Schweitzer Fachinformationen
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Ich bin das ursprüngliche Alphabet.
Von meinem Rückgrat aus
entfalten sich Buchstaben
und ritzen Zeichen in
die Zellen meiner Mutter.
Ich lese mein Schicksal
auf den runzligen Wänden
dieses ersten Raumes
und umklammere
in meiner geröteten Faust
Fetzen der Prophezeiung.
In Kischinjow ist der Fluss Bîc gefroren. Der Ofen ist voller Kohle, doch Miriam liegt zitternd auf einem schmalen Bett in einem der wenigen Steinhäuser in der Gostinajastraße und verflucht die Wände: »Alles wird herausgerissen. Stein - warum hast du dich aus dem Berg schlagen lassen, wozu bloß? Ich kann nicht, ich stehe das nicht noch einmal durch. Stein .«
Gutke streicht Miriam das dunkle, feuchte Haar zurück, fasst es zusammen und schiebt es ihr in den Nacken. Ihre Fingerspitzen gleiten über die weichen Furchen auf Miriams Stirn, als könne sie die Anstrengung fortwischen. Eines von Gutkes Augen ist so schwarz wie Miriams Augen, das andere ist goldgesprenkelt. Miriam starrt in das eine Auge, dann in das andere, versucht, ein Rätsel zu ergründen, lässt den Blick der Hebamme in sich ein, den ganzen Weg bis zu dem zweiten Herzschlag. Ihr Atem wird ruhiger.
Gutke gießt aus einem Krug ein wenig Wein auf einen Lappen und streicht damit über Miriams Lippen. »Nur zu, schrei es aus. Es hört niemand außer mir. Frauen gebären unter Schmerzen. Wir erfüllen das Wort, Gottes Urteil über Eva.«
»Ich bin nicht Eva. Ich verdiene diese Schmerzen nicht.« Sie krallt ihre Finger in Gutkes fleckigen Rock.
Gutke zuckt die Schultern. »Du weißt doch, dass es nicht darum geht, ob man den Schmerz verdient hat oder nicht. Wir werden es gemeinsam durchstehen. Schau mir in die Augen.«
»Was geben Sie ihr?« Rabbi Isaak hält in seinem Auf- und Ablaufen inne, legt die Hände an den Türrahmen und schiebt seinen Oberkörper in den Raum, wobei er den Kopf einzieht, um nicht anzustoßen.
»Nur ein wenig Wein.«
»Sie redet doch jetzt schon wirr. Geben Sie ihr nur Wasser.«
»Rabbi, bei allem Respekt, ich mache das tagaus, tagein. Vielleicht würde ein Psalm das Haus beruhigen. Sie haben doch sicher den rechten parat, nu? Kommen Sie, tragen Sie uns etwas vor, oder gehen Sie, und ich rufe nach Ihnen, wenn ich Ihre Hilfe brauche.«
Isaak verzieht sich wieder, stapft im Nebenraum umher und wirbelt den Staub von der nackten Erde auf. Warum wieder Gutke? Es gibt doch noch andere Hebammen. Selbst seine Mutter Malka hatte sich angeboten, doch Miriam hatte auf Gutke bestanden, deren Vater nicht Jude gewesen war. Starrsinnig. So streiten sie sich immer: Musst du so starrsinnig sein? - Ich, starrsinnig? Du bist es doch .
Er sollte jetzt in der schul sein, nah am Ofen sitzen und den wöchentlichen Midrasch auslegen. Er könnte immer noch gehen. Niemand würde ihn dafür tadeln. Die anderen Männer würden sagen, er sei Zoll für Zoll ein Rabbi - seine Frau daheim in den Wehen, doch hält ihn das davon ab, den Allmächtigen zu preisen?
Die Jungen sind im cheder, die kleine Esther ist bei seiner Schwester Scheindl. Aber wenn Miriam ihn doch brauchte? Es wäre nicht klug, sie mit Gutke allein zu lassen. Natürlich kann man die Frau nicht für die Sünden ihrer Mutter tadeln. Niemand hat sich je über Gutke als Hebamme beschwert, doch sie könnte Zauber wirken. Es ist Aufgabe eines Rabbi, dafür Sorge zu tragen, dass Lilith keine Öffnung findet. Na gut, na gut, vielleicht hat Gutke recht, also ein Psalm. Er seufzt, als er daran denkt, dass das Buch Hiob dem Buch der Psalmen vorausgeht. Alles ist von Bedeutung durchdrungen, und ganz gewiss das Wort des Ewigen. Dies ist seine Botschaft, um seinen Geist dem Ereignis zu beugen.
Gutke hört das Gemurmel aus dem Nebenzimmer und ist erleichtert. Miriam kneift die Augen zusammen, dreht ihren Kopf von der Wand weg und öffnet die Augen wieder. Als Isaak im Türrahmen stand, konnte Miriam jedes Wort, das er dachte, hören. Alles ist klarer, deutlicher, wenn du gebärst - oder vielleicht, wenn Gutke kommt. Ein zweischneidiger Segen. Als sie ihr zweites Kind bekam, hatte sich Miriam Isaak gefügt. Die jüdische Hebamme, hatte er beharrt. Gutke ist eine gute Jüdin, hatte sie eingewandt. Doch er war damals gerade in die Gildensynagoge berufen worden; seine Nerven waren nicht die besten gewesen. Sie hatte ihm Eitelkeit vorwerfen wollen, es aber nicht gewagt.
Rührend, ich fand es so rührend, wie stolz er war, wenn es um mich ging, dachte Miriam. Eine Woche später war Chajim gestorben. Man lernt, im Leiden zu den Seinen zu stehen. Was sonst? Manche der Frauen dulden Gutke nicht in ihrem Haus; sie haben Angst. Na schön, sie sieht Dinge, wenn das Baby kommt. Nicht viel, im Grunde, oder vielleicht sieht sie mehr, als sie sagt, macht nur Andeutungen. Ich mag Andeutungen. Ich möchte alles wissen, was ich nur kann. Doch vielleicht erfindet sie diese Dinge nur. Esther, hat sie gesagt, würde kasche und Spitze sein. Kasche - das ist für ein Mädchen leicht genug zu prophezeien. Mein Abraham, er würde ein Ölzweig in Zion sein. Das hätte ich ihr auch sagen können. Doch Daniel, was hat sie über Daniel gesagt? Er wird sich in Tinte versenken, wie sich ein Trunkenbold ins Weinfass stürzt. Wie kann man einer Mutter so etwas sagen - o nein .
Plötzlich sind Miriams Augen weit geöffnet, ihr Atem geht stoßweise wie der Hammer des Hufschmieds. Sie setzt sich auf.
»Diese Haltung ist besser. Es ist noch nicht lange her. Siehst du, dein Körper erinnert sich«, sagt Gutke. »Höre nur auf deinen Körper. Vor mir brauchst du dich nicht zu schämen. Im Sitzen wird es leichter gehen. Dreh dich zur Seite, dann stecke ich ein Kissen zwischen dich und die Wand. Es dauert nun nicht mehr lange.« Miriams Wehen folgen rasch aufeinander. Gutke klemmt zwei Stühle zwischen das Fußende des Bettes und die Wand. Miriam stemmt ihre nackten Füße gegen das Holz und ist dankbar für den Widerstand. Ihre Beine sind mit Baumwolltüchern umhüllt, das Federbett liegt um ihren Körper wie eine Stola. Doch sie zittert immer noch. Die Kälte greift durch die Wände nach ihr.
Gutke runzelt die Stirn.
»Was ist? Stimmt was nicht mit meinem Baby?«
»Es ist zu früh, um das zu sagen. Wir wissen, dass es mit den Füßen zuerst kommen wird.« Die Öffnung hinten klafft. Miriam hat sich immer weit genug geöffnet, es war nie notwendig, zum Messer zu greifen. Doch die Form der Wölbung stimmt nicht, sie ist nicht rund wie eine Faust, die an das Tor zur Welt pocht, so, wie sie sein sollte. Und der Geruch ist nicht ganz in Ordnung. Gutke kennt die gesamte Bandbreite an Gerüchen. Sie mag den Geruch, die Verdichtung von Frausein - Urin, Schweiß, Blut, Sekrete, die den Weg des Babys schmieren. Sie kann sich erinnern, wie Miriam mit Esther gerochen hat - stark, einfach. Dieser Geruch hier ist ein wenig eigentümlich - rauchig, beinahe. Weil das Baby mit den Füßen zuerst kommt, oder hat es einen anderen Grund? Gutke drückt Miriam einen trockenen, verknoteten Lappen in die Hand.
»Du musst mir vertrauen. Lass die Beine gespreizt, ja, genau so. Das Baby wird ein bisschen mehr Hilfe als gewöhnlich brauchen.«
Miriam ist schweißgebadet. Sie stößt einen Schrei aus. »Meine kischke - es zerreißt mir das Gedärm!«
Die Öffnung scheint Gutke zuzuzwinkern, macht ihr Hoffnung. Ja, das Baby liegt verkehrt herum, aber genau einmal gedreht, und das ist besser als quer. Hier kommt ein kleines Füßchen, wie eine Flagge, ergibt sich, und hier ist das andere. Sie legt ihre Hände um die Füßchen. Man darf nicht ziehen, und doch hängt alles davon ab, den Kopf schnell hindurchzubekommen.
»Atmen und pressen. Das nennst du pressen? Deine kleine Esther könnte stärker pressen. Gut, atme tief ein. Du wirst pressen, und ich werde dir helfen.« Auf diese Weise tut es mehr weh. Kommt der Kopf zuerst, ist die Öffnung anfangs am weitesten. Dann ist es leichter, und die Mutter kann ein wenig verschnaufen, während sich das Baby den Weg zum Licht bahnt. Doch dies hier - Gutke kann den Schmerz in ihrem eigenen Becken spüren.
»Schrei ruhig, das ist gut. Gut, schrei noch mal. Das Baby will dich einfach nicht verlassen, will nicht in diese Welt kommen, und warum auch?« Eine Hand liegt um die Schenkel des Babys, und als Miriam erneut presst, stützt Gutke den Rücken des Babys mit der anderen Hand. Miriams Haut reißt ein, doch Gutke hat keine Zeit, sich darum zu kümmern.
»Allmächtiger Gott ich halt das nicht aus ich halt das nicht .« Miriams Lippen sind geschwollen, bluterfüllt, ihre Bräune wirkt beinahe tiefrot. Das Baby kommt heraus, wie eine Nudel, streckt sich, lang und dünn und dann . Schultern und Kopf bleiben stecken.
»Pressen, Miriam, pressen. Du bist stark, du willst, dass dein Baby lebt.« Gutke, noch immer ruhig, hält die Nabelschnur fest am Körper, damit sie sich nicht verheddert. Sie zieht und dreht gleichzeitig, kräftig. Das Kinn des Babys kommt jetzt heraus, das Gesicht nach unten gewandt. »Noch einmal .«, dann ist das Baby draußen. Gutke löst die Nabelschnur vom Hals und lässt das Baby seinen ersten Purzelbaum schlagen.
»Gott sei Dank.« Miriam schluckt heftig, stöhnt. Isaaks Gebete sind lauter geworden, eindringlicher und voller Angst. Doch Gutke hört nichts in diesem Augenblick. Dies ist das Beste, diese vollkommene Stille, bevor das Baby anfängt zu schreien. Und dann der...
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