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Bis in den März hinein blieb die Stadt weiß, weiß und still. Im Wintersemester fiel ich bei einer Linguistik-Prüfung durch. Papá saß mir im Wohnzimmer gegenüber, und dafür rackern wir uns so ab, meinst du etwa, das ist einfach für uns? Du solltest dich nicht mal damit begnügen, die Zweitbeste zu sein! Und jetzt das. Alles war eine Enttäuschung. Ich war eine einzige Enttäuschung für meine Eltern. Seit drei Monaten wartete ich nun schon, kopflos, verschreckt, appetitlos, manchmal glücklich, manchmal deprimiert; voller Angst, ihm an der nächsten Ecke zu begegnen, aber wem eigentlich? Ich wusste es nicht. Er war da und nicht da. Alles war bedeutungslos geworden: meine Familie, die Wohnung, die Uni, die Stadt und ihre Bewohner. Die Standpauke meines Vaters war nicht mehr als ein Augenblick, in dem ich vor ihm stand, den Blick starr auf einen Punkt hinter seinen Augen gerichtet, ja, Papá, nein, Papá, ich weiß, ihr macht es für mich. Ihr habt so viel durchgemacht. Und ich danke es euch nicht. Doch innerlich nur Narkose und Kollaps, alles Äußerliche lief im Halbschatten, in Zeitlupe ab, und gleichzeitig offenbarte sich mir doch das Leben als etwas ganz Einfaches, Klares und Schnelles, an das ich mich klammern musste. Ich ging früher zu Bett als sonst, nur um mich diesen kleinen Augenblicken der Einsamkeit hinzugeben. Ein paar Minuten des Erinnerns, wir beide einander gegenüber. Sein Gesicht verwandelte sich Abend für Abend in meiner Erinnerung, bis es nur noch ein Umriss zunehmend wirrer Linien war.
Und dann das Buch. Ein weiterer Grund, wach zu bleiben und mir Gespräche auszudenken, die nie stattfinden würden, zu spüren, wie es innerlich pulsierte, unten und auch im Kopf, an verschiedenen Stellen, auf unterschiedliche Art, unkontrolliert wie etwas, von dem man nur schwer wieder loskommt. Vorher hatte ich nie daran gedacht, wie die Leute dort drüben lebten. Wenn ich an ihn dachte, spürte ich, dass ich allem um mich herum untreu wurde, dass ich den Glauben an die DDR verlor.
Im selben Jahr erhielt Pablo Neruda den Nobelpreis für Literatur, und Willy Brandt, der Kanzler der BRD, bekam den Friedensnobelpreis. Ein grandioser Trick!, brüllte Papá durch die Wohnung. Glaub mir, Isabel, das ist der Todesstoß für alles, an das wir glauben. Der Todesstoß, Isabel. Und was machen wir dann? Es waren die Jahre der Ostpolitik. Wir durften nicht über die Mauer schauen, doch der Westen verkaufte uns seine Technologie und bekam im Gegenzug Güter zu Schleuderpreisen. Wie zwei langsame Galaxien begannen die beiden Welten sich einander anzunähern. Beide Länder zerrten, wie zwei autoritäre Väter, an den Grenzen unserer alten, geteilten Stadt. Und wir alle lebten mittendrin. Überlebten.
»Für antiimperialistische Solidarität, Frieden und Freundschaft!«, so lautete die Losung, die Papá eines Sommernachmittags vor mir auf dem Tisch ausbreitete. Ich hörte auf zu lesen und sah ihn an. Soll ich da hin? Du musst da hin, antwortete er. Seit Monaten bereitete Berlin sich auf die Ankunft Tausender Jugendlicher aus sämtlichen sozialistischen Staaten vor. Tatsächlich war es unsere Pflicht mitzumachen; das blaue FDJ-Hemd anzuziehen und die Faust zu erheben. Um mir zu zeigen, dass es nach meiner vermasselten Prüfung noch schlechter für mich laufen konnte, hatte Papá mich gezwungen, einem Freund von ihm zu helfen, der in Pankow in der kubanischen Botschaft arbeitete. Nach den Vorlesungen, zur noch immer kühlen Mittagszeit, durchquerte ich also regelmäßig den Bezirk Prenzlauer Berg und lief weiter bis zur Botschaft. Auf dem Rückweg sah ich dann die Sonne hinter dem Bunkerberg untergehen. Ich half bei der Übersetzung der Einreisevisa von Kuba nach Berlin für gut zwanzigtausend Jugendliche mit. Klar geh ich da hin, antwortete ich meinem Vater.
In der Botschaft sprach ich zum ersten Mal Spanisch mit Menschen, die nicht meine Eltern oder Martina oder Freunde meiner Eltern waren. Dort war alles vertraulich. Kuba war zwar ein Bruderland, dennoch achtete die DDR sehr darauf, dass die populären revolutionären Ideen der Kubaner unseren kleinen Bürokratenstaat nicht ins Wanken brachten. So lernte ich Julia kennen, deren Aufgabe es war, den jungen Leuten, die zu den Weltfestspielen kommen würden, Unterkünfte und Wohnungen zuzuteilen. Wenn sie ins Büro kam, hatte sie bereits sechs Stunden in einer Textilfabrik gearbeitet. Mehr als nur ein Mal sah ich, wie sie über ihren Unterlagen einnickte. Sie schickte sechzig Prozent ihres Gehalts auf die Insel. Julia erzählte mir Geschichten von der Revolution, der Musik aus dem alten Havanna, von dem Sand und dem blauen Wasser der Karibik, der Playa Girón. Es kann doch nicht sein, dass du nichts über Che weißt, meine Liebe, was sind das denn hier für Kommunisten, die dir nichts von ihm erzählt haben. Obwohl wir beide wenig Zeit hatten, konnten wir doch ab und zu zusammen weggehen, zu einem Konzert oder zu einem Bier auf der Spreewiese. Sie war fröhlich, und ich mochte ihre Art zu reden, in einem merkwürdigen Rhythmus, als würde sie die Wörter verschlucken, wodurch alles so einfach wirkte. In ihrem Portemonnaie steckten immer zwei Fotos: ein unscharfes von einer Gruppe glücklich lächelnder Jugendlicher mit Halstüchern, die Hände mit dem Victory-Zeichen erhoben; auf dem anderen eine wunderhübsche Frau im Badeanzug am Meer, daneben zwei Jugendliche, die starr in die Kamera blickten. Das Mädchen war Julia, die anderen beiden ihre Mutter und ihr Bruder. Julia war meine erste richtige Freundin, eine typische Freundin, wie man sie mit zwanzig so hat. Wir erzählten uns alles, unsere ganzen Unsicherheiten, trotzten gemeinsam den Kollegen aus der Botschaft, unseren Familien, ihrer Arbeit, der Uni. Sie war die Einzige, der ich von dem Neruda-Buch und dem Fremden erzählte, der es vor unsere Wohnungstür gelegt hatte. Ich will ihn einfach nur wiedersehen, gestand ich ihr. Gemeinsam lernten wir diese Verse auswendig, unterstrichen sie tausendfach, gingen sie tausendmal durch. Eines Abends brüllten wir sie, bierselig auf dem Nachhauseweg, lauthals hinaus, »todo es silencio de agua y de viento«, spazierten Hand in Hand in der Nähe der Mauer herum, »mira el vacío de los guerreros«, riefen wir den Grenzposten zu. Die Hunde zerrten an ihren Ketten, und wir rannten davon.
Mit dem Sommer rückten die Weltfestspiele der Jugend näher. Wir waren alle nervös. Die Arbeit häufte sich auf unseren Schreibtischen. Tausende von Unterlagen, Papieren, Genehmigungen, Direktiven. Zu Hause hatte Martina in den letzten sechs Monaten verzweifelt Klarinette geübt. Sie nahm mit der Musikgruppe aus unserem Viertel an dem Aufmarsch teil. Am ersten Festivaltag kam ein mit unseren Eltern befreundeter Fotograf zu uns nach Hause und machte Aufnahmen. Zuerst fotografierte er Martina am Fenster, in ihrem blauen FDJ-Hemd, der roten Weste und dem sehr kurzen weißen Rock, eigens für die Spiele, ich versteh diese Uniform nicht, sagte Mamá. Katia, zieh sie dir zumindest für das Foto an, sagte mein Vater. Ich zog die Uniform an und posierte neben meiner Schwester. Papá, mit stolzgeschwellter Brust, fasste Mamá um die Taille. Meine Mutter bat mich mit den Augen, mich nicht aufzuregen. Ich war genauso genervt wie damals als Kind, wenn mein Vater mich zwang, seinen spanischen Freunden die Kosakenlieder vorzusingen, die er mir beigebracht hatte. Na los, Mädchen, »Der schwarze Rabe«. Dabei hatte er sich hinter mich gestellt, mir seine großen Hände auf die Schultern gelegt und fest gedrückt, sobald ich zu leise wurde oder auf den Boden blickte. Martina und ich lächelten, sie aufrichtig, ich gezwungen, und dann kam der Blitz. In diesem Augenblick rief mich jemand vom Hof her. Ich trat ans Fenster, und unten zwischen den Bäumen stand Julia und schüttelte gerade einer Gruppe dunkelhäutiger, mit Instrumenten beladener Jugendlicher die Hand. Papá öffnete das Fenster. Vamos, Katia!, riefen sie. Mamá lächelte mich an, und ich ging hinunter. Das ist mein Bruder Alejandro. Und das ist seine Band, sagte Julia gerührt, sie spielen heute Nachmittag unterm Fernsehturm. Ich merkte, dass ich noch immer die Uniform trug. Bevor wir gingen, blickte ich noch einmal nach oben, mein Vater und meine Mutter winkten mir zum Abschied zu und machten so diesen Augenblick zu einer meiner schmerzlichsten Erinnerungen, obwohl ich das damals noch nicht wusste.
Wir liefen sämtliche Veranstaltungsorte in der Stadt ab, von Konzert zu Umzug, unter den Fahnen der Partei. Ich hatte mich schon lange nicht mehr so gut gefühlt. Die Kubaner waren sehr fröhlich. Und ich fühlte mich so entspannt, weil ich Spanisch redete, was ja meine Muttersprache war. Am Nachmittag mischten wir uns unter die Massen auf dem Alexanderplatz. Vor den Kubanern spielte eine DDR-Band unter dem Fernsehturm. Eine merkwürdige Musik, oder?, sagten sie. Der Sänger war dunkellila gekleidet, und seine Haare reichten ihm bis zu den Schultern. Mir kam er auch irgendwie lächerlich vor, und wir spotteten ein wenig über die Band; im Grunde machte ich mich auch über diese ganze merkwürdige Modernität lustig, die Berlin gerade ausstrahlte. Die Kubaner holten ihre Instrumente heraus und begannen unter den Arkaden zu spielen. Julia tanzte mit einem der Jungs. Ich hatte noch nie jemanden so tanzen sehen, so eng umschlungen und synchronisiert. Unmerklich hatte ihr Bruder meine Hand genommen und mich hochgezogen. Lass dich einfach führen, sagte er. Er legte eine Hand auf meine Taille und ergriff mit der anderen meine Hand. Dann bewegte er sich vorwärts und rückwärts und schob sein Bein zwischen meine Beine. Alejandro studierte in Havanna Architektur. Er...
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