Schweitzer Fachinformationen
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Die alte Dame im Flugzeug starrte seit einigen Minuten regungslos aufs Meer hinab. Die See war spiegelglatt, nur weiter draußen, wo der Südpazifik vom Riff gebrochen wurde, sah sie, wie unzählige winzige Gischtkronen die Oberfläche der Korallenformation umtanzten. Obwohl nur eine laue Brise wehte, konnte sie Segelboote erkennen. Mindestens fünfzehn, schätzte sie. Ihre Mundwinkel verzogen sich zu einem Lächeln. An einem Tag wie diesem spielte es ja auch keine Rolle, wie lange die Segler von der Insel zum Festland unterwegs waren oder umgekehrt. So ein Segeltörn am Samstag, das war reiner Selbstzweck, recreation. Es dauerte eine Weile, bis ihr das deutsche Wort dafür einfiel: Freizeitaktivität.
Seltsam, dachte sie, im Englischen schwingt noch so viel mehr mit: recreation, das hieß auch »Wiederherstellung«, »Wiedererschaffung«.
Sie lehnte sich seufzend in den Ledersitz zurück. Mitte September, Frühling! Sie hätte sich keinen besseren Tag für ihr Vorhaben aussuchen können. Sie schloss die Augen. Durch das Surren des Propellers hindurch vernahm sie gestotterte Funkmeldungen, die immer mit einem Knarzen endeten. Ein Sonnenstrahl, der schräg ins Fenster fiel, ließ rote Lichter hinter ihren Lidern tanzen; wieder verfiel sie ins Dämmern.
»Miss, möchten Sie einmal einen Blick nach vorne werfen?«
Die ältere Dame setzte sich auf, fuhr sich über die Augenlider.
»Oh, sorry, Miss, ich wollte Sie nicht wecken!«
Der Pilot hob entschuldigend die Hand. Sie lachte.
»Schon gut, Craig! Ich bin ja nicht zum Schlafen hier. Was gibt's denn? Sind wir etwa schon da?«
Craig verneinte mit einer Bewegung seines kantigen Kinns.
»No, Ma'am, aber schauen Sie mal, Humpbacks! Eine Mutter mit Kalb, gleich da vorne, auf halb zwei!«
Die alte Frau zog sich in ihrem Sitz nach oben und reckte den Kopf. Sie war plötzlich aufgeregt wie ein Teenager, was in ihrem Alter natürlich lächerlich war. Sie musste über sich selbst lächeln. Die Tatsache, dass sie sich mit ihren achtundsiebzig Jahren noch so begeistern konnte, stimmte sie froh. Es war ein Geschenk. Solange noch dieser Funken in ihrem Herzen glühte, würde die alte Maschine hoffentlich noch weiter Tag für Tag zuverlässig anspringen.
Sie straffte ihren Rücken, um vollen Ausblick auf die Buckelwale zu haben. Mutter und Kalb tollten ausgelassen miteinander herum, klatschten mit den Schwanzflossen auf die Wasseroberfläche, die sich daraufhin hoch aufspritzend zerteilte. Ihr Spiel zog die Segelboote an, die sich allmählich in sicherem Abstand um die majestätischen Tiere gruppierten.
»Oh, Craig, das ist wundervoll! Danke, dass Sie mich geweckt haben! Ich kann mich gar nicht erinnern, wann ich das letzte Mal Wale gesehen habe.«
Craig drehte sich kurz zu ihr um.
»Na, an den Walen kann es jedenfalls nicht liegen, Ma'am. Die kommen jedes Jahr um diese Zeit zum Kalben in die Bucht.«
Die Frau nickte wissend und warf einen letzten Blick auf das Spektakel, bevor die Maschine abdrehte und Kurs aufs Riff nahm. In wenigen Minuten würden sie sich über Kap Bowling Green befinden, ihr Ziel lag irgendwo zwischen dem Kap und dem Broadhurst Riff.
»Ich kann Ihnen leider nicht genau sagen, wo das Wrack liegt, Ma'am. Besser, Sie werfen mal ein Auge aufs Wasser und halten Ausschau!«
Craig drehte an den Knöpfen über seinem Kopf und schaute dann konzentriert aufs Echolot.
Sie wusste nicht, wonach genau sie Ausschau halten sollte. Man hatte ihr gesagt, das Wrack läge so tief, dass es aus der Luft gar nicht zu sehen sei. Schließlich hatte sie für teures Geld Craig angeheuert! Sie schluckte einen Anflug von Verärgerung hinunter, atmete langsam aus, beruhigte sich, sah hinaus. Ihre dunklen Augen waren in den letzten Jahren ein wenig wässrig geworden, ihr Weiß durchzogen von einem spinnenfeinen Adernetz. Eine Brille hatte sie trotzdem nie gebraucht. Sie kniff die Lider zu einem Schlitz zusammen und scannte die hellere, silbrig blaue Oberfläche des Wassers, bis ihre Schläfen vor Anstrengung zu pulsieren begannen und sich ein stechender Schmerz hinter ihren Augen breitmachte. Sie kannte das schon; diese Kopfschmerzen überfielen sie mit hässlicher Regelmäßigkeit, seit sie denken konnte. Sie rieb sich kurz die pochenden Seiten, ohne dabei ihren Blick vom Wasser zu wenden. Sie musste weitermachen, das hatte sie der Schwester versprochen, sie war es ihr schuldig.
Und hatte sie es sich nicht auch selbst geschworen? Sie würde finden, wonach sie so lange gesucht hatte. Um der Schwester willen - und ja, auch um ihrer selbst willen. Sie brauchte einen Abschluss, brauchte Gewissheit. Schuld war eine Sache, die Fakten eine andere.
Der dumpfe Schmerz senkte sich nun tief hinter ihre Augenhöhlen. Sie zwang sich, ihrer Befindlichkeit keine weitere Beachtung zu schenken. Stattdessen griff ihre Hand nach der ledernen Tasche, die auf dem Nebensitz lag. Sie öffnete den Reißverschluss und zog einen weißen Briefumschlag aus dem Innenfach. »Für Maria«, las sie. Behutsam fingerte sie den Brief aus seiner Hülle und entfaltete vorsichtig den Briefbogen. Sie strich das Papier glatt und legte es auf die neueste Ausgabe der Women's Weekly, einer australischen Frauenzeitschrift.
Sie kannte die Zeilen des Briefes längst auswendig, es waren ihre eigenen Worte, die sie schon seit Jahrzehnten im Kopf immer wieder aufs Neue formulierte. Heute endlich hatte sie den Mut gefunden, sie aufzuschreiben, und nun las sie das Ende des Briefes ein letztes Mal, bevor sie ihn unterschreiben und zukleben würde:
Maria, ich weiß, dass Du dunkle Tage durchlebt hast. Die Mächte, die uns in diesem Leben zuweilen ergreifen und mit uns spielen wie der Wind mit einer Vogelfeder, sind viel zu oft jenseits unserer Kontrolle. Kriege, Stürme, Verfolgung - ich glaube, wir haben beide in unserem bescheidenen Leben mehr mit diesen Kräften zu tun gehabt, als uns lieb war. Ich denke oft an die schweren Stürme, die uns hier im tropischen Australien regelmäßig heimsuchen. Sie können fürchterlich wüten, Bäume entwurzeln und ganze Häuser zerstören. Sie können unser Leben völlig durcheinanderwirbeln, doch wenn ich heute auf die See schaue, sehe ich nur tiefblaues Wasser, so ruhend und friedvoll, als hätte es nie zuvor ein Unwetter gegeben.
Die Dame suchte jetzt nach ihrem Stift, um hinter dem letzten Satz ein Sternchen einzufügen. Dann drehte sie das Blatt um, zeichnete ein weiteres Sternchen und schrieb langsam wie ein Erstklässler, um die Vibrationen der Maschine aufzufangen:
Ich habe heute Wale gesehen. Sie kommen jedes Jahr zum Kalben in diese eine Bucht, ob es einen Sturm gegeben hat oder nicht. Es kümmert sie nicht, sie tun das, was ihnen die Natur eingegeben hat. Sie leben, das ist ihre Bestimmung.
Sie überlegte, ob sie das eben Geschriebene streichen sollte. Es las sich schwülstig, doch sie fand nach einiger Überlegung, dass sie an einem Punkt in ihrem Leben angelangt war, an dem sie sich gewisse Sentimentalitäten erlauben durfte. Zustimmend nickend, unterstrich sie sogar noch den letzten Satz. Dann drehte sie den Briefbogen wieder um, unterschrieb schnell, schob das Blatt in den Umschlag und klebte diesen zu, bevor sie es sich anders überlegen konnte. Sie steckte den Brief in die Tasche, deren Reißverschluss sie mit einem Ruck zuzog, und legte die Tasche unter den Sitz, gerade noch rechtzeitig, um Craigs Hinweis Aufmerksamkeit zu schenken.
»Ma'am, da, geradeaus, auf zwölf Uhr, sehen Sie das? Ich glaube, wir haben es gefunden.«
Sie versuchte, dem Zeigefinger des Piloten mit ihrem Blick zu folgen, doch die tiefstehende Sonne blendete sie; ihre Augen brauchten ein wenig Zeit, um sich an die auf der Wasseroberfläche grell flirrenden Reflexionen zu gewöhnen. Sie zwinkerte, schloss dann für den Bruchteil einer Sekunde die Lider, und als sie sie wieder öffnete, sah sie unter sich eine silbrig glänzende Verwerfung, die sich im Wasser immer wieder rasant wendete und blinkte wie eine hoch in den blauen Himmel geworfene Silbermünze.
»Ist sie das? Ist das die Yongala? Aber wieso bewegt sie sich?« Die alte Dame war sichtlich erregt, erhob sich, so gut es in der engen Maschine ging, aus ihrem Sitz, um eine bessere Sicht aufs Meer zu haben. Doch sie fiel wieder ins Leder zurück, was sie nicht daran hinderte, es erneut zu versuchen. Mit zittrigen Armen stützte sie sich auf den Armlehnen ab.
»Ich schätze, das sind Barrakudas, die nach Thunfischen Ausschau halten.« Craig pfiff durch die Zähne. »Oh, Mann, jede Menge Leben da unten.« Er bemerkte ihren fragenden Blick. »Ungewöhnlich viele und große Fische für eine Stelle im offenen Meer. Das heißt, dass es hier ein Korallenriff oder etwas Ähnliches geben muss, in dem all diese Fische leben. Auf meinen Karten ist aber keines verzeichnet, was bedeutet, dass es an dieser Stelle wahrscheinlich ein künstliches Riff gibt. Die Yongala zum Beispiel.«
»Die Yongala ein künstliches Riff? Was genau meinen Sie damit?« Sie hatte ihre Arme nun durchgedrückt und fühlte, dass sie sich in dieser halbwegs aufrechten, wenn auch instabilen Position eine Weile halten konnte.
»Das Schiff liegt schon seit über vierzig Jahren auf dem Meeresgrund. Wenn vom Wrack nach all den Jahren überhaupt noch etwas übrig sein sollte, dann sind das mit Sicherheit die Korallen, die auf ihm wuchern.«
Die alte Dame wusste, dass es genau so sein musste, dennoch öffnete sie erstaunt den Mund. Gewiss, es war unsinnig, doch wann immer sie an die Yongala dachte, sah sie im Geiste ein vollkommen intaktes Schiff vor sich, das sich auf dem weichen Meeresgrund nur von den Strapazen einer schweren...
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