Schweitzer Fachinformationen
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1. KAPITEL
WOHNUNG ÜBER DEM BUCHLADEN LE MISTRAL, 37 RUE DE LA BÛCHERIE
Paris ist ein Quell puren Lebens. Die Farben dieser Stadt lassen das Blut in meinen Adern pulsieren.
JACK KING
»Bonjour, Madame Lilou!«, rief er überschwänglich hinunter, als er das Fenster öffnete und die Wirtin des kleinen Restaurants an der Ecke sah, die soeben mit einem Korb in der Hand unter seinem Fenster entlangging. Die etwas beleibte Frau mit dem Mondgesicht und dem herzlichsten Lächeln, das Jack je gesehen hatte, winkte zu ihm herauf und blieb stehen.
»Bonjour, Jack! Ein herrlicher Tag, nicht wahr? Der Frühling.« Sie machte eine ausschweifende Handbewegung. »Man kann ihn schon riechen.«
Jack streckte die Nase vor und atmete tief ein.
»Sie haben recht, Madame Lilou. Jetzt rieche ich es auch.«
Sie lachte freudig auf. »Und? Werden Sie heute Ihre Kunst verkaufen, Jack?«
»Aber ja, Madame Lilou! Mindestens drei, ach, was sage ich, fünf oder gar sechs Bilder.«
»Wunderbar!«, gab sie begeistert zurück. »Dann kommen Sie nachher zu mir ins Restaurant! Ich werde zur Feier des Tages etwas Besonderes für Sie kochen.«
»Ich werde mich bemühen, Madame Lilou. Und wenn ich etwas verkaufe, bringe ich Ihnen auch das Geld mit, das ich Ihnen schulde.«
»Wunderbar!«, rief sie erneut. »Wenn es Ihnen gelingt, dann koche ich, um Sie zu feiern, und wenn es Ihnen nicht gelingt, dann zum Trost, Monsieur Jack.«
»Ich liebe Sie, Madame Lilou!«
»Ich liebe Sie auch, Monsieur Jack. Bis später im Restaurant!« Sie winkte noch einmal und lächelte ihr Mondgesichtlächeln, dann ging sie mit dem Korb in der Hand die Straße hinauf und verschwand nur einen Augenblick später hinter der nächsten Häuserecke.
Jack hob den Blick über die Dächer der Häuser, die er von seinem Fenster im ersten Stock in der Rue de la Bûcherie aus sehen konnte und über denen im Osten bereits die Sonne stand. Am anderen Ufer der Seine erhob sich die Kathedrale Notre-Dame de Paris. Wie jeden Morgen nahm er sich Zeit, die Farben auf sich wirken zu lassen, sie förmlich zu inhalieren, um sie in sich aufzunehmen, sie zu spüren. Paris war für ihn eine Stadt, die stets in ein warmes Rosé getaucht war, bei Tag wie bei Nacht, weil sie ein Gefühl der Wärme verströmte, wie er es noch nirgendwo sonst erfahren hatte. Auf keiner Palette der Welt wäre es möglich, die Farben so zu mischen, dass man Paris darin einfangen und in den Bildern wiedergeben könnte. Dennoch versuchte Jack genau das Tag für Tag für Tag, immer und immer wieder, und er war fest davon überzeugt, dass es ihm irgendwann gelingen würde, dem Betrachter das Gefühl dessen zu spiegeln, was diese Stadt für ihn ausmachte.
Kaffeeduft zog zu ihm herauf. Sofort fing sein Magen an zu knurren. Eigentlich konnte er noch gar nicht wieder hungrig sein, hatte er doch gestern Abend mit seinem Freund Frank Levant so reichlich gegessen, dass es im Grunde für die nächsten drei Tage reichen dürfte. Es musste an dieser Stadt liegen, dass er immerzu hungrig und durstig war. Vor allem auf das Leben selbst. Denn noch zu keiner Zeit zuvor und noch an keinem anderen Ort auf dieser Welt hatte er das Leben so sehr gespürt, dass er einfach nicht genug davon bekommen konnte. Es war wie eine Gier, wie ein Sog, der ihn immer weiter mitriss. Jeder Tag verging wie in einem Rausch - leicht, lebendig und sinnlich. Ihm war, als könnte er sie noch immer spüren, all die fantastischen Künstler wie Renoir, Cézanne, Degas, Toulouse-Lautrec. Sie alle hatten hier gelebt und geliebt, das Leben gefeiert und das gesehen, was nun auch er sah. Sie hatten die Stimmung dieser Stadt eingefangen und in ihren Bildern verewigt, hatten eine Welt in dieser Welt erschaffen und ließen nun auf ewig die Menschen durch ihre Augen sehen, wenn diese ihre Werke betrachteten. Es war unglaublich. Das und nicht weniger wollte auch er - er wollte es schaffen, dass die Menschen stehen blieben und in seine Gemälde eintauchten, wollte sie sehen lassen, was er sah, sie spüren lassen, was er spürte. Er atmete noch einmal tief ein und streckte sein Gesicht in Richtung der immer mehr an Kraft gewinnenden Sonne. Dann trat er einen Schritt zurück, schloss das Fenster und verließ pfeifend die kleine Kammer über dem Buchladen Le Mistral, in der George Young ihn wohnen ließ, wenn er im Gegenzug ein wenig im Geschäft half und die Bücher las, die George ihm regelmäßig empfahl. Zumindest noch. Ihre Vereinbarung lautete, dass Jack ein halbes Jahr lang bleiben konnte, sich innerhalb dieser Zeit aber etwas anderes suchen musste. Als Jack die Kammer bezogen hatte, war ihm ein halbes Jahr mehr als ausreichend erschienen, um Fuß fassen und sich eine kleine Wohnung suchen zu können. Allerdings war die Zeit nur so verflogen, und schon bald würde er sich überlegen müssen, wie es weitergehen sollte. Zwar glaubte Jack nicht, dass George ihn mir nichts, dir nichts auf die Straße setzen würde - dafür war er ein zu guter Mensch -, doch selbst wenn er die Frist um einen oder zwei Monate verlängerte, wäre es für Jack ratsam, sich baldmöglichst um etwas Eigenes zu kümmern. Daran führte kein Weg vorbei, auch wenn er die Pfannkuchen, die George jeden Sonntagmorgen für alle machte, die in seinem Buchladen unterkamen, schmerzlich vermissen würde.
Er überlegte, sich in der 9 Rue Gît-le-Cour einzuquartieren, so wie einige seiner Künstlerfreunde es taten. Das Hotel war schäbig, doch was brauchte er schon ein schönes Zimmer, wenn die ganze Stadt vor Schönheit nur so strahlte? Außerdem wollte er Georges Gastfreundschaft nicht über die Maßen beanspruchen.
George war genau wie er Amerikaner und schon vor über sechs Jahren, kurz nach dem Krieg, nach Paris gekommen, während Jack gerade erst vor fünf Monaten in die Stadt seiner Träume zurückgekehrt war. Als sie sich kennenlernten, hatte George ihm erzählt, dass er im letzten Jahr all sein Geld zusammengekratzt und den kleinen Buchladen erworben hatte, in dem man jedoch nicht nur Bücher kaufen konnte. Vielmehr ließ George unten im Laden angehende Schriftsteller übernachten und bot ihnen damit zugleich die Möglichkeit, so viel zu lesen, wie sie nur wollten. Für George zählte nichts als die Literatur, während es für Jack nur die Malerei gab. Nun ja, die und das gelegentliche Kellnern in dem kleinen Café in der Nähe der Kathedrale Notre-Dame, wenn ihm wieder einmal das Geld ausgegangen war und er George, Madame Lilou oder seinem Freund Frank Levant nicht schon wieder auf der Tasche liegen wollte. Es war ein einfaches, gutes Leben, das er führte, stets getragen von der Hoffnung, eines Tages mit seiner Malerei den großen Durchbruch zu erlangen. Ach, was musste das für ein Leben sein, ohne jede finanzielle Not, mit nichts als Glück und Freiheit und dem Gefühl, der Malerei allein um der Malerei willen zu frönen. Im Grunde nicht viel anders als jetzt, schließlich malte er immer nur das, was er wollte, und wurde durch niemanden zum Tun oder eben auch Nichtstun getrieben. Dennoch wäre es etwas anderes, wenn seine Arbeit endlich Anerkennung finden würde und er damit ein Einkommen erzielen könnte. Doch das würde schon noch kommen. Jack glaubte fest daran.
»Guten Morgen, George«, grüßte er aufgeräumt, als er den kleinen Buchladen im Erdgeschoss betrat, und nickte auch dem Mann zu, der mit dem Ladenbesitzer sprach. Die beiden schienen in eine hitzige Diskussion vertieft zu sein, denn George sah nur kurz zu ihm herüber und nickte, sagte aber nichts. Dann wandte er sich wieder seinem Gesprächspartner zu und ereiferte sich offenbar über irgendein Buch, das Georges Meinung nach vollkommen überschätzt wurde, worauf der andere heftig widersprach. Ja, George war ein streitbarer Mann, und Jack hatte es durchaus schon erlebt, dass er die gebundenen Werke, die zum Verkauf standen, gelegentlich benutzte, um damit nach jemandem zu werfen. Doch ebenso rasch, wie George hochkochte, kühlte er auch wieder ab und kehrte vom hitzigen Gesprächspartner zu dem umgänglichen, netten Kerl zurück, der ebenso in ihm steckte.
Jack hob kurz die Augenbrauen, ein amüsiertes Schmunzeln auf den Lippen, wünschte einen wunderbaren Tag und ging hinaus.
Mit seiner leichten Jacke war er etwas zu dünn angezogen, doch für die knapp fünfzehn Minuten vom Buchladen zum Café, wo er ein kleines Frühstück einnehmen wollte, würde sie reichen. Erst danach wollte er seine Bilder, die Staffelei, die Farben und den kleinen grünen Hocker holen, um sich ans Ufer der Seine zu setzen und dort zu malen.
»Jack, hier drüben!«, hörte er jemanden seinen Namen rufen, kaum dass er das Café betreten hatte, und sah auf. Sein Freund Frank Levant hob den Arm, um auf sich aufmerksam zu machen, und Jack ging zu ihm hinüber und setzte sich an seinen Tisch.
»Frank, ich hatte nicht damit gerechnet, dich heute hier zu sehen. Meist bleibst du doch zu Hause, wenn am Abend ein Auftritt ansteht.«
Frank, der wie so oft eine Ballonmütze trug, die seine dicken schwarzen Haare und einen Teil seines Gesichtes verdeckte, machte eine wegwerfende Handbewegung. »Ich weiß nicht mal, ob ich mich danach fühle, heute auf der Bühne zu stehen und die Leute zu unterhalten«, gab er missmutig zurück.
»Ach, Frank, hör doch auf! Du brauchst das doch, gib es zu. Den Jubel, die Begeisterung.« Jack beugte sich weiter zu dem Freund hinüber. »Die Frauen, die fast in Ohnmacht fallen, wenn du ihnen Blicke zuwirfst.« Er lachte auf und klopfte Frank auf den Oberarm. »Sei ehrlich, du brauchst das wie die Luft zum Atmen.«
Frank schüttelte den Kopf,...
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