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Seltsam, fast bedrückend war es, auf das tote Haus zuzugehen. Ja, genau das war das Gefühl, das ihn beschlichen hatte, als er ein, zwei Wochen nach dem Tod seiner Mutter erstmals wieder hierhergekommen war. Das Haus war zwar voller Gerümpel, aber kalt und still. Es lebte nicht mehr.
Das Ausräumen würde wohl länger dauern, als er es sich vorgestellt hatte. Seine Frau hatte ohnehin gemeint, es wäre besser, eine Firma mit der Entrümpelung zu beauftragen. Er selbst hatte zunächst davon fantasiert, alles selbst zu machen, womöglich das Haus auch noch zu renovieren, bevor man es auf den Markt warf. Ein Kompromiss war herausgekommen - er hatte sich einen Monat ausbedungen, um aus- und aufzuräumen. Jetzt, nach einer Woche, war er noch nicht einmal mit den Fotoalben durch.
Er schloss die Tür auf und musste angesichts des Klingelschildes lächeln. "Edeltraud Niedermayr" stand drauf. Seine Mutter hatte zeit ihres Lebens darauf bestanden, dass Vornamen vollständig auszusprechen und auszuschreiben waren, Spitznamen oder Abkürzungen hatte sie nie geduldet. So war er also Siegfried gewesen, seine Schwester Ursula, der Papa - leider - Adolf und sie selbst eben Edeltraud. Papa und auch alle anderen Familienmitglieder hatten die Namen abgekürzt - Traudi, Adi, Sigi und Uschi - und das war ein ewiges Streitthema zwischen den Eltern gewesen.
Er stieg die Treppen nach oben. Im ersten Stock des alten Bauernhauses hatten die Großeltern gewohnt, Papas Eltern, im Erdgeschoß er selbst mit den Eltern und seiner jüngeren Schwester Uschi. Die zweite Treppe, aus Holz und reichlich abgetreten, führte in die Dachschräge, die als Kind sein Reich gewesen war. Heute würde man so einen Raum, in dem kaum Platz war, aufrecht zu stehen, keinem Kind mehr zumuten. Er aber war hier glücklich gewesen, sein eigenes Reich, zwei Treppen hoch über einer stets fordernden Mutter, die wenig Verständnis dafür gehabt hatte, dass man in einem Buch für Stunden versinken konnte und es absolut unmöglich war, zwischendurch einmal hinunterzukommen, um den Müll auszuleeren oder Eier aus dem Hühnerstall zu holen.
Das eiserne Stockbett stand noch in seiner Dachkammer, die Matratzen hatte wohl irgendjemand schon vor Jahrzehnten entsorgt. Von seinen Besitztümern war nichts mehr da, vieles hatte er in sein neues Zuhause mitgenommen, anderes war unwiederbringlich verschwunden, verloren gegangen. Er öffnete die knarrenden Türen des schmalen Schranks, der neben dem Bett noch Platz gefunden hatte, und traute seinen Augen nicht. Da lag ein alter Lego-Karton. Villa mit Sportwagen. Den hatte er irgendwann zu Weihnachten bekommen, das musste wohl in den späten sechziger Jahren gewesen sein. Er hob den verstaubten Karton auf, schüttelte ihn. Leer. Mit seinen Legosteinen war er nicht sonderlich sorgfältig umgegangen, meist hatte er sie beim Zerlegen eines Bauwerks unsortiert in eine alte Schuhschachtel geworfen. Es war nicht unwahrscheinlich, dass die Steine heute in einer Kiste seiner Kinder verstaubten, die auch längst nicht mehr mit Lego spielten.
Damals war ein solcher Bausatz ein Schatz gewesen. Seine Eltern hatten ihr Geld gut einteilen müssen, es war ihnen sicher nicht leichtgefallen, ihm diesen Wunsch zu erfüllen.
So etwa um halb neun am Heiligen Abend gelingt es mir, das Wohnzimmer mit meinen Geschenken unauffällig zu verlassen und in meine Dachschräge zu flüchten, nachdem ich die Platte mit den Weihnachtskeksen einer gründlichen Verkostung unterzogen habe. Papa ist mit seiner dritten Flasche Weihnachtsbock glücklich, Opa ist schon eingeschlafen und Mama und Oma sind mit Uschi beschäftigt, die getröstet werden muss, weil der neuen Puppe schon ein Arm abgefallen ist.
Der Lego-Bausatz mit der Villa mit Sportwagen ist leider allzu schnell aufgebaut. Nachdem ich den Wagen ein paarmal in die Garage und wieder herausgefahren habe, merke ich, dass das Haus doch recht klein ausgefallen ist. Eigentlich hätte ich für meinen Lego-Stadtplan ein größeres gebraucht. Aber vielleicht lässt sich das Gebäude ja mit meiner bestehenden Legosammlung erweitern.
Bevor ich aber den Lego-Stadtplan hervorhole, muss ich mir die drei Bücher anschauen, die ich noch bekommen habe. Das von Oma, sehe ich gleich, ist ein altes, gebrauchtes. Aber es ist in Leinen gebunden, noch gut erhalten und heißt "Huckleberry Finn". Ich bin ein wenig enttäuscht, denn "Tom Sawyer und Huckleberry Finn" ist an den Adventwochenenden schon in vier Teilen im Fernsehen gelaufen. Es war unglaublich spannend und ich kenne die Geschichte jetzt schon. Aber wer weiß, vielleicht steht im Buch mehr drin, als man im Film sehen konnte, das ist ja oft so. Zumindest war es bei den "Winnetou"Filmen so, die habe ich schon gesehen, und die haben fast gar nichts mit dem Buch zu tun gehabt. Im zweiten Packerl sind zwei neue Karl-May-Bände drinnen, "Im Lande des Mahdi I" und "Old Surehand III". Da werde ich mit dem "Old Surehand" anfangen, die Wildwestgeschichten sind mir lieber.
Kaum habe ich die erste Seite aufgeschlagen, ruft mich Mama. Ich weiß schon, sie duldet es nicht, dass man sich am Heiligen Abend zurückzieht und sich mit seinen eigenen Geschenken beschäftigt, da muss die Familie harmonisch miteinander feiern. Und damit es so richtig einträchtig und gemütlich wird, gibt es spätabends am Heiligen Abend immer noch ein paar belegte Brötchen. Denn wer isst, kann bekanntlich nicht streiten. "Du kannst mir gleich den Kren reiben für die Schinkenbrötchen!", empfängt mich Mama. Ich seufze zwar so laut und ausgiebig, dass sie es bestimmt nicht überhören kann, aber ich hole mir Kren und Reibe und beginne meine tränenreiche Arbeit.
An dieser Stelle muss man vielleicht erklären, dass wir keine normale Familie sind. In einer normalen Familie helfen die Mädchen in der Küche und die Buben gehen mit den Vätern und Opas auf den Fußballplatz oder an den Fischweiher. Das alles funktioniert bei uns nicht, denn Fußball und Fischen sind mir ein Gräuel, Papa hat es mit mir schon probiert, aber es hat nicht funktioniert. Dazu kommt, dass ich seit unserem Caorle-Urlaub im September meine Liebe zum Kochen entdeckt habe. Der Grund dafür war, dass ich in Italien zum ersten Mal in meinem Leben Pizza gegessen habe. Und weil es die bei uns nicht gibt, habe ich selbst eine gebacken. Sogar Papa hat sie gegessen. Die Liebe zum Essen, die war allerdings schon viel früher da, was man mir leider ansieht. Ich bin froh, dass wir in meiner Klasse wenigstens noch den dicken Holzinger haben, denn sonst wäre ich der Dickste von allen. Mir reicht die Brille, ich habe keinen Bedarf an weiteren Gründen, von den anderen ausgelacht zu werden.
Uschi ist für Hilfestellungen in der Küche überhaupt nicht zu gebrauchen, die kann man nicht einmal zum Umrühren einteilen, im Sommer hat sie sogar die Marillenmarmelade anbrennen lassen. Vielleicht probiert Papa es bei ihr einmal mit Fußball und Fischen, aber ich glaube nicht, dass er sich das traut. Die Stärke von Uschi liegt in der Musik, sie lernt Blockflöte, und ihre Lehrerin ist angeblich ganz hingerissen von ihrem Talent.
Seit bekannt geworden ist, dass ich koche und backe, hat Papa sich immer wieder darüber beschwert, dass ihm seine Freunde prophezeien, dass aus mir einmal ein warmer Bruder werden wird. Papa fürchtet das zwar auch, sagt dann aber immer zu seiner Verteidigung, "den geben wir in die Lehre zum Kirchenwirt, da kocht auch ein Mann, und das ist auch kein warmer Bruder". Aber so einer werde ich sowieso nicht, denn die Gehbauer Ulli, die in die zweite Klasse geht, die fährt immer im Zug mit mir nach Seeklausen ins Gymnasium. Und die Ulli hat schon einen Busen, ich glaube sogar, dass er von September bis Weihnachten um ein gutes Stück größer geworden ist. Immer, wenn ich die Ulli sehe, bekomme ich ein seltsames Gefühl und mir wird ganz warm. Bei meinem besten Freund dagegen, dem Herbert, bleibt dieses seltsame Gefühl völlig aus.
Den Herbert, den werde ich übrigens über die Weihnachtstage nicht oft sehen, denn der ist in den vergangenen Sommerferien plötzlich fromm geworden und hält sich am liebsten in der Kirche oder in der Sakristei auf. Ich glaube, der kommt aus seinem Ministrantengewand gar nicht mehr heraus. Einmal hat er mich mitgenommen, zum Ministranten-Schnuppern, und als wir in der Sakristei gestanden sind, da hat er die Luft tief eingesogen, laut "Ah!" gemacht und danach irgendwie entrückt gewirkt. Auf mich hat die Sakristei-Luft keine Wirkung gehabt, ich hab nur die muffigen Ministrantenkittel gerochen. Aber bitte, wenn ihn das euphorisch macht, soll es sein. In unserem Lexikon habe ich gelesen, dass Weihrauch beruhigend, aber auch anregend auf das Gehirn wirkt. Vielleicht ist es das, was den Herbert so entrückt gemacht hat. Aber in der Sakristei hat es eher nach Mottenpulver gerochen, ich muss einmal nachschauen, ob man davon auch rauschig werden kann.
Mama überlässt es mittlerweile auch gerne mir, den weißen Wecken...
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