Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Kapitel 2
Samstags beschloss ich, meinen Vater zu besuchen, der in Lannion ein Antiquitätengeschäft besitzt. Ich musste mit jemandem über diesen Brief sprechen, denn ich konnte seit Tagen an nichts anderes mehr denken, und mein Vater war der ideale Gesprächspartner. Soweit ich mich zurückerinnern konnte, war er immer mein engster Vertrauter gewesen, und wenn ich einen Rat brauchte oder mit jemandem sprechen wollte, wandte ich mich immer zuerst an ihn. Er und die Frauen aus dem Strick-Club standen mir am nächsten.
Gegen halb vier hatte ich endlich die noch ausstehenden Klassenarbeiten fertig korrigiert (meine ganz persönliche Version von Sisyphos' Schicksal); ich stieg in meinen roten Käfer und fuhr nach Lannion.
Etwa eine Viertelstunde später betrat ich sein Geschäft und wurde vom vertrauten, herrlich altmodischen Klingeln der Türglocke begrüßt, das mich in meine Kindheit zurückversetzte. Denn damals hatte ich fast alle meine Samstagnachmittage hier inmitten all dieser Gegenstände verbracht, die sein Lebensinhalt waren.
Langsam streifte ich durch die Gänge, die ich kannte wie meine Stricktasche. Aus dem Hinterzimmer hörte ich meinen Vater rufen: »Ich bin gleich bei Ihnen!«
»Eines Tages wirst du noch bestohlen, wenn du die Kunden so lange unbeaufsichtigt hier herumlaufen lässt«, sagte ich, als er einige Sekunden später aus seinem Versteck auftauchte, und küsste ihn liebevoll auf die Wangen.
»Meine liebste Tochter!«
»Papa, ich bin deine einzige Tochter.«
»Das heißt doch nicht, dass du nicht meine liebste Tochter sein kannst! Wie geht es dir?«
»Gut. Und dir?«
»Mehr als gut! Ich habe da gerade ein Kleinod hereinbekommen. Sieh dir das an .«
Er holte etwas hinter dem Verkaufstresen hervor und kam zu mir zurück. Das Kleinod war wirklich wunderschön. Eine Schmuckschatulle aus Mahagoniholz mit alter Patina, wahrscheinlich ausgehendes 19. Jahrhundert, sie hatte mehrere kleine Schubladen, darunter auch ein Geheimfach, das mein Vater mir stolz präsentierte.
»Die Geheimschublade habe ich ganz zufällig beim Reinigen der Schatulle entdeckt.«
»War was drin?«
»Nein, leider nicht.«
»Was meinst du, was früher darin gelegen haben mag? Liebesbriefe? Einkaufszettel?«
»Ein Lottozettel mit der Gewinnzahl, den die Eigentümerin darin versteckt hat, weil niemand merken sollte, dass sie bei solchen Spielen mitmachte, und der über Jahre vergessen wurde?«
»Und das Geld wurde nie abgeholt .«
»Was für eine Geschichte .«
Mit diesem Spiel hatten wir uns andauernd beschäftigt, mein Vater und ich, als ich noch ein kleines Mädchen gewesen war. Samstagnachmittags machte ich oft meine Schulaufgaben im Hinterzimmer und thronte dabei auf dem samtbezogenen Sessel meines Vaters. Ich fühlte mich sehr erwachsen und wichtig, wenn ich da an dem schwarzen Eichenschreibtisch saß. Ich erledigte die Aufgaben in Rekordzeit, weil ich möglichst schnell zu meinem Vater nach vorn in den Laden wollte, damit wir uns Geschichten erzählen konnten.
Mein Vater überprüfte streng meine Hefte, korrigierte die Übungen, ließ mich all meine Texte und Multiplikationstafeln aufsagen. Und dann, wenn ihn meine Arbeit wirklich zufriedengestellt hatte, suchte er einen Gegenstand in seinem Geschäft aus, und wir amüsierten uns stundenlang damit, gemeinsam die absurdesten, witzigsten, romantischsten und dramatischsten Geschichten zu erfinden. Und wer die Idee für die beste Geschichte hatte, durfte aussuchen, was es am Samstagabend zu essen gab. Was übrigens oft mein Vorrecht war . mir aber damals nicht zu denken gab.
Wenn ich heute an all diese Stunden zurückdenke, in denen wir uns die Geschichte von Gegenständen erzählten oder auf der Weltkarte den abenteuerlichen Wegen großer historischer Gestalten folgten, dann denke ich, dass es wahrscheinlich seinetwegen - oder vielmehr dank ihm - dazu gekommen ist, dass ich jetzt schreibe. Die Geschichten meines Vaters hatten meine Fantasie ebenso sehr oder sogar stärker gefördert als die Bücher, die er mir abends vorm Einschlafen vorlas. Ich liebte es, wenn er mir von großen Persönlichkeiten und unbekannten Menschen erzählte. Und noch heute kommt es vor, dass ich ihn um eine Geschichte bitte, einfach nur um des Vergnügens willen, noch einmal eine Zehnjährige zu sein.
»Wo wir gerade von Geschichten sprechen, wie geht es denn deinen?«, fragte mein Vater plötzlich, als wäre er dem Gang meiner Gedanken gefolgt. »Hast du dich endlich dazu durchringen können, sie einem Verlag zu zeigen?«
»Ach, Papa, du weißt doch, dass ich nicht schreibe, um zu veröffentlichen, sondern nur, weil es mir Spaß macht!«
»Na und? Was hindert dich daran, sie trotzdem an einen Verlag zu schicken?«
»Ich weiß nicht, Papa. Ich glaube, ich spiele in einer anderen Liga. Was ich schreibe, sind Amateurromane, nicht Sachen, die man herausbringt.«
Es war eine Diskussion, die wir schon hundert Mal geführt hatten, seit mich mein Vater eines Morgens dabei ertappt hatte, wie ich fieberhaft auf meine Tastatur einhämmerte, und ich ihm meine süße Sünde gestanden hatte. Ich hatte ihm zwar nicht alle meine Texte zu lesen gegeben (aus einem gewissen Schamgefühl heraus und auch weil ich eine ganze Reihe von Genres ausprobiert hatte), aber seither war er mein größter Fan und Unterstützer. Er und natürlich meine Strickfreundinnen.
Mein Vater antwortete nicht, aber ich wusste, dass er eine Meinung dazu hatte. Dieses Gespräch würden wir noch oft führen.
Er stellte die Schmuckschatulle zurück und sah mir fest in die Augen. »Also, sag, was führt dich her, Kleines?«
»Brauche ich etwa einen Grund, um meinen Vater zu besuchen?«
»Natürlich nicht, das weißt du doch.« Er schenkte mir einen väterlich liebevollen Blick. »Aber du vergisst, Flavie, dass ich dich besser kenne als jeder andere. Und ich weiß, dass du heute aus einem besonderen Grund gekommen bist.«
Er war unglaublich. Ich hatte ihm noch nie etwas verheimlichen können.
»Du hast recht«, seufzte ich. »Es gibt da etwas, das ich dir zeigen möchte.«
Ich zog den Brief aus meiner Handtasche. Damit er nicht verknitterte, hatte ich ihn in eine durchsichtige Plastikhülle geschoben. Ich hielt ihn meinem Vater hin, der sich zunächst die Lesebrille aufsetzte, den Brief von allen Seiten musterte und ihn dann schweigend las. Nachdem er fertig war, sah er mich mit einem seltsamen Funkeln in den Augen an.
Ich kannte dieses Funkeln. Ich hatte es selbst in den Augen, seit der Brief bei mir gelandet war.
»Was wirst du tun?«, fragte er mich.
Ich zögerte kurz.
»Was meinst du, sollte ich tun?«
»Ich an deiner Stelle . Ich glaube, ich würde versuchen, mehr herauszufinden. Aus Neugier.«
Ich lächelte, nicht im mindesten überrascht. Wie heißt es doch? Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm.
»Genau das habe ich beschlossen, stell dir mal vor!«
Jetzt war er es, der lächelte. »Und ich habe das keine Sekunde lang bezweifelt. Ich nehme an, du hast bereits eine Strategie ausgearbeitet.«
»Du kennst mich wirklich viel zu gut, Papa.«
»Ich bin jetzt schon seit fast neunundzwanzig Jahren dein Vater. Das könnte dabei geholfen haben.«
»Ja, das stimmt!«
»Also, erzähl mal.«
Und genau das tat ich.
Ich erzählte ihm alles. Alle Pläne, die ich entwickelt hatte. Alle Geschichten, die ich mir ausgedacht hatte.
Ich war wieder zehn Jahre alt, und gemeinsam stellten wir alle möglichen Hypothesen auf. Nur dass ich mich jetzt nicht damit begnügen würde zu reden. Jetzt würde die Historikerin in mir aus ihrem Dornröschenschlaf erwachen und aktiv die Vergangenheit erkunden.
Dieses Geheimnis würde ich lüften. So viel stand fest.
Ich verlor keine Zeit, sondern setzte den Plan, den mein Vater und ich gemeinsam aufgestellt hatten, sofort in die Tat um. Am Montagmorgen rief ich zwischen zwei Schulstunden in der neuen Grundschule an, um einen Termin mit dem Direktor zu vereinbaren.
In Anbetracht der dürftigen Informationen über den Verfasser des Briefs (er hatte nicht einmal mit seinem vollständigen Vornamen unterschrieben) hatte ich beschlossen, meine Recherchen bei Amélie und dem Haus des Direktors zu beginnen. Und wenn es jemanden gab, der mir dabei helfen konnte, Informationen über die Personen zu sammeln, die früher dort gelebt hatten, dann ja wohl der neue Direktor. Und selbst wenn nicht, hatte er sicher Zugang zum Archiv der Schule. Soweit es überhaupt Dokumente gab, natürlich.
Wie auch immer, irgendwo musste man anfangen, und die Schule schien mir der nächstliegende und einfachste Ausgangspunkt zu sein.
Zu meinem Pech konnte mich der Direktor erst am Abend des nächsten Tages empfangen. Ich würde bei unserem Clubabend fehlen müssen . Trotzdem sagte ich zu und schickte meinen Strickfreundinnen eine Entschuldigungsmail, in der ich versprach, ihnen baldmöglichst alles zu erklären.
Der derzeitige Direktor der Grundschule von Karouac war ein nicht unattraktiver, sportlicher Fünfunddreißigjähriger mit charmantem Lächeln. An einem Collège hätte er zweifelsohne beim weiblichen Geschlecht Furore gemacht, und zwar sowohl bei den Schülerinnen als auch bei den Lehrerinnen.
»Was kann ich für Sie tun, Madame Richalet«, fragte er mich, nachdem er mir die Hand gedrückt und mir einen Kaffee angeboten hatte, den ich höflich ablehnte.
»O bitte, nennen Sie mich Flavie! Madame Richalet sagen nur meine...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.