Schweitzer Fachinformationen
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Es passierte 1984 während der Osterferien. Vanessa und ich fuhren zusammen auf eine Skifreizeit ins Salzkammergut. Ich war nicht unbedingt scharf darauf, die Ferien zusammen mit meiner jüngeren Schwester zu verbringen. Genau genommen, wehrte ich mich mit Händen und Füßen. Ich war sechzehn Jahre alt, frisch verliebt, und der Gedanke, meinen Freund vierzehn Tage nicht zu sehen, erschien mir unerträglich. Aber Vanessa hatte so lange herumgequengelt, bis mein Vater endlich zustimmte - natürlich nur unter der Voraussetzung, dass ich sie begleitete. Vanessa war erst im März vierzehn geworden. Sie litt unter ziemlich heftigen Asthmaattacken, und mein Vater wollte sich nicht darauf verlassen, dass die Betreuer auch wirklich kontrollierten, ob sie immer ihr Spray dabeihatte.
Als es mit dem Zug losgehen sollte, muss ich der übellaunigste Teenie gewesen sein, den man sich vorstellen konnte. Auf dem Bahnsteig wich ich dem Abschiedskuss meines Vaters aus und stieg ein, ohne ein Wort zu sagen. Ich hielt mir sogar die Ohren zu, um nicht hören zu müssen, was mir mein Vater noch hinterherrief. Im Abteil nahm ich meinen Rucksack ab, bugsierte ihn unter einigen Anstrengungen ins Gepäckfach und ließ mich auf meinen Sitz fallen. Verstohlen schaute ich durchs Fenster. Vater drückte Vanessa fest an sich und küsste sie auf die Stirn. Seit dem Tod unserer Mutter hing er noch mehr an uns als früher. Erst als die Trillerpfeife des Schaffners ertönte, löste er seine Umarmung und schob meine Schwester zur Wagentür. Dabei redete er ständig auf sie ein. Wahrscheinlich, um sie zu beruhigen.
Das dumpfe Geräusch sich schließender Türen ließ mich schlucken. Ich fühlte mich nun richtig mies, ohne ein Wort des Abschieds losgefahren zu sein.
Der Zug setzte sich mit einem Ruck in Bewegung. Vanessa trat in das Abteil. Mit dem Handrücken wischte sie sich die Tränen von der Wange. Ich verkniff mir die Frage, weshalb sie rumheulte, obwohl sie es doch war, die unbedingt an dieser dämlichen Skifreizeit teilnehmen wollte.
Ohne den Rucksack abzunehmen, setzte sich Vanessa mir gegenüber, und wir blickten beide aus dem Fenster. Vater lief neben uns her, klopfte zum Abschied an die Scheibe und blieb erst stehen, als der Zug an Fahrt aufnahm. Während Vanessa ihm mit beiden Händen zuwinkte, hob ich nur kurz die Hand zum Gruß.
Die Abteiltür wurde aufgerissen, und zwei schwatzende Mädchen gesellten sich zu uns. Vanessa kannte beide vom Kinderchor und wurde gleich kreischend begrüßt.
Ich schloss kurz die Augen und lehnte mich tief in meinen Sitz zurück. Das konnte ja heiter werden. Immerhin würde Vanessa nicht ständig an meinem Rockzipfel hängen. Ich griff nach dem Walkman in meiner Parkatasche und drückte auf die Playtaste. Ein mixed tape, das Thomas extra für mich aufgenommen hatte. Ich wollte mich gerade meinem Herzschmerz hingeben, als mir jemand den Kopfhörer wegriss. Ich sah auf und traute meinen Augen nicht. Es war Thomas. Um mich zu überraschen, hatte er sich hinter meinem Rücken ebenfalls zur Skifreizeit angemeldet. Er zog mich fest an sich, und wir küssten uns leidenschaftlich. Meine Schwester und ihre Freundinnen verstummten augenblicklich und starrten uns neugierig an. Sollten sie doch glotzen! Vierzehn Tage mit Thomas, Tag und Nacht! Die vermeintlich trübseligsten Osterferien ever würden die beste Zeit meines Lebens werden.
Jedenfalls dachte ich das damals.
Am dritten Tag nach unserer Ankunft im Jugendgästehaus unternahmen wir neben den Abfahrten einen »Fitnessausflug«, wie unser Gruppenleiter die anstrengende Wanderung zum Sarstein nannte. Als Nächstes stand der über 2000 m hohe Krippenstein, zu dem auch eine Seilbahn hochfuhr, auf unserem Plan. Am folgenden Morgen sollte es losgehen.
Nach dem Aufstehen verriet mir ein Blick aus dem Fenster, dass es über Nacht geschneit hatte. Beim Frühstück kam es zu einem überraschenden Streit zwischen dem Herbergsvater und unserem Gruppenleiter Peter Langen, der an jenem Morgen zufällig mit Thomas und mir am Tisch saß.
»Ich an Ihrer Stelle würde mir die Tour gut überlegen. Zu viel Schnee. Überhaupt kann das Wetter im April rasch umschlagen«, warnte der Herbergsvater und hob mahnend den Zeigefinger. Langen bügelte ihn daraufhin ziemlich unwirsch ab.
»Mischen Sie sich nicht in meine Angelegenheiten!«, brummte er misslaunig.
Es war Gründonnerstag, der 19. April. Kurz nach sieben Uhr marschierten wir los. Wir verließen das Gästehaus, eingemummt in Nylon-Winterjacken, Skihosen und Wanderschuhen. Von Natur aus um einiges dünner als ich, fror Vanessa leicht. Auf meine Bitte hin hatte sie daher noch schnell ein zweites Paar Strümpfe angezogen. Ich gab ihr meinen Lippenbalsam, und sie trug ihn dick auf.
Der Schnee lag hoch. Unser Weg begann östlich der Herberge und schlängelte sich dann zwischen den Bäumen hindurch aufwärts Richtung Berg. Schon bald versanken unsere Stiefel im Neuschnee. Wir stapften langsam, doch stetig voran. Unser Atem kondensierte zu dampfenden Wölkchen. Der Schnee hatte sich in Regen verwandelt. Trotzdem ließ mich Thomas, der noch nie in den Bergen gewesen war, unser unwirtliches Wanderziel mit anderen Augen sehen. Im Gegensatz zu mir störte ihn der zunehmend peitschende Regen überhaupt nicht.
»Magisch«, sagte er mehrmals wie zu sich selbst, den Blick fest auf den Berg geheftet. Er drückte meine Hand.
Gegen halb zehn Uhr erreichte unsere Gruppe die Schönbergalm, die Mittelstation zwischen Sektion I und II der Krippensteinseilbahn. Unsere Jacken waren mittlerweile völlig durchnässt. Langen saß mit den Betreuern zusammen, und gemeinsam berieten sie die Lage. Die beiden jungen Männer hörten ihm aufmerksam zu und nickten. Die Hüttenwirtin brachte uns Tee. Als sie erfuhr, dass wir noch weitergehen wollten, schlug sie die Hände über dem Kopf zusammen und beschwor uns, mit der Seilbahn ins Tal zurückzufahren. Wir Älteren lachten. Die rundliche Frau wirkte in ihrer Dramatik wie eine Laiendarstellerin aus dem Volkstheater.
»Euch kleben ja die nassen Kleider am Leib«, rief sie noch aus.
»Dann müssen sie sich eben warm laufen«, antwortete Langen arrogant und gab das Zeichen zum Aufbruch. Wenige Minuten später marschierten wir weiter.
Plötzlich stieg dichter Nebel auf, und keine zehn Minuten später verwandelte sich der Regen wieder in dichtes Schneegestöber. Man konnte kaum fünfzig Meter weit sehen. Zwei Arbeiter der Materialseilbahn, die von ihrem Baustellenstützpunkt zurückkehrten, begegneten uns. Sie sprachen einen unserer Betreuer an: »Kehren Sie bloß um! Da zieht ein Unwetter auf! Wir fahren auch zurück ins Tal.« Doch Langen entschied sich für den Weitermarsch. Einer der Betreuer trat neben ihn.
»Vielleicht ist es doch besser, wenn wir umkehren. Das Wetter .« Doch Langen ließ ihn gar nicht erst ausreden.
»Wir haben einen Kompass«, unterbrach er den Jüngeren, »und ich kenne die Wettervorhersage.« Er zeigte auf eine im Wind schwankende Gondel, die an uns vorbeifuhr. »Die Seilbahn fährt ja auch noch rauf. So schlimm wird es also nicht sein«, erklärte er fast fröhlich, und die Gruppe setzte ihren Weg fort.
»Die fährt bei diesem Wetter garantiert nicht mehr lange«, riefen uns die Arbeiter hinterher.
Es lag sicherlich nicht nur an der Kälte, dass mir ein Schauder über den Rücken lief. Zum dritten Mal hatte man uns jetzt gewarnt.
Oben am Dachstein wütete bereits der Schneesturm, aber das wussten wir nicht. Die hohen Felswände, die das Tal umrahmten, waren nie ganz außer Sicht und gaben uns das Gefühl, zu wissen, wo wir uns befanden.
Der im Neuschnee nur schwer erkennbare Pfad führte nun einen steileren Hang hinauf, und wir mussten aufpassen, wohin wir traten. Der Wald war lichter geworden. Ich bemerkte, wie Vanessa, die mit ihren Freundinnen vor mir herging, in der eisigen Zugluft schlotterte, doch sie beschwerte sich nicht. Die Mädchen schnatterten längst nicht mehr. Jede hielt, so gut es ging, ihren hochgestellten Jackenkragen zu, und schweigend stiegen sie hintereinander den schmaler werdenden Pfad hinauf. Ich drehte mich um, weil ich sehen wollte, ob noch jemand hinter uns ging, war aber nicht sonderlich überrascht, die Letzte der Gruppe zu sein. Thomas und ich waren immer...
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