Schweitzer Fachinformationen
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Du hast - was? Ein Kind? Und du hast es alleingelassen? Aber wer schaut denn darauf? Was, wenn es aufwacht und weint? Was, wenn es das ganze Haus zusammenbrüllt? Hast du keine Angst, dass dich die Nachbarn anzeigen? Ziemlich verantwortungslos von dir, findest du nicht?
Ja schon, aber.
Sie weiß, dass es egoistisch ist. Die Stimme im Kopf ist immerhin ihre Stimme. Unablässig redet sie auf sie ein, und sie hat Mühe, sich vor ihr zu verteidigen. Zu schwach sind die Widerworte, die ihr auf der Zunge liegen. Ein Ja schon, aber. Mehr fällt ihr nicht ein. Mit einem Zungenschnalzer versucht sie, den Mund freizubekommen. Und es gelingt ihr fast. Dann aber kommt ihr der Geschmack des Fusels in die Quere, an dem sie nippt. Vorsichtig, um nur ja nichts zu verschütten, hält sie sich die Mischung aus Wodka und Soda an die Lippen und nimmt einen ungefähren Schluck, wobei sie kurz stehenbleibt und sich des Gewichts ihres Körpers bewusst wird. Im Gehen war er weniger schwer gewesen. Ja, sie hatte ihn gar nicht gefühlt, so leicht war er gewesen. Jetzt aber droht sie sein Gewicht in die Knie zu zwingen. Ihr ist speiübel. Nasser Schweiß bedeckt ihre Augäpfel. Ihr Sichtfeld ist eingeschränkt. Wahrscheinlich schielt sie? Die Menschen, die an ihr vorbeiströmen, sind grotesk verzerrte Comicfiguren. Lachend schlagen sie einen Bogen um sie. Sie zerteilen sich, dann wieder bilden sie eine gleichförmige Masse, der sie sich anschließt, um nicht aus dem Takt zu geraten. Die Lichter der Stadt strahlen auf ihre Köpfe, von wo sie in den Nachthimmel reflektiert werden. Und wie klein sie sich darunter ausnehmen! Wie klein und zerbrechlich! Obwohl es die Köpfe von Erwachsenen sind, erinnern sie sie an den mit zartem Flaum bedeckten Kopf des Kindes, das sie alleingelassen hat. Ein Duft steigt ihr in die Nase. Sie blickt an sich herunter. Auf der Bluse, die sie trägt, zeichnen sich rote Flecken ab. Warum rot, denkt sie. Milch ist doch weiß. Aber natürlich. Es ist das Rot der Ampel, das sie bescheint. Sie hat sich von der Masse aus grotesk verzerrten Comicfiguren bis zu der Scramble-Kreuzung in S. tragen lassen. Gerne würde sie hier eine Pause einlegen. Sich irgendwohin setzen. Durchatmen. Das Gewicht ihres Körpers zieht sie in Richtung des Asphalts. Doch wie sehr sie dem Sog auch nachgeben mag, wie sehr es sie auch danach verlangt, an Ort und Stelle in die Hocke zu gehen, sie wird weitergetragen. Laute Musik umspült sie. Eine Boyband singt und tanzt auf dem Bildschirm des T.-Gebäudes. Sie kennt die Jungs. Das heißt, sie glaubt sie zu kennen. In einen von ihnen ist sie sogar einmal verliebt gewesen. Wie dumm von ihr! Sie muss über sich selbst lachen, aber der Laut, der sich ihr entringt, klingt nicht nach einem Lachen. Eher klingt er nach einem Wehklagen. Die Welt da oben hat mit der Welt da unten nichts gemein. Da oben wird getanzt und gesungen. Und da unten? Tja. Da unten rinnt einem die Milch aus den Brüsten. Man zerrinnt förmlich. Man gerinnt. In der Hitze des Sommers, die sich da unten staut, ist man ein Klumpen sauer gewordener Milch.
Geh heim. Du hast ein Kind. Es braucht dich.
Die schwachen Widerworte liegen ihr wie Blei auf der Zunge. Sie lallt sie leise vor sich hin, um sie aus sich heraus zu stellen. Es gilt, sie loszuwerden. Mehr noch: Es gilt, sie jemandem anzuvertrauen. Egal wem. Mit der leergetrunkenen Dose im Arm - sie hat sie sich in die Armbeuge gelegt - hält sie Ausschau nach ihm. Wo ist er? Unter all den Menschen, die sich zu tausenden und abertausenden auf den Straßen gesammelt haben, ist keiner, den sie als ihn erkennt. Möglich, dass sie von ihm gestreift wurde, ohne es bemerkt zu haben. Die Vorstellung treibt ihr die Tränen in die Augen. Wir haben einander verpasst, stellt sie fest, und weil sie es zu spät feststellt? Zu spät, als dass sie es wiedergutmachen könnte? Die Tränen, die sie weint, kommen ihr dickflüssig vor. Ist das Milch - oder gar Blut? -, das ihr über die Wangen läuft? Schnell wischt sie sich mit dem Handrücken über das Gesicht. Dabei entgleitet ihr die Dose und schlägt mit einem kaum hörbaren Geräusch auf dem schmutzig-grauen Boden auf. Niemand bemerkt es. Zu dieser Stunde sammeln sich nicht nur die Menschen auf den Straßen. Auch der Müll sammelt sich auf ihnen. Tausende abertausende Zigarettenkippen zählt sie zu ihren Füßen und wieder tausende abertausende Menschen, die darüber hinweggehen und die mal hierhin, mal dorthin abzweigen. So wie sie sind sie aus ihren Häusern gekrochen. Und so wie sie haben sie ihre jeweiligen Wege vor sich. Glänzende Versprechungen sind es, um derer willen sie aufgebrochen sind. Die Nacht ist schließlich noch jung. Was wird sie zutage fördern? Die Frage versetzt sie augenblicklich in einen Zustand der Erregung. Die soeben erst geweinten Tränen sind fortgewischt, und wen auch immer sie verpasst hat - sie hat ihn verpasst. Es nützt nichts, ihm hinterherzutrauern. Mit frischem Schwung schreitet sie voran, der noch jungen Nacht entgegen. Klappt doch! Ihr Gang - sie setzt versuchsweise einen Fuß vor den anderen - hat nach wenigen Schritten sowohl an Kraft als auch an Geschmeidigkeit gewonnen, und sie muss nicht mehr nachdenken, wie das geht. Es geht einfach. Die Musik der Boyband pumpt sie vorwärts. Schon hat sie die Kreuzung überquert. Ihre Beine scheinen sich verselbstständigt zu haben. Weder gehören sie ihr, noch gehorchen sie ihr. Wie auf Schienen gleitet sie auf ihnen dahin und spürt den Wind in ihren Haaren.
Leute wie du sollten sich nicht fortpflanzen dürfen. Man sieht ja, was dabei herauskommt. Streunst herum, statt dich um dein Kind zu kümmern. Du bist das Letzte. Hörst du? Du bist nicht besser als der Müll, der sich auf den Straßen sammelt.
Der Wind in ihren Haaren ist die kalte Brise aus der Klimaanlage des Konbini, in dem sie sich eine geeiste Dose Chuhai - diesmal mit Zitronengeschmack - kauft. Einer ist noch drin, sagt sie sich mit einem Blick auf die Armbanduhr, deren Ziffernblatt vor ihren Augen schwimmt. Als ob es sich verflüssigt hätte, ragen aus dem zähen Brei, zu dem es geworden ist, bloß einzelne nichtssagende Ziffern heraus. Ist es schon zwei? Oder erst eins? Länger als bis drei Uhr ist sie bisher nicht fort gewesen. Das Kind hat einen ruhigen Schlaf. Es zahnt nicht, es neigt nicht zu Koliken, und für den Fall, dass es hungrig aufwachen sollte, hat sie ihm ein Fläschchen abgepumpter Muttermilch dagelassen. Viel war es nicht, was aus ihren entzündeten Brustwarzen getreten war, und in das Wenige hatten sich Blutschlieren gemischt. Träge waren sie zunächst an der Oberfläche hängen geblieben, dann - nachdem sie das Fläschchen kräftig durchgeschüttelt hatte - waren sie allerdings kaum von der mehr gelben als weißen Milch zu unterscheiden gewesen. Ob das Kind jetzt wohl daran nuckelt? Es kann zwar noch nicht gezielt nach etwas greifen, aber sie hat ihm das Fläschchen direkt vor den Mund gelegt, sodass es ihn nur öffnen muss, um den Sauger zwischen die Lippen zu kriegen. Damit das Fläschchen nicht davonkullert, hat sie es außerdem mit einem Handtuch beschwert. Bei der vagen Erinnerung daran - sie erinnert sich wie an eine weit zurückliegende Begebenheit - überkommt sie ein zärtliches Gefühl für das Kind. Einer Welle gleich schwappt es in ihr hoch, und sie ist überrascht, wie gewaltsam gerade die Zärtlichkeit ist, wie dunkel, wie rau. Vor Überraschung bleibt ihr der Atem weg. Die Welle ist über sie hinweggerollt, und sie hechtet ihr nach, durch die von Schmutz starrenden Straßen, wo überall Menschen sind, die sie nicht kennt. Sie glaubt sie zu kennen. Und in einen von ihnen ist sie sogar einmal verliebt gewesen. Aber das war dumm von ihr. Sie hätte es besser wissen müssen, als sich jemandem herzugeben, der sie wie Müll behandelte. Sobald ihr Zustand offensichtlich geworden war, hatte er sie samt Bauch und Kind weggeworfen. O, diese Einsamkeit! Sie ähnelt der Zärtlichkeit, die in ihr hochgeschwappt ist. Sie ist gewaltsam, dunkel und rau. Wieder blickt sie auf den zähen Brei an ihrem Handgelenk. Sie sollte allmählich nach Hause gehen, doch wo ist das? Zu Hause? Ihr kommt vor, am meisten ist sie hier - in dieser Einsamkeit - daheim.
Und wenn du dir Hilfe besorgst? So kannst du nicht weitermachen.
Einer ist noch drin, und es wäre rausgeschmissenes Geld, wenn sie die Dose nicht auch noch killen würde. Sie in der Armbeuge wiegend, fühlt sie sich gleichfalls gewiegt. Immerhin ist auch sie ein alleingelassenes Kind. Und wer kümmert sich um sie, wenn sie selbst es nicht tut? Aus einem Schaufenster starrt sie ihr Spiegelbild an. Voller Trotz und voller Selbstmitleid. Na, wie gefalle ich dir, scheint es sie zu fragen und nimmt eine herausfordernde Pose ein. Dabei schwankt sie. Oder ist das der Boden, der unter ihr schwankt? Um sich gerade zu halten, fixiert sie die Flecken auf ihrer Bluse. Sie haben sich ausgedehnt und bilden ein zusammenhangloses Muster, das je nach Schwankungsgrad wie die Spur eines verwundeten Tieres im Schnee oder einfach nur danach aussieht, was es ist: ausgeronnene Milch. Das Gewicht ihres Körpers. Er ist eine tonnenschwere Last, die...
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