Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Kapitel eins
Es war ein verregneter Tag, einer dieser grauen Nieselnachmittage in London, an denen Himmel, Gehwege und feuchte Hausfassaden ineinander übergehen. Es ist schon lange her, dass ich ein solches Wetter erlebt habe.
Gerade hatte ich mit Michael Steele, einem meiner ältesten Freunde, im Porter's in der Unterführung in Charing Cross zu Mittag gegessen. Es war eine Weinbar, in der wir als Stammgäste verkehrten, seit wir im Alter von sechzehn Jahren entdeckt hatten, wie diskret sowohl die Lage als auch der Wirt des Lokals waren. Natürlich hätten wir uns inzwischen lieber in einem weniger muffigen und schummerigen Laden getroffen (zum Beispiel in diesem schicken kleinen Bistro in der St Martin's Lane, das auf Weine von der Loire spezialisiert war). Doch die Nostalgie kann ein strenger Zuchtmeister sein. Wir hätten beide nicht im Traum daran gedacht, von dieser Gewohnheit abzuweichen.
Wenn ich mich von Michael verabschiedete, marschierte ich meistens mit einem im wahrsten Sinne des Wortes stolzgeschwellten Gefühl der Überlegenheit davon. Sein Leben war durch die Anforderungen einer Ehefrau, Zwillingen und einer Anwaltskanzlei in Bromley eingeschränkt. Er lauschte den Schilderungen meiner Missgeschicke - die alkoholgeschwängerten Abstürze in Soho, die blutjungen Freundinnen - mit Neid im Blick. »Wie alt ist sie diesmal?«, fragte er und machte sich über seine Schottischen Eier her. »Vierundzwanzig? Gütiger Himmel.« Er war kein Bücherwurm, doch eine Mischung aus treuer Freundschaft und Unwissenheit sorgte dafür, dass er mich noch immer für den größten Schriftsteller aller Zeiten hielt. Nie wäre er auf den Gedanken gekommen, dass ein mittelprächtiger, vor zwanzig Jahren erschiener Bestseller womöglich nicht genug war, um meinen guten Ruf bis in alle Ewigkeiten aufrechtzuerhalten. Für ihn war ich der Star des »literarischen London« (sein Ausdruck), und wenn er die Rechnung übernahm - etwas, worauf man sich immer verlassen konnte -, geschah das weniger aus Mitleid als aus Heldenverehrung. Falls es nötig war, sich gegenseitig etwas vorzumachen, um den Status quo aufrechtzuerhalten, war das ein kleiner Preis. Ich bin sicher, dass viele Freundschaften auf Lügen beruhen.
Doch als ich an jenem Tag wieder hinaus auf die Straße trat, fühlte ich mich niedergeschlagen. Die Wahrheit, die ich natürlich für mich behalten hatte, lautete nämlich, dass es in meinem Leben rapide bergab ging. Mein letzter Roman war gerade abgelehnt worden, und Polly, die besagte Vierundzwanzigjährige, hatte mich wegen irgendeines aufgeblasenen politischen Bloggers verlassen. Aber die schlimmste Nachricht hatte ich erst heute Morgen erhalten, nämlich, dass ich aus meiner mietfreien Wohnung in Bloomsbury, die ich inzwischen seit sechs Jahren als mein Zuhause betrachtete, rausfliegen würde. Kurz gesagt, ich war zweiundvierzig, pleite und in der erniedrigenden Lage, wieder bei meiner Mutter in East Sheen einziehen zu müssen.
Und wie bereits erwähnt, regnete es zu allem Überfluss.
Regenschirmen ausweichend trottete ich die William IV Street entlang in Richtung Trafalgar Square. Vor dem Postamt blockierte eine Gruppe ausländischer Studenten mit Rucksäcken und neonfarbenen Turnschuhen den Gehweg, sodass ich in den Rinnstein geschubst wurde. Einer meiner Schuhe versank in einer Pfütze; ein vorbeibrausendes Taxi bespritzte das Bein meiner Cordhose. Fluchend humpelte ich über die Straße, schlängelte mich zwischen wartenden Autos durch, bog in die St Martin's Lane ein und nahm die Abkürzung über den Cecil Court in die Charing Cross Road. Die Welt vibrierte - Straßenverkehr, Bauarbeiten, das Scheppern von Gerüststangen und der höllische Lärm der Eisenbahn. Der Regen fiel weiter vom Himmel, aber ich hatte dank meiner Hartnäckigkeit die U-Bahn-Station bereits passiert, als eine herannahende, mit Koffertrolleys bewaffnete Horde Touristen mich erneut abdrängte und an eine Schaufensterscheibe drückte.
Ich stützte mich an dem Glas ab, bis sie sich vorbeigewälzt hatten, und zündete mir dann eine Zigarette an. Ich stand vor Hudson & Co, einem Antiquariat, das auf Fotografie und Film spezialisiert war. Hinten im Laden gab es eine kleine Belletristikabteilung, wo ich, wenn ich mich recht erinnerte, einmal ein altes Exemplar von Glück für Jim geklaut hatte. (Keine Erstausgabe, aber eine orangefarbene von Penguin aus dem Jahr 1961 mit einer Zeichnung von Nicholas Bentley auf dem Einband: hübsch.)
Ich spähte hinein. Es war ein staubiger Laden, der gewiss schon bessere Zeiten gesehen hatte - in den meisten oberen Regalen herrschte gähnende Leere.
Und dann sah ich das Mädchen.
Sie starrte aus dem Fenster und lutschte an einer Strähne ihres langen roten Haars. In ihrem Gesicht spiegelte sich eine Langeweile, die so sinnlich war, dass es mich in den Fingern juckte.
Ich knipste das brennende Ende meiner Zigarette ab, steckte den Stummel in die Jackentasche und öffnete die Tür.
Ich sehe nicht schlecht aus (damals, bevor alles geschah, sogar noch besser) und habe, wie man mir gesagt hat, die Art von Gesicht, die Frauen anspricht - blaue Augen mit Lachfältchen, markante Wangenknochen und volle Lippen. Außerdem achtete ich sehr auf mein Äußeres, aber immer mit der Absicht, es so wirken zu lassen, als sei alles Natur. Beim Rasieren bemerkte ich manchmal die Länge meiner Finger, die auf meinem ebenmäßigen Kiefer lagen, die regelmäßige Anordnung meiner Bartstoppeln und die leicht gebogene, aristokratische Nase. Meiner Ansicht nach ist ein Leben in geistigen Sphären kein Grund, den Körper zu vernachlässigen. Ich habe eine breite Brust; selbst jetzt mühe ich mich damit ab, sie straff zu halten - die Übungen, die ich im Power Pulse, dem Fitness-Studio in Bloomsbury, während des kostenlosen »Schnuppermonats« gelernt habe, erweisen sich noch immer als sehr hilfreich. Außerdem wusste ich, wie ich mein Aussehen einsetzen musste: das verlegene, schüchterne Lächeln, der vorsichtige Augenkontakt, das beiläufige, gedankenverlorene Streichen durch mein zerzaustes blondes Haar.
Das Mächen blickte kaum auf, als ich eintrat. Sie trug ein langes, geometrisch geschnittenes Oberteil über Leggings und klobige Motorradstiefel, hatte drei winzige Piercings am Rand der einen Ohrmuschel und war stark geschminkt. Ein kleines Tattoo in der Form eines Vogels prangte seitlich an ihrem Hals.
Ich neigte den Kopf und schüttelte rasch mein Haar aus. »Mistwetter«, sagte ich in aufgesetztem Cockney-Akzent. »Das regnet ja in Strömen da draußen.«
Sie wippte ein wenig auf den Absätzen ihrer Stiefel, ließ ihr Hinterteil auf einem Metallhocker ruhen und schaute kurz in meine Richtung. Die rubinrote Haarsträhne, auf der sie herumgekaut hatte, ließ sie los.
»Gewiss, Ruskin sagt, es gibt gar kein schlechtes Wetter«, fuhr ich, ein bisschen lauter, fort. »Nur verschiedene Sorten von gutem Wetter.«
Ihre mürrische Mundhaltung bewegte sich fast unmerklich auf ein Lächeln zu.
Ich hob meinen feuchten Mantelkragen an. »Aber erzählen Sie das mal meinem Schneider!«
Das Lächeln verblasste auf halbem Wege. Schneider? Woher sollte sie ahnen, dass das mit dem Mantel, den ich für einen Spottpreis bei Oxfam in Camden Town gekauft hatte, ironisch gemeint gewesen war?
Ich trat einen Schritt näher. Auf dem Tisch vor ihr stand ein Becher von Starbucks, auf den jemand mit schwarzem Filzstift den Namen »Josie« geschrieben hatte.
»Also Josie, richtig?«, fragte ich.
»Nein«, erwiderte sie mit ausdrucksloser Miene. »Das habe ich nur dem Barista gesagt. Ich gebe denen jedes Mal einen anderen Namen an. Kann ich Ihnen helfen? Suchen Sie etwas Bestimmtes?« Sie musterte mich von oben bis unten - den wasserfesten Tweed, die Cordhose, die klatschnassen Brogues und den kläglichen Mann mittleren Alters, der darin steckte. Auf der Theke vibrierte ein Mobiltelefon, doch obwohl sie nicht ranging, schaute sie immer wieder hin und stupste es mit der freien Hand an, um über den Rand des Bechers hinweg das Display lesen zu können - ich war eindeutig entlassen.
Gekränkt verdrückte ich mich in den hinteren Teil des Ladens, wo ich in die Knie ging und vorgab, in einem unteren Regal zu stöbern (zwei für fünf Pfund). Vielleicht kam sie ja frisch aus der Schule und gehörte nicht unbedingt zu meiner Zielgruppe. Trotzdem. Wie konnte sie es wagen? Mist.
In dieser Ecke stieg mir der Geruch von feuchtem Papier und Schweiß in die Nase; die Flecken und Finger anderer Leute. Außerdem war es hier beißend kalt. Als ich den Blick über die vergilbten Taschenbücher schweifen ließ, drängten sich mir Sätze aus der letzten E-Mail meines Verlegers in meine Gedanken: »Zu experimentell . Derzeit auf dem Markt nicht verkäuflich . Warum schreiben Sie nicht einmal einen Roman, in dem wirklich etwas passiert?« Ich richtete mich auf. Vergiss es. Ich würde so stolz wie möglich hier hinausspazieren und mich auf den Weg in die London Library machen oder - ein rascher Blick auf die Uhr - ins Groucho. Es war fast drei Uhr nachmittags. Vielleicht würde mir da ja jemand einen Drink ausgeben.
Ich habe mir seitdem den Kopf zerbrochen, ob das Türglöckchen gebimmelt hatte; ob diese Tür überhaupt ein Glöckchen hatte. Bei meinem Eintreffen hatte der Laden zwar menschenleer gewirkt, doch die Form des Raums ermöglichte es jedem, sich zu verstecken oder zu lauern - wie ich es selbst ja gerade tat. War er bereits im Laden gewesen? Oder nicht? Erinnere ich mich an den Geruch von West Indian Limes? Das erscheint...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.