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Der Morgen war ungewöhnlich kühl. Also hatte sich Urbain Cluzet nach dem Aufstehen seinen royalblauen Morgenmantel übergezogen und sich sogar eine leichte Decke über die Knie gelegt. So wartete er in seinem grünledernen Ohrensessel auf den Sonnenaufgang.
Ein bisschen wirkte er wie eine alte Frau, fand er, und er war froh, dass ihn so niemand sah. Aber es war auch gewissermaßen Tradition. Seine Großmutter hatte den Tag so auf der Veranda begrüßt. Ebenso seine Mutter. Es war eine sehr gemütliche Art, die angestaute Bettwärme und Bequemlichkeit noch ein wenig in den Gliedern zu behalten.
Als junger Mann hätte er sich das vermutlich verkniffen. Aber mit Anfang sechzig war er dem Alter näher als der Jugend. Da konnte er sich das leisten.
Cluzet schlug die Decke beiseite und ging zur Küchenzeile gegenüber. Sie war gerade groß genug, dass er sich eine kleine Mahlzeit zubereiten konnte. Wenn es nicht zu aufwendig geriet, reichte es sogar für zwei Personen.
Cluzet goss dampfenden Kaffee aus der Cafetière in eine Tasse und löffelte reichlich Zucker hinein. Bevor er damit zum Sessel zurückging, stellte er das Radio lauter. Sie spielten ein Medley von France Gall aus den Achtzigerjahren. Seine verstorbene Frau Bérénice hatte ihre Musik gemocht. Es hätte ihr gefallen.
Cluzet stellte den Kaffee auf dem Messingtisch ab, in den das Hoheitszeichen Frankreichs eingeprägt war. Er setzte sich. Legte entspannt den Kopf an die Lehne. Wartete darauf, dass die Sonne durch die Bäume am Ende des großen Gartens des Vieux Moulin brach. Sie würde dann durch das kleine Fenster neben der Tür scheinen und seine Wangen wärmen. Für gewöhnlich genoss er dies eine Weile, bevor er zu seinem Morgenspaziergang durch die Umgebung Auciel Hautes aufbrach.
Aber nicht heute.
Er würde mit Sandrine Saidi einen Ausflug ans Meer unternehmen. Zum Mont-Saint-Michel, genauer gesagt. Sie würden durch die Gegend spazieren, Essen gehen und sich irgendwie die Zeit vertreiben. Vermutlich noch einen Markt besuchen. Sich mit allem eindecken, um am Abend ein formidables Menü zu zaubern.
Cluzet lächelte beim Gedanken an die lieb gewonnene Gewohnheit, die sie an Sandrines freien Tagen pflegten. Man konnte es inzwischen schon eine Tradition nennen.
Er nahm die Tasse vom Tisch und trank einen Schluck. Just in dem Moment brach endlich die Sonne durch das kleine Fenster neben der Tür. Gleichzeitig endete das Medley im Radio, und der Sprecher verkündete den Wetterbericht: »Ein Hochdruckgebiet über den Azoren beschert uns heute einen sonnigen Vormittag. Erst zum späten Nachmittag hin breiten sich voraussichtlich einige Quellwolken in einem Streifen von Nantes bis Paris aus und können für kurze Schauer sorgen. Nördlich davon zeigt sich der Himmel in seinem schönsten Blau. Der Wind weht aus Südwest und bringt uns bis zu dreißig Grad im Hinterland und achtundzwanzig Grad an der Küste.«
»Sehr gut!«, antwortete Cluzet dem Sprecher, bevor wieder zur Musik übergeblendet wurde.
Es lief ein Nouvelle Chanson von Zaz. Eine Sängerin, die Sandrine sehr mochte.
»Wie passend«, schmunzelte Cluzet.
Das Smartphone in seiner Tasche vibrierte. Er musste sich im Sessel aufsetzen, damit er mit der Hand in die Tasche kam. Als er es herausholte, leuchtete auf dem Display ein Foto von Sandrine auf. Cluzet hatte es an einem gemeinsamen Abend an der Strandpromenade von Asnelles aufgenommen. Sie hatte ein schwarzes Sommerkleid getragen. An der Kaimauer hinter ihr brach sich eine Welle, und die Gischt spritzte weit über Sandrine hinaus. Sie ahnte noch nicht, dass sie gleich darauf pudelnass sein würde, während sie lachend gegen den Wind ankämpfte, der sich in ihren dunklen Locken verfangen hatte.
Ihr Lachen hallte bis heute in seiner Erinnerung nach.
Cluzet liebte dieses Foto, weil es all ihre arglose Herzlichkeit und Fröhlichkeit widerspiegelte. Entsprechend lächelnd begrüßte er sie am Telefon.
»Guten Morgen, Urbain!«, antwortete sie verschlafen. Gleich darauf hörte Cluzet nur noch gedämpftes Gemurmel.
»Sandrine?«, unterbrach Cluzet sie. »Ich kann dich nicht verstehen.«
Es raschelte aus dem Lautsprecher, dann war ihre Stimme wieder hell und klar, wenngleich auch immer noch müde.
»Tut mir leid! Ich hab das Handy gegen das Kissen gedrückt.«
»Du bist noch im Bett?«
»Ja. Deshalb rufe ich an. Ich habe nicht gut geschlafen.«
Cluzet wartete darauf, dass sie ihm den Grund nannte, warum sie schlecht geschlafen hatte. Normalerweise hätte sie ihm sofort erzählt, was los war. Was war heute anders?
»Was hat dich wachgehalten?«, fragte er schließlich.
»Hm?«, kam nur zurück. Als hätte sie ihn nicht verstanden.
»Magst du mir erzählen, was los war?«
»Nein.«
Cluzet hob das Kinn, dass er verstanden hatte. Obwohl sie ihn nicht sehen konnte. Gleichzeitig ereilte ihn deutlich das Gefühl, dass sie etwas bedrückte.
»Aber es bleibt doch bei unserem Ausflug?«
»Natürlich. Wieso?« Plötzlich wirkte sie hellwach.
»Ich dachte nur .«, wich Cluzet aus. »Vielleicht möchtest du ja auch einfach mal einen Tag nur faulenzen.«
»Faulenzen? Ich?« Jetzt klang sie vorwurfsvoll. Fast so, als wollte sie ihm sagen, wie wenig er sie kannte. »Urbain, ich steh jetzt mal auf und mach mich fertig. Ich muss noch ein paar Sachen für unser Picknick vorbereiten. Ich komme so in einer Stunde und hole dich ab.« Sie verabschiedete sich von ihm und legte auf.
Cluzet ließ das Smartphone sinken und betrachtete es noch eine Weile. Sandrine war irgendeine Laus über die Leber gelaufen. Oder aber sie hatten schlechte Nachrichten erreicht. Das war wohl die wahrscheinlichste aller Erklärungen. Gerade wollte er das Smartphone auf den Messingtisch legen, zeigte es den Eingang einer Nachricht an. Sie war von Sandrine.
Cluzet öffnete und las sie: »Entschuldige. Ich war noch nicht richtig wach. Ich freue mich natürlich auf unseren Ausflug. Bis gleich!«
Cluzet lächelte. Wenn auch etwas zurückhaltend. Tatsächlich machte er sich gerade ein wenig Sorgen um sie. Er überlegte kurz, was er antworten sollte.
Dann tippte er: »Alles gut. Kenne ich.«
Kaum hatte er die Nachricht abgeschickt, fiel ihm auf, dass er durchaus missverstanden werden konnte. Also schickte er noch schnell hinterher: »Ich meine von mir.« Und weil er gerade dabei war, schrieb er ihr auch noch: »Lass dir Zeit! Ich kümmere mich um unseren Proviant.«
Aber die leichten Sorgenfalten auf seiner Stirn verschwanden erst, als Sandrine ihm ein lachendes Smiley zurückschickte.
Im Gras zwischen seinem Häuschen und dem Vieux Moulin hingen Tautropfen, die sich in Cluzets Hosenbeinen verfingen. Bis er die kleine Brücke über den Bachlauf hinter dem Vieux Moulin erreichte, waren seine Knöchel nass. Cluzet schüttelte vergebens seine Füße aus, als könnte er die Feuchtigkeit so loswerden.
»Mist!«, knurrte er kaum hörbar, beschloss aber, dem keine Bedeutung zu schenken. Schon als er sich in Hemd und Hose geworfen und die leichte Strickjacke übergezogen hatte, hatte ihn eigentlich nur beschäftigt, was Sandrine die Laune verdorben hatte. Der mangelnde Schlaf konnte es nicht sein. Als Polizistin war sie das mehr oder weniger gewöhnt. Irgendetwas war geschehen. So viel war sicher.
Allerdings hatte sie ihn daraus ausgeschlossen. Sie hatte es ihm nicht verraten wollen. Also sollte er sich womöglich nicht allzu sehr darauf versteifen. Jeder hatte ein Recht auf Privatsphäre. Und er musste nicht alles bis auf den Grund erforschen, nicht bei ihr.
Stattdessen, dachte er, als er die Terrasse des Vieux Moulin erreichte, sollte er sich darauf beschränken, sie aufzumuntern. Immerhin hatte er dafür einen ganzen Tag Zeit. Er würde sich ein bisschen ins Zeug werfen.
Cluzet hielt inne und wandte sich noch einmal dem Garten zu. Die Sonne sandte die langen Schatten der Bäume über die Blumenwiese. Die Luft war erfüllt von Blütenduft und eifrigem Vogelgezwitscher. Es zauberte ihm ein Lächeln ins Gesicht, das er gut brauchen konnte, wenn er sich bei Nathalie im Vieux Moulin mit etwas Brot und Käse versorgen wollte.
Cluzet sog den Duft tief durch die Nase ein und spürte, wie er ihm die Brust öffnete.
Etwas kitzelte an seiner rechten Wade. Er wollte schon kratzen, besann sich dann aber, zog das Hosenbein hoch und entdeckte eine grüne Raupe, die sich durch seine Beinhaare kämpfte.
»Wo willst du denn hin?« Er nahm sie mit spitzen Fingern von seinem Bein und setzte sie ins Gras am Rand der Terrasse. »Da ist dein Platz.«
Er beobachtete einen Moment lang lächelnd, wie sie sich wie eine Ziehharmonika durch die Halme arbeitete. Manchmal brauchte man nur jemanden, der einen wieder auf den richtigen Weg schubste, dachte er. Dann wandte er sich um und ging weiter Richtung Vieux Moulin.
Er stellte sich eine überladene Picknickdecke vor und war sich plötzlich sicher, dass es ein schöner Tag werden würde. Und Sandrine würde bestimmt alles andere vergessen.
Als er das große, stillstehende Wasserrad an der Giebelwand des Vieux Moulin passierte, hatte er sich gedanklich schon eine kurze Liste zusammengestellt, was er sich für das Picknick von Nathalie erbitten würde. Weintrauben, Äpfel, Baguette, etwas Käse und ein wenig Rindersalami.
Er selbst bevorzugte Pur Porc. Allein beim Gedanken daran, in eine dicke Scheibe der luftgetrockneten Salami zu beißen, lief ihm das Wasser im Mund zusammen. Aber Sandrine aß nun mal kein Schweinefleisch. Er würde also auf die Spezialität verzichten müssen.
Es war vielleicht kein großes Opfer - aber Sandrine war das wert. Auch, dass er nie ein Wort darüber verlor.
Als er sich der...