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KERSTIN PUTZ
Drei Briefe aus dem Nachlass von Günther Anders
Der 6. August 1945, der Tag des ersten US-amerikanischen Atombombenabwurfs auf Japan, gilt Günther Anders als unwiderrufliche «kopernikanische Drehung» im Zeitregime der Moderne.[1] Das monströse, schier unfassbare Ereignis von Hiroshima habe die Menschheit im Kern erschüttert: Aus ihrem zukunftszugewandten Zustand des «Noch-nicht» sei sie in ein «Nicht-mehr» eingetreten, das sie mit dem konfrontiere, was sie nicht nachvollziehen könne: mit der nuklearen Apokalypse als der Möglichkeit des Endes der Geschichte. Für den jüdischen Philosophen und Schriftsteller Anders verdrängt die Denkfigur der Apokalypse jenen Fortschrittsoptimismus, mit dem sich noch für frühere Generationen die Zukunft antizipieren ließ. Seine kompromisslose Absage an ein «Prinzip Hoffnung» macht Anders zu einem Moralisten, der unaufhörlich davor warnen wird, sich der Illusion hinzugeben, wir lebten in einer «stabilen Welt».[2]
Abb. 1 Günther Anders auf dem Weg nach Hiroshima, 1958.
Nach der «moralischen Apokalypse» der Vernichtungslager der Nationalsozialisten, die laut Anders der Maxime folgte, dass alle Menschen «tötbar» seien, sei mit dem «Totalgerät» Atombombe die Apokalypse im «wörtlichsten Sinn» möglich geworden. Obgleich das Monströse gegeneinander abzuwägen für sich genommen unerträglich scheint, besteht für Anders zwischen Auschwitz und Hiroshima eine Differenz: Auschwitz sei «moralisch ungleich entsetzlicher», Hiroshima indes «ungleich schlimmer» gewesen, da es offenbart habe, dass die Menschheit als ganze, als Gattung vernichtbar sei.[3] Der Horror der Ereignisse kulminiert für Anders schließlich im «monströsesten Datum», dem 8. August 1945. An diesem Tag wurde – zwei Tage nach dem Atombombenabwurf auf Hiroshima und einen Tag vor jenem auf Nagasaki – in Nürnberg die Charta des Internationalen Militärtribunals unterzeichnet, die die «Verbrechen gegen die Menschlichkeit» der Nazis erstmals juristisch als solche kodifizierte und das Gericht mit ihrer Untersuchung beauftragte.[4] Dass die US-Amerikaner die NS-Verbrechen anklagten und zur gleichen Zeit selbst ein beispielloses Verbrechen begingen, stellt für Anders eine ungeheuerliche historische Konstellation dar.
Als Anders 1950 aus dem amerikanischen Exil nach Europa zurückkehrt und sich in Wien niederlässt, ist der Stupor, in den ihn die Gräuel der NS-Vernichtungslager und der Atombombenabwürfe versetzt haben, noch nicht überwunden. 1956 schließlich wird er den ersten Band seiner Antiquiertheit des Menschen veröffentlichen. Darin problematisiert er mit dem Essay Über die Bombe und die Wurzeln unserer Apokalypse-Blindheit die Möglichkeitsbedingungen einer Ethik angesichts jener Technokratie, die eine Welt ohne Menschen möglich gemacht hat.[5] In seinem Brief an den französischen Philosophen Gabriel Marcel, der seinerseits eine Besprechung von Anders’ Essay plante, skizziert er noch einmal die Konturen dieser notwendig gewordenen neuen Ethik. Erforderlich sei eine Moral mit zeitlichem Index, die der Tatsache Rechnung trage, dass unsere Zukunfts- und Fortschrittsversessenheit historisch widerlegt sei. Jene «Zeit-Attitüde», wonach Geschichte einzig als endloser, ewiger Progress gedacht und vorgestellt werde, sei ein für alle Male ad acta zu legen.
Abb. 2 Die ganze Erde als Laboratorium. Hannah Arendt an Günther Anders, New York, 9. Januar 1957.
Auch hier scheut sich Anders nicht, einen zugespitzten, radikal pessimistischen Tonfall anzuschlagen. Dem maßlosen, weil alle menschlichen Maßstäbe übersteigenden Thema der atomaren Drohung könne man nur mit einer Schreibweise beikommen, die die Übertreibung zur Methode, die Zuspitzung zum rhetorischen Mittel erkläre. Der Glaube an einen Automatismus des Fortschritts, jene Zuversicht ganzer Generationen, die sich – wie Anders noch in Amerika formulierte – auf einer «immer höher führenden und nie endenden Rolltreppe des Fortschritts»[6] wähnten, habe die Menschen «apokalypse-blind» gemacht. Man müsse daher versuchen, den Zeitgenossen die Augen zu öffnen, ihnen «den Star zu stechen», wie Anders im Brief an Marcel 1957 formuliert. Dazu geeignet ist nur eine engagierte Philosophie, die sich den Forderungen des Tages, dem Weltgeschehen stellt. Statt universitärer Experten muss die Philosophie eine breite Öffentlichkeit erreichen, wozu wiederum ein Stil jenseits der Fachterminologien unerlässlich ist.
Dass Anders dem akademischen Jargon zugunsten einer eindringlichen, bildhaften Sprache abschwor, betont auch Hannah Arendt in ihrer Reaktion auf den ersten Band der Antiquiertheit des Menschen. Zwanzig Jahre nach dem Ende ihrer gemeinsamen Ehe, die 1937 brieflich zwischen New York und Paris geschieden wurde, schreibt Arendt Anders im Januar 1957 einen geradezu euphorischen Brief. Darin hebt sie besonders Anders’ These hervor, wonach die Atombombe die kategoriale Unterscheidung zwischen Experiment und Ernstfall obsolet gemacht habe, da sich die nukleare Drohung nicht auf wissenschaftliche Labore begrenzen lasse und daher die Welt als gesamte zum Experimentierfeld der nuklearen Technik geworden sei. Auch in ihrer 1958 zunächst im amerikanischen Original veröffentlichten Studie über die Human Condition, deutsch unter dem Titel Vita activa erschienen, wird Hannah Arendt genau auf diesen Punkt der Anders’schen Argumentation hinweisen.[7]
Im Sommer 1958 reist Günther Anders nach Japan, um am IV. Internationalen Kongress gegen Atom- und Wasserstoffbomben und für Abrüstung in Tokyo teilzunehmen und dort seinen «Moralkodex für das Atomzeitalter» zu präsentieren. Diese Reise, die ihn auch zu den Gedenkstätten von Hiroshima und Nagasaki führt, flankiert seine theoretischen Überlegungen zur Atomfrage mit konkreter Erfahrung. Kurz darauf wird auch sein Japan-Tagebuch Der Mann auf der Brücke erscheinen.[8] Seine Tagebuchaufzeichnungen versteht Anders als essayistische Reflexionen, als Warnbilder, die das historische Geschehen nicht bewahren oder gar erretten, sondern im Gegenteil geradezu ungeschehen machen, ja «fortbeschwören» sollen.[9]
Die Veröffentlichung seines Japan-Journals kündigt Anders auch Jean-Paul Sartre in seinem Brief vom 8. Juni 1959 an. Anlass dieses Schreibens ist allerdings eine andere Publikationssache: Anders schickt Sartre als Beilage eine Kopie seines Briefes an den US-amerikanischen Hiroshima-Piloten Claude Eatherly, ein Dokument, das er gerne in Sartres Zeitschrift Les Temps Modernes abgedruckt sehen würde. Dazu kommt es zwar nicht, doch Anders’ Korrespondenz mit Eatherly erreicht auch ohne Sartres Zutun eine breite Leserschaft. 1961 erscheint der gesamte Briefwechsel unter dem Titel Off limits für das Gewissen und wird, eingeleitet von Bertrand Russell und Robert Jungk, ein kleiner Bestseller der Anti-Atombewegung. Bereits 1962 wird der Band in französischer Übersetzung aufgelegt und vom Verlag auch mit einem Inserat in den Temps Modernes beworben: «Un document bouleversant», ein erschütterndes Dokument, lautet die dazugehörige Werbeschlagzeile.[10]
Lieutenant Claude Eatherly, der das Zeichen zum Abwurf der Bombe auf Hiroshima gegeben hat, verkörpert für Anders – in Anlehnung an Arendts Formulierung von der «Banalität des Bösen» – die «Unschuld des Bösen».[11] Der amerikanische Soldat, der sich in seiner Heimat dagegen wehrt, als Kriegsheld gefeiert zu werden, bereut seine Beteiligung an der Atomexplosion nicht nur, sondern versucht auch eine angemessene Form der Trauer für die weit über hunderttausend japanischen Opfer zu finden. Ein Unterfangen, das nicht gelingen kann. Anders’ Diskrepanzphilosophie zufolge ist die Kluft zwischen dem, was wir technisch in der Lage sind herzustellen, und demjenigen, was wir imaginativ vorstellen und nachvollziehen können, schlicht zu groß. Dies führt dazu, dass wir die Bedeutung und die Folgen dessen, was wir im Stande sind zu tun, nicht ermessen können. Angesichts unserer Taten, Produkte und Erzeugnisse versagt unsere Vorstellungskraft, unsere moralische Phantasie.
In seiner nachgelassenen Korrespondenz zeigt sich Günther Anders, der bis zu seinem Tod 1992 in Wien lebte, als international engagierter Intellektueller, der sich noch in hohem Alter für die Anliegen der Anti-Atom- und Friedensbewegung einsetzte. Mit ähnlicher Unermüdlichkeit, mit der er seine Warnrufe und moralischen Postulate an seine Zeitgenossen richtete, beklagte der «apokalyptische Essayist»[12] auch die Tatsache, dass seine Thesen stets zu spät, immer nur zeitversetzt wahrgenommen würden. Die Not des Unzeitgemäßen schlägt aber – das zeigt die wechselvolle Rezeptionsgeschichte des Anders’schen Werkes – immer wieder auch in eine unverhoffte Aktualität...
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