Schweitzer Fachinformationen
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Mit einem knappen Kopfschütteln lehnte Caroline Hodgson die dargebotene Hand ihres Mannes ab. Stattdessen raffte sie ihren schmutzigen Rock und verließ das Schiff ohne Hilfe über die gefährlich schwankenden Planken. Auf dem Railway Pier angekommen, vermochte sich das Paar nur unter Einsatz seiner Ellbogen einen Weg durch das wirre Getümmel aus Mitreisenden, Dockarbeitern und Lastkränen zu bahnen, während ein heftiger Regensturm ihre Kleidung durchnässte und ein eisiger Wind ihnen das Haar ins Gesicht peitschte. Sie folgten den Trägern, die das Gepäck am Rand des Piers abstellten. Mit zitternder Hand fasste Caroline ihr Cape enger, während Stud ihre Koffer holte. Der Boden unter ihren Füßen schien noch immer zu schwanken, als sie endlich ein halbwegs trockenes Plätzchen unter dem Vordach eines Lagerschuppens gefunden hatten. Stud legte schützend einen Arm um die Schultern seiner vor Kälte schlotternden Frau. Caroline ließ es geschehen, doch ihr Oberkörper versteifte sich unter seiner Berührung. Schweigend stand sie am Rande des Hafentrubels und sah sich um: Am anderen Ende des Piers, nahe den Schienenwegen, kämpften sich Lasttiere durch knöcheltiefen Schlamm. Passanten bewegten sich mit äußerster Vorsicht über schmale Fußgängerbrücken, unter deren wackligen Bohlen ein Strom übelriechenden Abwassers hindurchfloss. Etwas oberhalb, halb versteckt zwischen dichten Wäldern, reihte sich Villa an Villa. Auf den Hügeln erhoben sich zahlreiche Kirchtürme, hohe Dächer zeugten von einem Reichtum an öffentlichen Gebäuden.
Das also ist Melbourne, dachte Caroline und stieß einen leisen Seufzer aus.
»Na, was sagst du, Liebes?«, fragte Stud, und die Begeisterung in seiner Stimme war nicht zu überhören. Er drückte seine Frau fester an sich. »Australia felix, ein Land wie gesponnen aus Gold und Wolle. Freust du dich auf unser neues Leben?«
Caroline nickte kaum merklich und bemühte sich um ein Lächeln. Während sie auf Studs Bruder John warteten, fragte sie sich im Stillen, wie dieses neue Leben am anderen Ende der Welt wohl aussehen mochte.
Ein verlockender Duft nach frischem Gebäck, der von der Keksfabrik Swallow & Ariel aus der nahe gelegenen Rouse Street herüberwehte, ließ die junge Frau für einen Moment genießerisch die Augen schließen. Das musste einfach ein verheißungsvolles Zeichen sein.
Ein halbzerlumpter Kerl stieß Stud an und ließ sie aufschrecken.
»Suchen Sie eine Unterkunft? Sechzig Schilling die Woche im herrlichen St. Kilda. Oder vierzig Schilling in East Melbourne, South Fitzroy und Carlton, wenn's etwas günstiger, aber sauber sein soll.«
Studholme schüttelte den Kopf. »Kein Interesse.«
Der Schlepper musterte das Paar von Kopf bis Fuß. Caroline sah beschämt zu Boden.
»Ah, ich verstehe. Wie wär's mit einer Unterkunft für Neuankömmlinge mit begrenzten Mitteln? In Collingwood, South Melbourne oder West Melbourne für nicht mehr als zwanzig Schilling. Ein besseres Angebot kriegen Sie nicht.« Unaufgefordert griff er nach einem der Koffer, die zwischen Caroline und Stud standen. »Kommen Sie, ich bringe Sie gleich hin.« Stud schlug ihm ungehalten auf die Hand.
»Was unterstehen Sie sich? Lassen Sie sofort mein Gepäck los, und machen Sie, dass Sie wegkommen! Wir werden abgeholt.«
Der junge Mann sah sich betont auffällig um. Ein breites Grinsen zeichnete sich auf seinem schmutzigen Gesicht ab. »Abgeholt? Soso. Wenn ich Sie wäre, würde ich nicht warten, bis meine Lady zum Eiszapfen gefroren ist.«
»Unverschämter Lümmel!«, rief Stud erbost aus und hob drohend die Faust, doch da war der junge Mann schon lachend davongelaufen.
»Ihr Pech, wenn Sie zu lange warten. Die billigen Häuser sind schnell weg«, rief er ihnen über die Schulter hinweg zu.
»Was bildet dieser Rüpel sich ein? Sehen wir etwa aus, als könnten wir uns kein ordentliches Gasthaus leisten?« Eine steile Zornesfalte bildete sich auf Studs Stirn.
»Ach, lass ihn doch reden, wie er will«, versuchte Caroline, ihn zu beschwichtigen. »Er ist doch nur ein armer Lump.« Unwillkürlich blickte sie erneut an sich hinunter. Hässliche Salzflecken und öliger Schmutz vom Schiff hatten ihre teuren Reisekleider vollkommen verdorben. In der feuchten Luft waren sie nie richtig trocken geworden, und nun rochen sie streng nach Moder und Essig, mit dem sie auf dem Schiff versucht hatte, die gröbsten Flecken zu entfernen. Der abschätzende Blick des armen Teufels und sein abwertendes Urteil über ihr Äußeres hatten sie tief getroffen. Aber sie sah tatsächlich kaum aus wie die Tochter eines Ehrenmannes aus Potsdam und schon gar nicht wie die Ehefrau eines englischen Landadligen.
Studholme George Hodgson war zweiunddreißig Jahre alt, elf Jahre älter als Caroline. Von mittelgroßer, schlanker Statur, mit hellem Teint, dunklem Haar und blassgrauen Augen, stammte er aus einer geachteten Soldatenfamilie; er war der älteste Sohn eines adligen Landbesitzers aus Hampshire. Seine schöne deutsche Frau mit ihrem hellblonden Haar und den wasserblauen Augen hatte er erst im Februar in London geheiratet. Keine drei Wochen später waren sie nach Melbourne aufgebrochen. In London und Hampshire grassierte seither das Gerücht, Studholme würde in den Kolonien von Geldsendungen aus der Heimat leben, er sei ein schwarzes Schaf, von seiner Familie zu einem neuen Leben überredet, indem man ihm für die Unannehmlichkeit der Übersiedlung einen moderaten Obolus in Aussicht stellte.
Mittlerweile hatten sie eine geschlagene Stunde im eisigen Wind ausgeharrt, doch John war nicht erschienen.
»Es muss ihm etwas dazwischengekommen sein«, verteidigte Stud seinen Bruder schwach.
Caroline zitterte am ganzen Leib, ihre Zähne klapperten. »Du hast doch seine Adresse. Lass uns eine Droschke nehmen und zu ihm fahren«, bat sie und warf ihrem Mann einen flehentlichen Blick zu. »Ich ertrage diese Kälte nicht länger.«
»Du hast recht, Liebes«, antwortete Stud und winkte einen der Jungen heran, die am Pier herumlümmelten. »Geh und hol uns einen Wagen!« Stud klimperte mit ein paar Münzen in seiner Hosentasche. Der Junge sprang auf und tat, wie ihm geheißen, kam dann gleich wieder zurück, um seine Belohnung in Empfang zu nehmen. Der Kutscher machte ein unzufriedenes Gesicht. Die Fahrt zur angegebenen Adresse war kurz, dafür gab es reichlich Gepäck zu verstauen. Missmutig lud er die Habseligkeiten der beiden auf, zurrte die Ladung fest und fuhr seine Fahrgäste auf einem längeren Umweg durch die Innenstadt zu Johns Haus, das zwischen Pier und Keksfabrik lag.
Haus und Garten war noch vage anzusehen, wie gepflegt sie einst gewesen sein mussten. Das schmiedeeiserne Tor stand offen und quietschte in den Angeln, als der starke Südwind es erfasste. Der Kies schien seit längerer Zeit nicht mehr gerecht worden zu sein. Unkraut wuchs auf dem schmalen Pfad, der zum Hauseingang führte. Die heruntergelassenen Jalousien verwandelten die Fenster des eigentlich schmucken Häuschens in leblose Augen.
Studs Klopfen blieb ohne Antwort. Er versuchte es ein zweites Mal, und endlich öffnete eine zierliche Frau die Tür. Stud erkannte seine Schwägerin kaum wieder. Die elegante und lebhafte junge Dame aus London war nur noch ein Schatten ihrer selbst. Ihr Haarknoten löste sich auf, das Kleid war schmutzig und zerknittert.
»Stud! Dich schickt der Himmel!«, rief sie aus und fiel ihm schluchzend um den Hals. Erschrocken von diesem unerwarteten Gefühlsausbruch trat Caroline einen Schritt zurück. Nach einer Weile befreite sich Stud aus der merkwürdigen Umarmung.
»Ja, habt ihr uns denn nicht erwartet? Ich dachte, du und John, ihr wolltet uns am Pier .« Weiter kam er nicht.
»Ach, John«, unterbrach ihn Liz, schlug sich die Hände vors Gesicht und fing an, hemmungslos zu weinen. Stud warf seiner Frau einen entschuldigenden Blick zu.
»Liz, das ist Caroline.« Er legte den Arm um seine Frau. Peinlich berührt standen sie da, bis Liz endlich die Hände senkte, um Caroline zu begrüßen.
»Caroline, ja. Ich habe schon so viel von dir gehört. Entschuldigt, ich .« Wieder fing sie an, erbärmlich zu schluchzen. Da fasste Stud seine Schwägerin bei den Schultern und drängte sie sacht in den Flur zurück.
»Gehen wir doch erst einmal hinein, und dann erzählst du uns in Ruhe, was los ist.« Liz ließ sich willig führen, noch im Flur brach aus ihr heraus, was sie in solchen Aufruhr versetzte. Ein hysterischer Unterton schwang in ihrer Stimme mit. Ihr Mann John, Studs Bruder, hatte sich seit gestern mit einem geladenen Revolver in seinem Büro eingeschlossen und drohte, sich oder jemand anderen zu erschießen, sollte man sich gewaltsam Zugang zu ihm verschaffen. Die Diener waren daraufhin in Panik aus dem Haus geflohen. Das Kindermädchen, das Liz vor einigen Stunden zum Einkaufen in die Stadt geschickt hatte, war seither nicht mehr zurückgekehrt.
Im gleichen Moment hörten sie die Kleinen schreien. Stud zögerte keine Sekunde. Er schob seine Schwägerin zur Seite.
»Mach uns etwas zu essen!«, befahl er brüsk.
»Ich sehe so lange nach Suzanne und Blair«, sagte Caroline sanft zu Liz und legte ihr beruhigend die Hand auf den Arm.
»Danke«, antwortete Liz gepresst.
Stud schritt den Flur entlang, bis er vor Johns Tür stand, und klopfte dreimal an, jedes Mal ein wenig lauter. Als sich drinnen noch immer nichts regte, hämmerte er mit der Faust gegen die Tür.
»John, ich bin's! Dein Bruder! Mach auf! Sofort!«
Ein Moment spannungsgeladener Stille folgte. Dann hörte er schwere Schritte, und die Tür flog auf. Studs Augen nahmen ein eingefallenes Gesicht wahr, das sich...
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