Schweitzer Fachinformationen
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Von Drachen zu lesen ist etwas anderes,
als sie leibhaftig zu erleben.
Ursula K. Le Guin
Als kleines Mädchen hatte ich eine ziemlich genaue Vorstellung von meiner Todesart: Vergiftung durch Kryptonit, toxische Dämpfe aus einem thermonuklearen Reaktor oder Verhungern in einem Schutzbunker gegen russische Angriffe mit Chemiewaffen. In meinen Verschwörungsphantasien waren immer die Russen schuld, ich war fünf, und es war das Jahr 1989 in New York. Nicht das beste Jahr für die Russen, auch nicht für den Kalten Krieg, doch die Sowjets hatten etwas Schlimmeres getan, als die Vereinigten Staaten mit ihrem Raumfahrtprogramm und ihren furchterregenden Turnerinnen bei den Olympischen Spielen zu bedrohen: Sie waren in meine Nachbarschaft gezogen. Und was noch weit schwerer wog - meine Mutter hatte mit einigen von ihnen Freundschaft geschlossen. Unbekannte mit sackförmigen Lederjacken, quarzfarbenen Brillengestellen und unaussprechlichen Namen wie eine der Freundinnen meiner Mutter, die zum Abendessen kam und urplötzlich lebhaft wurde, Gelächter aus trockenem Husten aufgrund von Lungenproblemen, die sie sich in diesem feindlichen Science-Fiction-Land zugezogen hatte.
Die Russen waren nicht die einzigen Fremden in der Nachbarschaft. Es gab die Töchter der Maurer, die Reparaturen für die Firma meines Onkels Arturo durchführten. Arturo war Hausverwalter, trug Cowboystiefel, einen Schnurrbart wie die mexikanischen Mariachi-Sänger und hatte sich mindestens einmal mit jeder Frau in der Nachbarschaft verlobt. Die Töchter der Maurer sprachen Spanisch, manchmal stiegen sie mit mir hinauf ins oberste Stockwerk, um Jenny zu besuchen, die immer neunundneunzig Jahre alt war und in ihrem lila Morgenrock, der sich im Rollator verwickelte, langsam verschwand.
Mein Großvater Vincenzo nahm weniger Miete für Jennys Wohnung in unserem vierstöckigen Haus aus roten Ziegelsteinen mit flaschengrüner Eingangstür an der Kreuzung 14. Straße und Ovington Avenue, einem gesichtslosen Vorposten voller Seniorentreffs, Videotheken und Fleischerläden zwischen Bensonhurst und Dyker Heights. Er hatte das Haus gekauft, um seine Kinder dort unterzubringen, bevor sie die Unabhängigkeitserklärung verfassten. Jenny war Witwe, und ihre Verwandten konnten sich nicht um sie kümmern, sie lebten alle in Osteuropa. Ich nahm die Maurertöchter mit zu ihr, weil sie jeder von uns Pfefferminzschokobonbons und Ein-Cent-Münzen schenkte. Als ich genug davon gesammelt hatte, half Großvater mir, die Münzen zu stapeln und mit einer Papprolle zu umwickeln, die man zur Bank brachte. Wir kehrten mit vielen Ein-Dollar-Scheinen zurück, und ich durfte mir in den großen Kaufhäusern, wo es vor allem geblümte Morgenröcke für übergewichtige Frauen und Videokassetten von Barbie gab, kaufen, was ich wollte.
Manchmal klaute ich, aus Gedankenlosigkeit. Ich brachte Armreifen nach Hause, Plastikohrringe, für die man keine Ohrlöcher brauchte, und schleimige Batzen, die ich an der Wand zerquetschen konnte. Nichts kostete mehr als einen Dollar, aber ich hatte trotzdem Angst. Nicht, weil ich gestohlen hatte, sondern weil ich nicht entdeckt wurde. Nachts, wenn ich mit den Großeltern in einem Zimmer schlief, das nach gebohnertem Holz roch, und wo in einer Ecke eine Statue des heiligen Franziskus stand, blieb ich wach, weil ich auf das blinkende rote und blaue Licht wartete, das meine Familie aufwecken würde, oder auf das Klopfen der Polizei an der Tür, doch kein Ladenbesitzer hat mich je angezeigt, und wer weiß, welch schreckliche Dinge mir in Zukunft passieren konnten, wenn die Erwachsenen sich nicht die Mühe machten, mich zu erziehen und zu erlösen.
Meine Mutter arbeitete nie. An manchen Tagen schlief sie im Bademantel wieder ein, dann kletterte ich auf ihr Bett und überredete sie zum Tanzen, tat, als wollte ich sie mit den Laken ersticken, und zermürbte sie, bis sie sagte, ich müsse nicht in den Kindergarten. Statt zu lernen, wie man Kontakt zu Gleichaltrigen knüpft, oder Bilder ausmalt, ging ich mit meiner Mutter in den orangen und rostroten Farben des Herbstes spazieren, und wir spähten durch die mit Kürbissen behängten Fenster. Mein Bruder hatte mir gesagt, unsere Eltern seien Theaterschauspieler, die sich nur taub stellten, um sich in ihre Rolle einzufühlen, sie praktizierten eine Art Stanislawski-Methode. Erst spät in der Nacht, wenn ich schon schlief, hörten sie auf zu proben, und hätte ich mich zur richtigen Zeit wecken lassen, hätte ich sie plaudernd, einander zu ihrem Talent gratulierend, in der Küche gesehen. Doch mir fehlte die Geduld, sie in flagranti zu erwischen, ich rannte sofort zu meiner Mutter, schlug auf sie ein und schrie: »Sag was, sag doch endlich was!«, bis wir beide weinten. Als mein Bruder mir erzählte, dass ich adoptiert war, und dass unsere Eltern in Wirklichkeit getarnte Aliens waren, bereit, sich die Erde zu unterwerfen, glaubte ich ihm schon nicht mehr.
Obwohl meine Mutter nicht arbeitete, beschäftigte sie sich nicht oft mit mir, also verbrachte ich einen Teil meiner Kindheit im Garten meiner Großeltern, wo es viele mit Erde gefüllte Tonnen gab und einen zerfransten Weinstock auf der Laube, der die Nachbarn neugierig machte, sie fragten, wo man so einen bekam, aber der Wein aus diesen Trauben geriet immer schwer und sauer. Meine Mutter und ich sahen uns selten, aber wir kleideten uns ähnlich, kurze Jeans und Reeboks aus weißem Kunststoff mit hohem Schaft, ihre waren immer zerschlissen. Wenn Großvater sah, dass meine Schuhe bald auseinanderfallen würden, nahm er mich mit zu Payless Shoes in der 18. Straße, wo ein neues Paar gekauft wurde. Er sorgte für meine Kleidung und meine Zähne, er bemerkte als Erster, dass ich kurzsichtig war, und immer wenn er mich mit verstrubbelten Haaren sah, zog er einen Kamm aus seinen kurzen, steifbeinigen Baumwollhosen, wie junge Leute in Museen für zeitgenössische Kunst sie heute tragen, Reisbauernhosen.
Nach dem ersten Tag, den Nonno Vincenzo in Amerika außerhalb einer Gemeinschaftsunterkunft als freier Mann verbracht hatte, legte er sich zum Schlafen in die Nähe des Fensters, das auf die Hochbahngleise hinausging. Die Züge fuhren die ganze Nacht, er verfluchte den Lärm und erklärte, es sei besser, nach Italien zurückzugehen. In Wirklichkeit war diese neue Wohnung ein Fortschritt, verglichen mit seiner ersten Behausung, einem muffigen Keller, den er mit Verwandten teilen musste. Der Keller gehörte einem Landsmann aus San Martino d'Agri, der ein bisniss betrieb, für das er Leute aus der Lucania nach Amerika kommen ließ, damit sie in seiner Baufirma arbeiteten. Oder er schickte sie in die Küchen von Midtown und behielt einen Teil ihres Lohns für sich. Der Bruder meiner Großmutter war der Erste, der aus diesem Keller entkommen und seine Familie an die Oberfläche bringen konnte, mein Großvater hatte das erst nach einer Weile geschafft, geschwächt von seinem amphibischen Elend.
Er fand eine Arbeit als Tagelöhner, musste auf den Dächern Teer verstreichen, dieses schwarze Pech, das nach verbranntem Zucker stinkt und im Sommer unter den Schuhsohlen zu Knetmasse wird. Am ersten Zahltag stieg er mit anderen Arbeitern aufs Dach eines Hauses, während meine Großmutter Maria ihn von der Straße aus beobachtete. Nach einer Weile bekam er Schwindelanfälle und stieg vom Dach. Großmutter wickelte sich einen Schal um den Kopf, ging an seiner Stelle hinauf und teerte mitten zwischen den Männern das Dach, während er unten den vorübergehenden Frauen schöne Augen machte.
Großvater überredete mich, heimlich mit ihm in den Keller zu gehen, um den hausgemachten Wein in Flaschen zu füllen, die dann schwarz verkauft wurden. Um mich zum Lachen zu bringen, sang er »tutti frutti, bimbabbambaloula bimbabbamboo« von Little Richard und forderte mich auf, ein Glas Most und Gingerella-Ginger-Ale zu trinken. Danach setzte ich mich an den Tisch mit vierundzwanzig Plätzen, an dem wir die sonntäglichen Mittagessen feierten, und öffnete sein Köfferchen voll neapolitanischer Videokassetten. Wenn die anderen schliefen, schauten wir uns Filme an, wo Mario Merola oder Nino D'Angelo plötzlich auf einem Empfang aus religiösem Anlass oder auf einer Hochzeitsfeier erschienen, die übel ausgehen sollte. Oder sie verfolgten zwei Menschen, die sich getrennt hatten, sich dann aber anders besannen und in einem Flughafen hintereinander herliefen. Ich schaute mir diese Szenen mit Schießereien und Kommunionen nur an, um ihm eine Freude zu machen. Nicht einmal die Tarantella gefiel mir, er aber liebte es, Ziehharmonika zu spielen, und wenn...
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