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Nachdem sich ihr Aufenthalt im Sonneberger Rathaus so lange hingezogen hatte, war der Zug, der die drei nach Lauscha hätte bringen sollen, längst abgefahren. Bis der nächste Zug fuhr, blieb ihnen noch eine gute Stunde Zeit. Johanna schlug vor, in eine nahe gelegene Wirtschaft zu gehen. Wanda hätte lieber auf dem Bahnsteig gewartet, willigte aber schließlich ein. Es war zwar ein sonniger Tag, doch der Wind kam aus Osten und war frisch - zu frisch, um sich mit einem Säugling über eine Stunde lang auf einem zugigen Bahnsteig die Beine in den Bauch zu stehen.
»Puh, das wäre geschafft!« Johanna umklammerte ihre Kaffeetasse, als befände sich darin das kostbarste Lebenselixier.
»Was für ein schrecklicher Mensch!« sagte sie zwischen zwei Schlucken. »Dieser unverschämte Ton - unter anderen Umständen hätte der etwas von mir zu hören bekommen! Nun ja, was soll's .« Sie machte eine wegwerfende Handbewegung. »Jedenfalls haben wir erreicht, was wir wollten. Du bist Mutter, und ich weiß nicht, ob ich dir dazu gratulieren soll! Herr im Himmel, wo du noch nicht einmal volljährig bist .« Ein tiefer Seufzer folgte.
»Aber in einem Jahr bin ich's!« sagte Wanda. Nachdem sie sich versichert hatte, daß Sylvie noch immer selig in ihrem Kinderwagen schlief, trank auch sie in Ruhe ihren Kaffee. Früher hatte sie das schwarze Gebräu nicht ausstehen können, aber in den Monaten, in denen sie bei Johanna und ihrer Familie gelebt hatte, änderte sie ihre Meinung. Eine Tasse Kaffee war für sie nun nicht mehr ein etwas bitteres Heißgetränk, sondern bedeutete ein bißchen Luxus in einem sonst nicht gerade luxuriösen Haushalt. Wanda schloß für einen Moment die Augen. Als sie die Lider wieder hob, sah sie, daß Johanna leise weinte.
»Wenn Marie nur nicht mit diesem schrecklichen Mann auf und davon gegangen wäre!« brach es unvermittelt aus ihr hervor. Sie preßte eine Hand vor den Mund und blinzelte heftig.
»Ach, Tante .«, sagte Wanda hilflos. Sie vermißte Marie so sehr, daß es weh tat, und hätte manchmal vor Wut über ihr Schicksal toben können. Warum ausgerechnet sie?
Marie, die Glasbläserin, deren Gesicht stets mit einem Hauch Glitzerstaub überzogen war. Marie, mit ihrer Gier nach Leben! Verscharrt in einer Steinwand auf einem Friedhof in Genua.
Nur eine Handvoll Menschen hatte der Beerdigung beigewohnt. Alles war eiligst in die Wege geleitet worden, das sähen die italienischen Gesetze so vor, hatte die Contessa Wanda erklärt. Doch sicher hatte die Eile eher damit zu tun gehabt, daß Francos Familie zusammen mit Marie auch alle unangenehmen Fragen seitens der örtlichen Behörden begraben wollte.
»Und dann diese Geschichte heute! Jetzt gibt es kein Zurück mehr, das ist dir doch wohl klar?« platzte Johanna in Wandas Gedanken und wischte sich die Tränen fort. »Mir wäre ehrlich gesagt wohler gewesen, wenn wir mit dem Gang aufs Amt gewartet hätten, bis deine Mutter da ist. Ich meine, eigentlich hätte sie ja in dieser Angelegenheit auch noch ein Wörtchen mitzureden gehabt, oder?« Sie verdrehte die Augen. »Herrje, Ruth wird mir die Hölle heiß machen, das weiß ich jetzt schon.«
»Das wird sie nicht«, erwiderte Wanda müde. Sie tippte neben sich auf die gepolsterte Bank, wo ihre Handtasche stand. »Diese Geburtsurkunde schützt Sylvie vor Franco und seiner Familie, jetzt kann niemand mehr daherkommen und uns das Kind wegnehmen. Genau das hat Marie gewollt. Mutter wird also verstehen, daß ich gar keine andere Wahl hatte.«
Johanna schüttelte den Kopf. »Es gibt immer mehr als eine Möglichkeit. Auch Peter und ich hätten die Kleine aufnehmen können, ich meine, immerhin bin ich ihre Tante!« Bei ihren letzten Worten zitterte ihre Unterlippe schon wieder verdächtig.
Wanda legte eine Hand auf ihren Arm. »Sylvie braucht uns alle, wir alle werden uns um die Kleine kümmern! Aber ich habe doch tagsüber viel mehr Zeit für sie als du. Und wenn Richard und ich erst einmal verheiratet sind, hat Sylvie eine richtige kleine Familie.«
Johanna schnaubte. »Das ist auch so eine Sache! Du weißt, daß ich Richard sehr schätze, er ist ein ausgezeichneter Glasbläser! Aber ob er auch einen ausgezeichneten Ehemann abgeben wird? Ich weiß es nicht .« Sie brach ab, als die Serviererin zwei Teller mit Apfelkuchen brachte. Kaum war die Frau wieder in der Küche verschwunden, fuhr Johanna fort, noch ehe Wanda etwas sagen konnte: »Richard ist so . versessen! Ich meine, wir haben auch tagein, tagaus mit Glas zu tun, wir leben damit, und manchmal habe ich das Gefühl, wir brauchen es zum Atmen so wie andere Menschen die Luft.« Sie schüttelte den Kopf. »Aber Richard . Bei ihm steht die Liebe zum Glas tatsächlich an oberster Stelle. Ob da noch genug Zeit und Gefühl für eine Frau oder gar eine Familie sein wird?«
Wanda hob konsterniert die Augenbrauen. »Natürlich! Was redest du denn da? Richard ist der liebenswürdigste Mann, den ich kenne! Du müßtest mal erleben, wie besorgt er um Sylvie und mich ist! Und was seine Arbeit angeht - wäre es dir lieber, ich hätte mir einen Faulpelz ausgesucht? Er ist eben sehr zielstrebig! Und ehrgeizig. Was ist daran falsch?«
Johanna winkte ab. »Nichts ist daran falsch. Trotzdem - ich glaube kaum, daß deine Mutter begeistert sein wird, wenn sie erfährt, daß ihr noch in diesem Sommer heiraten wollt. Ihr kennt euch doch gerade einmal ein halbes Jahr! Es heißt nicht umsonst: Drum prüfe, wer sich ewig bindet. Schau dir doch nur Marie an .«
»Also, das kannst du nun wirklich nicht vergleichen!« erwiderte Wanda heftig. »Richard ist ein Ehrenmann, er wird immer für Sylvie und mich dasein. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte ich ihn als Vater angeben sollen - so weit geht sein Verantwortungsgefühl uns gegenüber. Er war beinahe eingeschnappt, als ich seinen Vorschlag ablehnte.«
Johanna murmelte etwas, was einer Entschuldigung glich, und stocherte dabei in ihrem Apfelkuchen herum.
Wanda nahm einen weiteren Schluck Kaffee, um gegen die erneut aufsteigende Erschöpfung anzukämpfen. Vielleicht war es ganz gut, daß sie so müde war - sonst hätte sie sich bestimmt ernsthaft mit Johanna angelegt. Statt dessen kaute sie auf ihrem Apfelkuchen herum, ohne wirklich etwas zu schmecken.
»Und dann die Tatsache, daß du bei deinem Vater wohnst und nicht bei uns .« Johanna schaute von ihrem Kuchenstück auf.
»Auch das wird böses Blut geben. Wie soll ich deiner Mutter erklären, daß du mit Sylvie nicht wieder zu uns gezogen bist?«
Wanda spürte, wie sich Ärger in ihre Müdigkeit mischte. Dieses ewige Diskutieren . Sie wußte doch auch nicht, was richtig oder falsch war, sie handelte nach Gefühl und bestem Wissen und Gewissen - war das denn ein Verbrechen? Es gab eben kein Handbuch, in dem sie hätte nachschlagen können! Sie war auch in Genua allein auf sich gestellt gewesen. Niemand hatte ihre Entscheidungen angezweifelt, alle hatten bei ihrer Heimkehr gesagt - Johanna, ihr Vater und ihre Mutter am Telefon, Richard -, sie habe richtig gehandelt. Erwachsen und besonnen. Alle hatten sie gelobt ob ihrer Tapferkeit. Aber seit sie vor fünf Tagen nach Lauscha zurückgekehrt war, hatte jeder unzählige Ratschläge für sie parat. Am liebsten hätte sie Johanna deshalb barsch abgefertigt.
»Daß ich bei Vater wohne, ist für alle die beste Lösung«, sagte sie in bemüht ruhigem Ton. »Eva tut nichts lieber, als nach Sylvie zu schauen, sie ist mir eine große Hilfe. Und Platz ist auch genügend, Vater will mir das ganze zweite Stockwerk überlassen. Und er hat sogar wieder zu heizen begonnen.« Sie lachte.
Auch Johanna schmunzelte. Thomas Heimer war noch nie ein Mann großer Worte gewesen, aber die Tatsache, daß er Ende Mai teures Brennholz verfeuerte, um seiner Tochter ein warmes Zuhause zu bieten, zeigte, wie sehr er Wanda liebte.
»Wir hätten auch noch ein Plätzchen für euch gefunden, zum Beispiel in Maries altem Zimmer«, insistierte Johanna dennoch. »Ich hätte Magnus rauswerfen können - warum der noch bei uns wohnt, ist mir sowieso schleierhaft. Als er und Marie noch zusammenwaren, war das ja keine Frage, aber er kann doch nicht ewig in Maries Kammer hausen!«
Ihre Stirn legte sich in Falten.
Auch Wanda verzog das Gesicht. Sie kannte ihre Tante gut genug, um zu wissen, daß Magnus' Tage im Haushalt Steinmann-Maienbaum von nun an gezählt sein würden.
Trotzdem sagte sie: »Laß doch den armen Kerl in Ruhe. Er hatte genug damit zu kämpfen, daß Marie ihn wegen Franco verlassen hat. Und nun kommt noch die Trauer um sie dazu . In seiner derzeitigen Verfassung wäre er doch gar nicht in der Lage, sich eine neue Unterkunft zu suchen!«
Johanna schnaubte. »Ach, vielleicht hast du ja recht. Hör einfach nicht auf deine alte Tante! Vielleicht meckere ich heute nur, damit ich nicht dauernd anfange zu weinen. Jedenfalls .« - sie setzte sich aufrechter hin, als wolle sie ihren Worten dadurch Gewicht verleihen - »jedenfalls bist du jetzt Mutter, und ich wünsche dir alles, alles Gute!« Und schon folgte der nächste Seufzer. »Wenn nur nicht -«
Wanda unterbrach sie lachend. »Ach, Tante .«
Kurze Zeit später machten sie sich auf den Weg zum Bahnhof. Von den Kastanienbäumen, die zu beiden Seiten die Straße säumten, rieselten immer wieder kleine Blättchen der verblühenden Kerzen auf sie herab. Als Wanda Johanna ein paar Blütenblätter aus dem Haar zupfen wollte, blieb diese abrupt stehen. Sie nahm Wandas Hand.
»Fast auf den Tag genau vor sieben Monaten war ich auch auf dem Weg zum...
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