WIE PFERDE WIRKEN
Im Jahr 2004 startete mein erster Kurs. Sechs Kinder, ein Pferd. Meine Felicitas! Dazu gleich mehr .
Als ich Felicitas fünfjährig kaufte, hatte ich ein Sportpferd mit tollem Gangwerk für die Dressur und sehr viel Schwung gekauft. Auch für den Springsport war sie bestens geeignet. Eigenwillig, sehr dominant und anfangs schreckhaft, war sie zwar kein schwieriges Pferd, jedoch auch kein Pferd für Anfänger.
Ihr Talent für die Reittherapie entwickelte sie parallel zu ihrer Ausbildung als Dressur- und Springpferd. Ich nahm fleißig Dressur- und Springunterricht. Wir nahmen auch an Dressurturnieren teil, mit sehr mäßigem Erfolg. (Uns fehlte der Fleiß, die Hartnäckigkeit und das Durchhaltevermögen. Talent war zumindest vom Pferd her reichlich vorhanden.) Ich entdeckte aber auch meine Freude am Geländereiten. Was uns so richtig zusammenschweißte und eine Leidenschaft für sich wurde, waren Urlaube mit Pferd. Urlaube mit Pferd sind die Investitionen in eine im wahrsten Sinne des Wortes tragfähige Beziehung zum Pferd. Hier wächst durch gemeinsame Abenteuer eine tiefe Freundschaft! Seit dieser Erkenntnis gehört der Urlaub mit Pferd bei mir als fester Bestandteil der Therapiepferdeausbildung dazu.
Später entdeckte ich das Geschicklichkeitstraining und das Gelassenheitstraining vom Boden aus. Immer öfter nahmen wir an geführten und gerittenen Gelassenheitsprüfungen auf Turnieren teil und das mit großem Erfolg. Das Gelassenheitstraining legte damals für uns den Grundstein für die Eignung als Therapiepferd.
Wie Felicitas therapeutisch wirkte, möchte ich an einem Beispiel aus meiner ganz frühen Arbeit zeigen.
. Also weiter im Text: Bei einem meiner ersten Kurse kam ein Geschwisterpaar. Ein Junge und ein Mädchen mit seiner Mutter.
Insgesamt kamen noch vier weitere Kinder mit je einem Elternteil. Bei dem Kurs "Heilpädagogik - Kinder rund ums Pferd" ist einer der Bestandteile das gemeinsame Putzen des Pferdes. 6 Kinder, 5 Mütter, ein Pferd und ich. Das Ganze kann auch mal turbulent werden - besonders wenn sich das Geschwisterpaar hingebungsvoll und laut über jede Kleinigkeit streitet. So am ersten Kurstag, wo die Mutter die Kinder ermahnte, mit dem Streiten aufzuhören, oder wenn, dann leiser. Das Ganze begleitet von 11 Augenpaaren, was die Mama sichtlich stresste, wie ich aus den Augenwinkeln mitbekam. Ich selber erklärte den Kindern, dass Pferde viel geräuschempfindlicher seien als Menschen und mehr Ruhe benötigten. Als Fluchttier reagieren Pferde auf hektische Bewegungen und Streit oft ängstlich und nervös.
Diese Ansprachen beeindruckten die Kinder nur kurz, zumal mein Pferd das Ganze gelassen ertrug.
Die Woche darauf das gleiche Spiel. Die Kinder stritten, Mutter ermahnte und fühlte sich unwohl. Reittherapeutin fordert Rücksichtnahme gegenüber dem Pferd ein. Kinder stritten unbeeindruckt weiter. Pferd ertrug geduldig. Schließlich ist sie darauf geschult, brav und geduldig zu sein.
Auch beim dritten Treffen stritten sich die Geschwister während des Putzens erst über eine Bürste, dann um den Hufkratzer. Die Mutter wollte sich gerade bei den Streithähnen Gehör verschaffen, als es einen lauten Knall gab. Der Streit verstummte, alle Augen waren auf Felicitas gerichtet. Diese warf noch mal den Kopf hoch und stampfte abermals kräftig mit dem Vorderhuf auf. "Warum macht sie das?", fragte eines der Geschwister. Ich gab die Frage weiter an die anderen Kinder. Eines sagte prompt: "Die ist genervt!" "Genau", sagte ich, "der reicht es jetzt mit dem Krach und der Unruhe!" Die Geschwister standen stumm und betrachteten eine Weile mein Pferd, bevor sie viel ruhiger und entspannter gemeinsam mit den anderen Kindern Felicitas weiterputzten.
Was war passiert? Na, ganz einfach, das Pferd wirkte. Und ich als Therapeutin war der Dolmetscher! Wir Menschen neigen dazu, Kritik von anderen Menschen persönlich zu nehmen und als Angriff auf uns zu bewerten. Reagiert ein Pferd auf eine vom Menschen ausgelöste Aktion, fällt es uns leichter, unser Verhalten kritisch zu betrachten und entsprechend zu ändern. Pferde haben keine Vorstellung davon, was wir Menschen als "normal" bezeichnen. Sie begegnen uns ohne Vorurteile. Das spüren wir Menschen. Über das Pferd können wir unsere Schwächen viel besser annehmen und diese bearbeiten.
Ich bin glücklich, dass meine Pferde so trainiert sind, dass sie, aller Gelassenheit und Entspanntheit gegenüber dem Klienten zum Trotz, sich gestatten, auch ihren Unmut zu zeigen, ohne für den Klienten gefährlich zu werden. Nur ein Pferd, welches vom Therapeuten berechenbar auch Ungehorsam zeigen darf, kann Klienten einen Spiegel vorsetzen, und nur so können Klienten im Umgang mit Pferden wachsen.
Noch ein weiteres Beispiel dafür, wie Pferde wirken? Gerne doch!
Vor einigen Jahren bekam ich den Anruf eines Schulleiters einer Förderschule. Das Besondere an der Schule war, dass sie nicht spezialisiert war, sondern aus allen Bereichen Kinder aufnahm. Also geistig, körperlich und sozial - emotional beeinträchtigte Kinder. Das sorgte im besten Fall für ein entspannteres Lernen. Hand aufs Herz! Wer möchte denn acht energiegeladene, hyperaktive, vorpubertierende, auf Krawall gebürstete Kinder geballt in einer Klasse? In meinem Fall kamen je vier Kinder aus einer Klasse, wobei die Klassenstärke bei acht Kindern lag.
In einer Gruppe waren ein Mädchen und drei Jungen zwischen 9 und 10 Jahren.
Lucas hatte die Diagnose ADHS und Probleme im sozialen Bereich, konnte aber auch charmant-witzig sein und hatte so den Job des Klassen-Clowns inne. Nico hatte durch viele Operationen und Krankenhausaufenthalte einen allgemeinen Entwicklungsrückstand, aber keine geistige Behinderung. Er war ein angenehmer, freundlicher Junge. Ricardo hatte ADHS und emotionale Probleme, die sich unter anderem in Wutausbrüchen äußerten. Er stellte seine Lehrer und Mitschüler oft vor große Herausforderungen. Kira hatte eine leichte geistige Behinderung und etwas Übergewicht. Laut Lehrerin hatte sie einen schweren Stand in der Klasse.
Als Ziel einer Einheit stand die Konzentrationsförderung im Vordergrund. Dafür hatte ich den Kindern eine Skizze gemacht, nach der sie einen Geschicklichkeitsparcours aufbauen sollten. Diesen Parcours durfte jedes Kind mit dem Pferd an der Hand bewältigen. Es kamen Stangen zum Darüberführen, Pylonen für Slalom, eine Plane zum Darübergehen und ein Platz zum Anhalten als Aufgabe vor.
Bei Nico gelang diese Aufgabe so einigermaßen. Bei Lucas und Ricardo misslang fast alles, Slalomkegel wurden umgetreten, Stangen fielen und am Ende suchte sich das Pferd seinen eigenen Weg. Die Jungen schwankten zwischen Ratlosigkeit und Frustration. Kira nahm mit ihrer ruhigen Art eine natürliche Führungsposition beim Pferd ein und absolvierte den Parcours nahezu fehlerfrei. Ich erinnere mich noch sehr genau, wie Lucas und Ricardo die Kinnlade nach unten glitt, sie sparten sich aber jeden Kommentar. Ich bat alle Kinder, den Parcours nochmal zu gehen und sich den Weg und die Hindernisse genau einzuprägen. Dieses Mal sollte Kira anfangen, damit die Jungen sich etwas von ihr abschauen konnten.
Kira schaffte es auch dieses Mal, dass das Pferd ihr willig und konzentriert folgte. Nico machte gute Fortschritte. Nur bei Lucas und Riccardo tanzte das Pferd aus der Reihe. Ricardo fragte aufgebracht, warum das so sei. Ich fragte ihn, woran er denn während des Parcours gedacht hätte. Er antwortete, er habe sich Gedanken darüber gemacht, ob es mittags in der Schule wohl Pizza gäbe. Ich grinste vergnügt und sagte: "Aha, könnte es sein, dass da der Fehler liegt? Probier doch bitte noch mal den Parcours, und dieses Mal stellst du dir bei jedem Schritt vor, wie du deine Aufgaben im Parcours gut hinbekommst! Genau dann konzentrierst du dich! Mal sehen, ob das hilft!" Gesagt, getan, und Ricardo hatte Erfolge!
Was war passiert? Das Pferd spiegelte die Unkonzentriertheit von Ricardo wider. Über das Pferd wurde das Wort "Konzentration" für Riccardo von einer abstrakten Worthülse zu einem Wort, das er verstand, das er fühlte. Wenn demnächst jemand dieses Wort benutzen würde, könnte er selbst das Wort mit Leben füllen, indem er sich daran erinnerte, wie gut er seine Aufgabe mit dem Pferd bewältigt hatte, als er sich nur auf diese Aufgabe konzentrierte.
Aber das Pferd hatte auch noch anders seine Wirkung entfaltet. Das Pferd spiegelte auch Kiras natürliche Führungskraft und ihren Willen wider, mit dem Pferd ihr Ziel zu erreichen. Das Pferd störte sich nicht an ihrem Übergewicht und auch nicht daran, dass ihre Gedanken manchmal sehr langsam waren. Das Pferd schenkte Kira sein Vertrauen und seine Mitarbeit, weil Kira ganz präsent im Augenblick war und sich mit Hingabe dem Pferd und der Aufgabe zuwandte. Kira hatte durch diese Lektion viel Selbstvertrauen gewonnen. Und die Lehrerin berichtete, dass sich ihre Stellung in der Klasse merklich gebessert hätte.
Ich habe noch ein Beispiel, wie Pferde wirken. Wieder aus meiner Anfangszeit. Dieses Mal ein Kurs mit vier Kindern. Bei vier Kindern ist es die Regel, dass die Eltern die Kinder nach der Eingewöhnungszeit nur noch bringen und abholen. Ich kam mit der kleinen Gruppe vom Reitplatz wieder. Wir versorgten das Pferd und wollten zum Abschluss noch über eine Leiter auf den Heuboden klettern. Das Mädchen Marie sagte, sie hätte Angst davor. Ich entgegnete, das wäre nicht schlimm, wir würden warten, bis die Mama käme und es dann zusammen mit ihr machen. Das...