen, warum also mussten Gott oder die Natur all diese Emotionen dazutun, deren außerordentliche Freude die Qualen vorwegzunehmen schien?
Herrgott, sag das bloß nicht laut!
Zu den Adjektiven jungenhaft, charmant, sexy, mit denen ich Gus anfangs beschrieben hatte, fügte ich bald noch bekümmert hinzu. Als wir uns über unsere bisherigen Leben unterhielten, wurde deutlich, dass er zwar materiell bessergestellt, aber weitaus unzufriedener war als ich.
Wir hatten beide in unserem Leben großes Leid erfahren. Meine Mutter starb, als ich 18 war. Etwa im gleichen Alter war Gus' älterer Bruder Ross bei einem Skiunfall ums Leben gekommen. Mein Leben hatte sich grundlegend verändert und ich vermisste meine Mutter jeden Tag, aber ich hatte immer versucht, das Beste aus allem zu machen, so wie sie früher. Gus und seine Familie schienen wie paralysiert gewesen zu sein. Seine Eltern waren nicht darüber hinweggekommen und hatten sich scheiden lassen und Gus' Leben war von der Tragödie überschattet worden. Am Ende hatte er sogar die Freundin seines Bruders geheiratet - eine Verbindung, die von Anfang an zum Scheitern verurteilt gewesen war. Manchmal wurde er ganz still, als wäre er mit seinen Gedanken woanders. Umso befriedigender war es, wenn es mir gelang, ihn zum Lächeln zu bringen. Wie Jane Eyre herausfand, gibt es nichts Schöneres, als einen traurigen Menschen glücklich zu machen.
Was nicht heißen soll, dass er keine gute Gesellschaft war. Er besaß einen derart trockenen Humor, dass ich manchmal nicht merkte, wenn er sich über mich lustig machte, doch er war nie gemein. Gus war ein sanfter Mann.
Als meine beste Freundin Doll und ich Teenager waren und uns jede Woche in ein anderes Mitglied von Take That verliebten, warnte uns meine Mum immer, dass gutes Aussehen nicht alles sei. Was ihr wollt, ist ein netter Mann, erklärte sie uns.
Nicht, dass Gus nicht auch gut ausgesehen hätte. Und interessant war. Er wusste alles über Kunst und Architektur und zeigte mir Details, die ich nie bemerkt hätte, wie die unterschiedlich gestalteten Laternenpfähle in jeder toskanischen Stadt und die blassen Horizonte von Piero della Francescas Himmeln. Er war großzügig und bot immer wieder an, mir kitschigen Schmuck zu kaufen, wenn wir an Marktständen vorbeikamen, sodass ich schließlich aufhörte, ihm welchen zu zeigen. Und er liebte Eis genauso wie ich.
Es gibt Paare, bei denen eine Person, meist ist es die Frau, im Schatten des anderen steht. Bei Mum und Dad war es so. Und vielleicht hatte ich das von ihr übernommen, denn kein Mann in meinem Leben hatte sich je für meine Meinung interessiert. Leo, mein letzter Partner, hatte nur so getan, wenn er Sex wollte. Als ich das schließlich begriffen hatte, kam ich mir wie eine Prostituierte vor, die damit bezahlt wurde, dass er mit dem Kopf nickte und »Das ist eine hervorragende Idee« sagte.
Aber mit Gus war es anders. Er hörte sich alles an, was ich sagte, unterbrach mich nie und schaute auch nicht auf die Uhr. Bei ihm fühlte ich mich gleichberechtigt.
Unser dritter gemeinsamer Morgen war der erste, an dem ich mich nach dem Aufwachen nicht fest zwickte. Ich hatte mich an Gus' Form, sein Gewicht und seine Wärme auf der bequemen Matratze gewöhnt. Ich genoss es, dort in der leicht kühlen Morgendämmerung zu liegen, die Decke bis zum Kinn hochgezogen, den Blick auf das Gemälde über mir gerichtet und den Vortag Revue passieren zu lassen.
In einer Trattoria voller Italiener, die dort zu Mittag aßen, hatte er mir beigebracht, wie man Spaghetti wie ein Einheimischer aufwickelte - nur mit der Gabel. Als er sanft meine Hand führte und mir aufmerksam in die Augen sah, hatte es sich fast so intim wie ein Vorspiel angefühlt.
Beim Kaffee hatte er angemerkt, dass ich mir das Leben aller anderen Gäste vorzustellen schien. Woraufhin ich ihm anvertraute, dass es mein Traum sei, Schriftstellerin zu werden. »Das ergibt Sinn«, hatte er nur gesagt und genickt.
Jetzt beobachtete ich sein Gesicht, während er schlief, und fragte mich, wovon er wohl träumte. Er regte sich, schlug die Augen auf und lächelte.
»Gibt es einen Ort, den du vor deiner Abreise unbedingt noch sehen möchtest?«
Es war das erste Mal, dass er meine Abreise erwähnte. Gus hatte noch eine weitere Woche gebucht. Plötzlich befielen mich Zweifel.
War unsere Beziehung eine Illusion, die außerhalb der magischen Landschaft Italiens keinen Bestand...
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