Schweitzer Fachinformationen
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Quentin
Ich lehnte mich gegen die Scheibe meines Fensters. Des einzigen Fensters in meiner Wohnung. Es brachte kaum Abkühlung. Denn genau heute musste sich Glasgow dazu entscheiden, uns einen sonnigen, schottischen Tag zu bescheren. Hallo, aufgeheiztes Fenster, bye, Kühle. Okay, das Wetter entschied nicht die Stadt selbst, aber wer interessierte sich schon für Meteorologie? Ich wollte jetzt auf sie sauer sein - die Stadt -, also war ich das auch.
Der feuchte Lappen, den ich mir in den Nacken gedrückt hatte, fühlte sich auch nicht mehr kalt, sondern wie ein lauwarmer Brei an. Danke, Glasgow, dass du heute nicht mal kalt bleiben konntest.
Wieder huschten meine Augen zum Zeitungsartikel vor mir auf dem breiten Fensterbrett.
Verschwommen. Scharf. Verschwommen. Scharf.
Die Buchstaben vermengten sich zu einer tintenschwarzen Schlange. Eine Sekunde später brannten sie sich wieder glasklar in meinen Kopf. Dort hinterließen sie einen Abdruck für die Ewigkeit.
Wieder änderte sich nichts an dem Bericht. Ich überflog ihn täglich, um meinem Gehirn zu sagen: »Du hast dich nicht geirrt. Es ist kein schlechter, extrem makabrer Scherz. Keine Verwechslung.« Trotzdem konnte ich es noch nicht begreifen. Nicht nach der Beerdigung. Nicht nach den Zeitungsartikeln.
Professor Francesco Romeo Segreto war gestorben.
Ich blinzelte mich aus der Todesanzeige meines Professors und legte sie weg, weil mal wieder ein Kopfwehstich durch meinen Nacken hoch in meine Schläfen wanderte.
Beste Idee meines Lebens, mich am Vorabend des einzigen Tages in der Woche, an dem ich nicht zu einem meiner Jobs musste, bis zur Oberkante volllaufen zu lassen. Jetzt konnte ich die freie Zeit weder für meine Uni-Arbeiten nutzen noch mich entspannen. Die Zeit verrann mir zwischen den Fingern, die selbst jetzt noch nach Alkohol rochen, und ich fühlte mich gefangen in einem stickigen Raum, der mein drückendes Unbehagen widerspiegelte.
Das Dröhnen meines Laptops zog meine Aufmerksamkeit auf sich, als sich aus irgendeinem Grund der Bildschirm aus dem Ruhemodus einschaltete. Die Lüftung klang, als lüde ich sämtliche geheime Staatsakten jedes Landes der Welt herunter. Oder als öffnete ich gleichzeitig alle Websites meiner Favoritenliste. In meinem Kopf pochten die passenden mahnenden Worte im Rhythmus des blinkenden Cursors: »Schreib. Endlich. Du. Hast. Kein. Geld. Und. Musst. Das. Studium. Beenden. Damit. Du. Dir. Einen. Richtigen. Job. Suchen. Kannst.« Oh, eines fehlte noch. »Du. Esel.«
Daneben stapelte sich der Berg von Mahnungen und Rechnungen wie in einem RomCom-Film, in dem die Protagonistin Geldsorgen hatte. Ich hoffte, bald käme mein unmoralisches Angebot, das ich annehmen musste, um sie zu bezahlen - die vielen Stunden, die ich mit Nebenjobs verbrachte, reichten jedenfalls nicht dafür. In den letzten Wochen hatte ich öfter eine Ärztin aufgesucht, die schon nur noch darauf wartete, dass ich zusammenbrach. Studium, lernen, an der Kasse stehen, Regale einräumen (nicht im selben Laden), Nachhilfe, bei einem Blumenladen aushelfen . Burn-out, hm, ja, ich lief direkt in seine Arme. Ich sollte ihm einen Namen geben. Vielleicht Donald? Donald van Burn-out. Mein Kopf sprang von einem Gedanken zum nächsten, so viel Chaos herrschte in ihm.
Wieder ging ein Stich durch meinen Kopf. Warum müssen Köpfe so wehtun, wenn wir Alkohol trinken? Wieso hatte ich nicht genug Wasser getrunken vorm Schlafengehen? Weshalb hatte ich mich überhaupt mit diesem Dings . äh, Typen da getroffen? Letzteres verdiente es, dass ich meinen Kopf ein wenig von der Fensterscheibe hob und ihn wieder dagegenknallen ließ.
»Aua!«
Mein Blick fiel wieder auf den Zeitungsartikel.
Segreto war nicht mehr da. Segreto, der mir trotz allem nie angeboten hatte, ihn beim Vornamen zu nennen. Aber irgendwie klang es auch edler, ihn Segreto zu nennen. Niemand war mehr da. Als Vollwaise hatte ich irgendwann begonnen, mein Herz zu verschließen, und vor Professor Segreto war ich der Meinung gewesen, mich an mein Vorhaben halten zu können.
Quentins Herz ? Ort für Liebe.
Aber Segreto . Segreto hatte diesen Strich durch das Gleichzeichen wegradiert. Okay, das klang, als wäre da was gelaufen. Das ist es nicht. Er hatte mich in seinen Vorlesungen entdeckt, mein Gespür oder meinen Hang oder - ach, keine Ahnung, was das passende Wort dafür war. Segreto. Der hätte das passende Wort gefunden. Vielleicht . Hingabe! Ja. Hingabe war gut. Der meine Hingabe zur Geschichte entdeckt und gefördert hatte. Wir teilten diese Leidenschaft zur Geschichte sowie Philosophie, und er war zu . Ja, was? War es vermessen zu sagen, er war zu einer Vaterfigur geworden? Ohne Vaterkomplex oder Liebelei mit einem älteren Professor. Ich wusste ja nicht einmal, was ein Vater war. So auf der emotionalen Ebene. Aber er kam meiner Vorstellung eines Dads nahe.
Ich überflog den Artikel erneut und blieb wieder bei Segretos Sohn hängen. Mein erster Gedanke? Ob Segreto mich oder seinen Sohn lieber mochte. Unangebracht und absurd. Selbstverständlich mochte er seinen Sohn lieber als mich. Ob er mich mal erwähnt hatte?
Wie sein Sohn wohl aussah? Okay, Schluss. Der One-Night-Stand-Fehler von gestern reichte für die nächsten Jahrhunderte. Was war denn aus meinem Schwur geworden: Keinen Sex mehr, nur um mein Selbstwertgefühl zu steigern? Natürlich schon, wenn ich es wollte und darauf Lust hatte, aber nicht mehr lediglich aus dem Grund, weil ich dachte, wenn ich mit diesem beliebten Typen Sex hätte, würde das auch mich besser machen. Ich wusste doch eigentlich, dass es nicht langfristig half. Sucht war nie ein Hilfsmittel. Hatte die Geschichte etwa jemals etwas anderes erzählt? Nope. Ich würde ja einen tollen Historiker abgeben.
Nein, keine Selbstwert-pushenden Dates mehr mit irgendwelchen heißen Typen in creepy Hinterzimmern, bei denen ich mich hinterher besser an die schmierigen Vorhänge erinnerte als an den Namen meines Lovers. Und schon gar keine mit dem Sohn meines verstorbenen Doktorvaters. Auch nicht als Fantasie.
Ich konnte die Einsamkeit in meinem Herzen nicht füllen, indem ich, na ja, andere Stellen in meinem Körper oder die Körper anderer füllte.
Mein Handy vibrierte neben mir auf dem Fenstersims. »Oh, danke. Ablenkung, das brauche ich jetzt.« Weg mit den Gedanken an Danielos - ah, das war sein Name gewesen! - verschwitzten Schoß und seinen etwas zu festen Biss in mein Ohrläppchen.
Erleichtert entsperrte ich mein Handy. Was nicht so einfach war. Mein Handy hatte die besten Jahre längst hinter sich. Ich durfte so gut wie keine Bilder oder andere Daten in meinem Speicher mehr haben, damit es nicht heiß lief. Wenn ich meine Geschichtsvideos machte . Nun ja, sagen wir so: Es war gefährlich.
Toll.
Spam-Mail.
Haben Sie Probleme, Sexpartner in Ihrer Umgebung zu finden? Dann .
»Nein!«, schrie ich meinem Handy entgegen - da entdeckte ich darunter eine Mail von gestern Abend. Die hatte ich ja gar nicht geöffnet.
Die Uni?
Lieber Mister Wallace,
wir alle trauern noch. Der Verlust unseres sehr geehrten, überaus geschätzten Professors Francesco Romeo Segreto, der die Universität Glasgow nicht nur bereichert hat, sondern ihr .
Blablablabla. War das eine Rundmail an alle? Ich konnte gerade einfach nichts von Segreto lesen. Es schmerzte zu sehr. Vor allem, wenn es sich nur um leere Worthülsen handelte. Selbst auf der Beerdigung hatte nur ein Pressesprecher der Universität gesprochen und dabei kein einziges Wort darüber verloren, wie und wer Segreto wirklich gewesen war. War sein Sohn überhaupt da gewesen? Ich konnte es gar nicht sagen, so sehr hatte ich neben mir gestanden.
Da ich mich lieber über Rundmails als über mich ärgerte, las ich weiter. Der Text ging generisch weiter. Dann noch Aufzählungen seiner wichtigsten Publikationen und . Moment, was war das? Mit dem Rücken meines Zeigefingers schob ich meine Brille hoch.
Deshalb melden wir uns heute bei Ihnen, Mister Quentin Wallace, um Sie darüber zu informieren, dass Sie eingeladen wurden, einer Testamentsverlesung mit dem Anwalt der Familie Segreto, Doktor Sharma, beizuwohnen. Diese findet, wie von Professor Segreto gewünscht, für alle Studierenden in der Universitätsbibliothek statt. Wo genau, finden Sie im Anhang.
Das fand ich eine nette Geste. Sie wollten wohl für die Transparenz öffentlich verkünden, wofür die Gelder von Segreto verwendet werden sollten. Es freute mich, dass ich als einer von Segretos Top-Studenten eine persönliche Einladung bekommen hatte, um mir das anzuhören. Ich strich über seinen Namen in der Mail, und der Bildschirm dankte es mir mit einem Hochscrollen bis zum Anfang. Seufzend wischte ich mich wieder nach unten.
Wie Sie sicherlich wissen, hat Professor Segreto sein Leben der Universität und der Geschichte gewidmet. Deshalb wollte er auch nach seinem Tod sichergehen, dass Menschen mit seiner Leidenschaft die Welt da draußen nicht vergessen lassen, dass .
». die Geschichte sich so oft in unserem Leben wiederholt und wir, statt ständig weiterzuwachsen, oft Rückschritte machen«, ergänzte ich den ikonischen Ausspruch wie automatisch. Ich hatte ihn so oft von meinem ehemaligen Professor gehört, dass ich gar nicht anders konnte. Wobei Segreto das nie als gegebenen Fakt sah. Für ihn war es eher eine Mahnung. Dass die Geschichte sich wiederholte, wenn wir als Menschen das nicht einsahen und uns änderten. Geschichte müsste sich...
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