- Kapitel 2 -
Erwachen
Gallard öffnete die Augen. Daraufhin wurde die Schwärze von einem grünlichen Leuchten durchzogen, das in Form mehrerer unterschiedlich breiter, verzerrter Streifen regungslos in der Dunkelheit schwebte.
Es dauerte ein paar Sekunden, bis er realisierte, dass er auf dem Rücken lag. Er wollte den Arm heben, um sich das Gesicht zu reiben, doch seine Hand stieß dabei auf eine unsichtbare Barriere. Die Verwunderung löste sich schnell auf, als die Erinnerung zurückkehrte: Er lag in einer Kälteschlafkammer.
Gallard berührte die leuchtende Bedienkonsole auf der rechten Seite, deren Schein an der Glaskuppel sichtbar war, woraufhin sich die Kälteschlafkammer lautlos öffnete. Zeitgleich begann die Innenbeleuchtung der Kammer damit, in sanften Schritten heller zu werden. Er richtete sich mühsam auf. Sein Kopf schmerzte und ihm war leicht übel. Deshalb blieb er einige Minuten sitzen, gähnte mehrfach und versuchte, sich etwas zu strecken.
Im Licht der Kälteschlafkammer erkannte Gallard, dass die zwei geschlossenen Kammern neben ihm leer waren. Er überlegte, ob dort jemand hätten liegen sollen, und wenn, wer, aber es wollte ihm nicht einfallen.
Langsam drehte er sich zur Seite und setzte die Füße auf den kalten Boden. Dabei ging die Beleuchtung des Raums an. Als er aufstand, fühlte er sich seltsam, wie nach jedem Kälteschlaf. Einerseits war er unsicher auf den Beinen, andererseits erfüllte ihn eine angenehme Leichtigkeit, die sein erwachendes Körperbewusstsein mit sich brachte. Er schien förmlich zu schweben.
Nachdem Gallard in einer der Zellen im Raum geduscht hatte, nahm er seine Kleidung aus dem Behälter vor der Kälteschlafkammer und zog sich an. Mittlerweile fühlte er sich besser und er spürte, dass er etwas trinken und essen musste. Er streckte sich nochmals, lief dann zur Tür und betätigte eine Taste am Bedienfeld.
Als sich die Tür nach oben bewegte, ertönte ein metallisches Kratzen von der anderen Seite. Im nächsten Augenblick kippte ein Regal aus dem Dunkel, das sich scheppernd in der Öffnung verkeilte.
Gallard, der erschrocken einen Sprung nach hinten gemacht hatte, um nicht getroffen zu werden, war irritiert. Mit etwas Mühe richtete das Regal nach außen hin wieder auf, wobei er aufpassen musste, sich nicht die Finger einzuklemmen. Durch seine Bewegung wurde die Beleuchtung auf dem Gang aktiviert. Was er dort erblickte, war ein riesiges Chaos: Diverse Gegenstände und Möbel standen und lagen herum, teils aufgetürmt wie Barrikaden. Er musste über einen Berg aus Unrat neben dem Regal steigen, um den Raum zu verlassen. Es herrschte ein heilloses Durcheinander, das ihn aus einer Stille heraus begrüßte, die Vorbote dessen war, was sich ihm in den nächsten Stunden offenbaren würde.
Es dauerte nicht lange und er fand die mumifizierte Leiche eines Mechanikers, dem jemand den Schädel eingeschlagen hatte. Auf dem Weg zur Brücke fand er drei weitere Körper, ebenfalls zu dürren, grotesk anmutenden Puppen geschrumpft, eine Auswirkung des konstanten, leichten Luftstroms, der mit Sauerstoff angereichert wurde. Dieser stammte aus Tanks, wo er blubbernd dem dicken Schlamm entwich, der für die Algen und Mikroorganismen Heim und Nährboden zugleich war. Ein von Gallard durchgeführter Scan ergab, dass er die einzige lebende Person auf dem Raumfrachter war.
Er betrachtete das Ergebnis auf dem Bildschirm.
Das, was er bisher gesehen hatte, deutete darauf hin, dass die Besatzungsmitglieder aufeinander losgegangen waren. Vermutlich hatte er nur überlebt, weil die Tür zu dem Raum mit seiner Kälteschlafkammer durch das umgestürzte Regal blockiert gewesen war, verborgen vor den Augen der anderen. Ein sonderbarer Zufall. Oder doch eher Schicksal?
Während er im Essbereich etwas Wasser trank und Nährgel aus einer Packung saugte, um den gröbsten Hunger zu stillen, war er dankbar, dass scheinbar alles intakt geblieben war. Die Sensoren reagierten auf seine Bewegungen, Türen ließen sich öffnen, es gab fließendes, sauberes Wasser, die Vorratskammern waren gut gefüllt und das Schiff in einem Zustand, der auf eine unbeschädigte Außenhülle hinwies - was die Sensoren bestätigten.
Gallard stand mitten im Raum, umgeben von dieser seltsamen Stille, und fragte sich, weshalb er erst jetzt erwacht war. Der Kälteschlaf in einer Kammer konnte auf vier Arten beendet werden: Von außen per Tastendruck, durch einen vorgegebenen Zeitpunkt, den man vor Antritt des Schlafs festlegen musste, oder durch ein unvorhergesehenes Ereignis. Bei einem technischen Problem, einem Defekt, Druckabfall oder selbst dem Öffnen einer Außenluke, wurde die gesamte Besatzung vom Kontrollsystem geweckt, ganz gleich, ob und wie viele Mitglieder bereits wach und auf dem Schiff aktiv waren. Traf keiner dieser Punkte zu, wurde der Kälteschlaf nach maximal 130 Jahren beendet, der effektiven Wirkungsdauer spezieller Langzeitkapseln, welche auf den Kälteschlaf abgestimmt waren und die man vor Antritt schlucken musste. Es wurde zwar empfohlen, alle 5 Jahre für etwa 2 Wochen zu erwachen, da dies - statistisch gesehen - das Risiko für spätere Herzkrankheiten und psychische Symptome senkte, aber die Praxis sah in der Regel anders aus. Mit aufsteigendem Dienstgrad verringerte sich zudem die Schlafdauer, eine Regel, die beliebter Gegenstand diverser Witze war.
Nachdem Gallard zur Stärkung Nudeln mit Fleischklößchen und zum Nachtisch einen Schokoriegel gegessen hatte, holte er aus der Waffenkammer eine Strahlenpistole und machte sich an einen längeren Kontrollgang, nur um sicherzugehen, dass die Sensoren keine falschen Informationen geliefert hatten und er wirklich allein war. Zudem nutzte er die Gelegenheit, um sich über das Ausmaß der Zerstörungen ein Bild zu machen und dabei bestmöglich zu rekonstruieren, was hier überhaupt vorgefallen war.
Es beruhigte ihn, die Daten der Sensoren und seinen ersten Eindruck bestätigt zu sehen: Alle lebensrelevanten Vorrichtungen funktionierten, der Gartenbereich war aufgrund der automatischen Bewässerung zu einem undurchdringlichen Dschungel geworden und die Tanks mit den Algen und Bakterien waren ebenfalls in einem perfekten Zustand, ebenso die Filter und Anlagen zur Säuberung von Luft und Wasser. Allerdings entdeckte er während des Rundgangs fünf weitere Leichen, mumifiziert und mit deutlichen Zeichen eines gewaltsamen Todes.
Ihm waren Geschichten bekannt, in denen Leute verrückt wurden, wahnsinnig durch die Isolation im All und die Tatsache, dass nur wenige Zentimeter zwischen sicherer Wärme und dem kalten Nichts lagen - und ein kleiner Fehler zwischen Leben und Tod. Da es aber allem Anschein nach keine mutwilligen Zerstörungen gab in dem Bestreben, die Besatzung kollektiv umzubringen, fragte er sich, was die Ursache für all das war.
Erfreut stellte Gallard fest, dass sein persönlicher Handcomputer, der etwa die Maße einer Schachtel Zigaretten hatte, während seines Kälteschlafs nicht kaputt gegangen war. Die Stromversorgung der integrierten Energiezelle per Induktion ermöglichte zudem den sofortigen Einsatz, weshalb er ohne Umschweife eine Liste anlegte, wen er wo vorgefunden hatte. Zusätzlich machte er mit dem Gerät Fotos von jeder Leiche und ihrem jeweiligen Fundort, um sich intensiver damit befassen zu können.
Als er den Kontrollraum passierte und auf die Brüstung in einer der gigantischen Lagerhallen trat, blieb er stehen und atmete die feuchtkalte Luft bewusst tief ein, während die Flutlichter wie Signalfeuer aufflammten. Sie waren zahlreich und doch nicht stark genug, um den riesigen Raum ganz zu erhellen. Irgendwo tropfte Wasser. Die mächtigen Trennwände, die Millionen Tonnen Erz fassten, bildeten eine Formation, die aus Gallards Perspektive an einen Irrgarten erinnerte, an ein Labyrinth der Riesen. Zudem war er erstaunt über die riesigen Teppiche aus Moos, das sich auf dem Metall ausgebreitet hatte, am Boden, an den Trennwänden und an allen anderen Konstruktionen; sogar das Geländer vor ihm war davon bedeckt.
Er wandte sich ab und verriegelte das Schott. Vor dem Kontrollraum blieb er stehen und betrachtete die Liste der Opfer, darunter der Kapitän, dessen Stellvertreter, die Ärztin, der Koch, drei der insgesamt fünf Mechaniker, der Steuermann und der Waffenoffizier. Den Schluss bildete aktuell Gallards direkter Arbeitskollege, mit dem er auf Kontrollgängen nach sicherheitskritischen Mängeln hatte Ausschau halten müssen. Demnach fehlten noch drei Personen: zwei Mechaniker und die Tochter der Ärztin. Diese hatte vornehmlich in der Küche geholfen und sich zudem um die Wäsche der Besatzung gekümmert. Sie war praktisch Mädchen für alles gewesen, ob nun Botengang oder Filmvorführung im Gemeinschaftsraum.
Gallard war mit fast jedem gut ausgekommen, mit Ausnahme von zwei Mechanikern, die sich stets für etwas Besseres hielten und ihn und seinen Kollegen entsprechend behandelten. Es hatte an Bord so wenig wahre Freundschaft gegeben wie größere Streitigkeiten. Jeder von ihnen war im Grunde genommen nur auf den Raumfrachter gekommen, um gutes Geld zu verdienen und...