2
Es fühlte sich nicht richtig an.
Urbain Cluzet saß am Fenster und scrollte auf dem Tablet durch die ersten Nachrichten des Tages. Die schweren, grünen Vorhänge vor den hohen Fenstern waren bis auf einen Schlitz gegen die Morgensonne geschlossen. Tiefschwarzer, zuckerreicher Kaffee dampfte auf dem kleinen runden Tisch mit der Messingplatte, in die das Hoheitszeichen Frankreichs geprägt war. Die Tasse vibrierte gefährlich, als ein Bus an dem Pariser Stadthaus vorbeifuhr.
In der Luft hing noch der Geruch der warmen Zimtröllchen, die Cluzet sich jeden Morgen gönnte. Trotzdem fühlte er sich heute unwohl in seinem grünledernen Ohrensessel. Die Lokalzeitung berichtete auf Seite drei, dass der »Knurrer« die Kriminalpolizei in den Ruhestand verlassen hatte. Verbunden mit der Frage, wer all die großen und kleinen Verbrecher jetzt in Schach halten sollte.
Als »Knurrer« hatte Cluzet es zu einiger Prominenz gebracht. Über zwei Jahrzehnte hatte er als Garant dafür gegolten, dass im 1. Pariser Arrondissement, rund um die Île de la Cité, dem Palais du Louvre und dem Tuileriengarten kaum ein Verbrechen ungesühnt blieb. Nicht immer war er dabei ganz kritiklos davongekommen. Insbesondere, wenn die Journaille geglaubt hatte, dass mal wieder ein paar Taschendiebe viel zu milde davongekommen waren. Weil Cluzet den meist minderjährigen Tätern vor Gericht trotz allem eine gute Allgemeinprognose ausgestellt hatte. Dass er die Not der Jugendlichen erkannt und sie in einem Projekt untergebracht hatte, in dem sie eine fundierte Ausbildung erhielten, hatte Cluzet dabei nie an die große Glocke gehängt. Dafür feierte ihn die Presse, als er einige Schwerverbrecher geschnappt hatte.
Cluzet hatte mit dieser Art von Prominenz nichts anfangen können. Anfragen zu Interviews hatte er grundsätzlich abgelehnt. Und die wenigen Male, bei denen ihm auf den Treppen des Justizpalastes ein Mikrofon ins Gesicht gehalten worden war, hatte er nur Unverständliches geknurrt.
Was ihm seinen Spitznamen eingebracht hatte.
Der Knurrer.
Der jetzt in den Ruhestand gegangen war.
Cluzet nahm die Aufmerksamkeit der Presse mit leichtem Erstaunen zur Kenntnis. Erst vor drei Jahren war er vom Ersten Hauptkommissar zum Polizeirat befördert worden und hatte seither den Titel des »Commissaire de Police« getragen. Damit verbunden war der Wechsel herunter von der Straße, hinein in die Organisation und Koordination von Einsätzen. Es war, zumindest in der Öffentlichkeit, ruhiger um ihn geworden. Er hatte gedacht, dass man seiner Pensionierung wenig Aufmerksamkeit schenken würde.
Cluzet schloss die Apps auf dem Tablet und trug es zur neoklassizistischen Anrichte aus Nussbaumholz, die Ende des 19. Jahrhunderts den Weg in die Familie seiner Frau gefunden hatte. Wie auch die übrige Einrichtung des Wohnzimmers. Eine mehrmals neu aufgepolsterte, samtbezogene Sitzgruppe, bestehend aus Couch und zwei Sesseln sowie einem Chaiselongue. Gemälde mit Motiven aus der Seefahrt in schweren, dunklen Rahmen. Nur die Satintapete mit royalem Lilienmuster war über die Zeit mehrfach erneuert worden.
Cluzet hatte dabei sogar selbst mit Hand angelegt. Und die Kritik an den zwei Falten mitten auf der Wand zur Küche einfach weggeknurrt.
Die verglaste Tür der Anrichte knarrte, als Cluzet sie öffnete und wieder schloss, nachdem er das Tablet im Halter neben der Erstausgabe von Jean-Jacques Rousseaus »Die Kunst zu leben« platziert hatte. Das letzte Buch, das seine Frau ihm geschenkt hatte.
Sein graues Haar spiegelte sich wirr in der Glasscheibe. Er strich die widerspenstigen Strähnen glatt. Dann zog er den Gürtel seines braunen Morgenmantels enger um den ausladenden Bauch. Im Flur steckte er die Füße in graue Filzpantoffeln und verließ die Wohnung.
Als er im Treppenhaus im Erdgeschoss den Briefkasten öffnete, fielen ihm lediglich ein paar Prospekte entgegen. Die meisten priesen Reisen in ferne Länder an, die Cluzet nur ein amüsiertes Schnauben entlockten. Er wusste doch längst, wo er seinen Sommerurlaub verbringen würde. Wie jedes Jahr in Auciel Haute, seinem Geburtsort in der Normandie. Kein anderer Ort auf der Welt konnte ihm auch nur annähernd bieten, was .
Ein Klopfen an der Glasscheibe der Eingangstür riss Cluzet aus seinen Gedanken.
Eine attraktive Frau Anfang dreißig winkte ihm zu und deutete auf die Türklinke. Sie hatte langes, gewelltes, blondes Haar. Im Fensterausschnitt konnte Cluzet das dunkelblaue Kostümjäckchen über einer weißen Bluse sehen. Beides spannte am Körper.
Cluzet ging die paar Schritte zur Tür und öffnete sie.
»Ja, bitte?«
»Bonjour! Ich habe schon ein paarmal bei Monsieur Cluzet geläutet. Kennen Sie ihn zufällig?« Die Frau sah ihn konzentriert an. Was immer sie auch von ihm wollte, gut vorbereitet war sie nicht. Sein Konterfei war mehrmals in diversen Zeitungen und im Internet erschienen. Wie bei einer lokalen Berühmtheit.
»Kann schon sein«, antwortete Cluzet. »Warum?«
Die Frau lächelte professionell. »Das würde ich ihm dann selbst erklären. Können Sie mich hereinlassen? Dann versuche ich es bei ihm an der Wohnung.«
»Bedaure.« Cluzet lächelte ebenso professionell zurück und ließ die Klinke los.
Die Tür krachte zurück in den Rahmen.
Cluzet ließ die Prospekte auf den wackeligen, kniehohen Stapel Altpapier neben der Wohnungstür fallen, der daraufhin prompt umfiel.
»Mist!«, knurrte Cluzet und schob alles notdürftig mit dem Fuß zusammen. Dann holte er seine Tasse und sein Smartphone aus dem Wohnzimmer und ging in die Küche. Clement hatte ihm eine Nachricht geschickt. Auch einer der jungen Taschendiebe, die er von der Straße geholt hatte. Inzwischen betrieb er einen Limousinenservice mit Werkstatt und kutschierte Cluzet zum Dank meist kostenlos durch die Gegend. Für heute jedoch musste er Cluzet absagen. Alle Limousinen waren vermietet. Cluzet würde sich ein Taxi nehmen müssen. Eine dieser vor Dreck stehenden Kutschen, in denen noch der Geruch der letzten zwanzig Fahrgäste hing.
Cluzet schüttete den kalten Kaffee in den Ausguss und schenkte sich neuen ein. Er verbrannte sich die Zunge beim ersten Schluck und knurrte erneut: »Mist!«
Anschließend nahm er die Dose mit dem Vogelfutter aus dem sonst fast leeren Kühlschrank und ging damit ins Schlafzimmer.
Über Nacht musste er seinen Arm ins weiße Kopfkissen seiner Frau gedrückt haben. Oder hatte er im Schlaf sogar versucht, ihr näher zu kommen? Die Decke war ebenfalls verrutscht.
Cluzet stellte die Dose auf ihr Nachttischchen, direkt neben ihr trauerbeflortes Foto, strich das Kissen glatt und richtete die gefaltete Decke wieder. Bérénice hatte immer großen Wert darauf gelegt, dass sie zu beiden Seiten den gleichen Abstand zum Matratzenrand hatte. Genau drei Finger mussten jeweils rechts und links vom Laken zu sehen sein.
Es hatte sich in den fünf Jahren seit ihrem Tod als die schwerste Übung herausgestellt. Immer wieder hatte Cluzet die Decke aufgeschlagen, gefaltet und fein säuberlich ausgerichtet. Doch es war ihm lange nicht gelungen, ihre Ordnung beizubehalten. Bis er herausgefunden hatte, dass er zum Schluss nur etwas Luft aus der Decke streichen musste, damit alles passgenau war.
So auch diesmal.
Bérénice würde zufrieden sein.
Cluzet nahm ihr Foto und das Vogelfutter und trug beides ins Wohnzimmer. Er zog die schweren Vorhänge auf, öffnete die viersprossigen Fensterflügel und verteilte etwas Futter auf den Fenstersimsen. Dann stellte er Bérénices Foto auf die Fensterbank, sah zum Himmel und lächelte.
»Der kleine Michel aus dem zweiten Stock übernimmt das«, erklärte Cluzet. Obwohl Bérénice sicher längst wusste, dass er die Versorgung der Tauben während seiner zwei Urlaubswochen gesichert hatte.
Bérénice hatte ein Jahr vor ihrem Tod damit begonnen, die Tauben zu füttern. Am Tag nach ihrer Krebsdiagnose. Sie hatte ihm nie verraten, warum. Aber es hatte sie glücklich gemacht, ihnen zuzusehen, wie sie nach dem Picken mit den Flügeln schlugen und unterm Himmel dahinglitten. Und wenn sie ihn jetzt sehen könnte, wäre sie glücklich, dass er damit fortfuhr.
Der dunkle Türgong im Flur ging.
Cluzet knurrte etwas vor sich hin. Er hatte keine Lust zu reagieren. Er wusste ja, wer da zu ihm wollte. Die zielorientierte Frau vom Hauseingang. Als es aber auch noch an der Wohnungstür klopfte, blieb Cluzet wohl keine andere Wahl.
»Sie?« Die Frau sah Cluzet mit großen Augen an.
Sie hatte gerade noch an ihrer Aktentasche herumgenestelt, als Cluzet die Tür geöffnet hatte. Erst als sie zu ihm aufgesehen hatte, war ihr das Gesicht heruntergefallen.
»Wie es aussieht .«, antwortete Cluzet. Er nahm eine süßliche Parfümnote wahr, die ihm am Hauseingang entgangen war. Als sie sich wieder gefasst hatte, stellte sie sich als Fabienne Beringer vor. Inzwischen hatte sie auch ihr Kostümjäckchen und die obersten Knöpfe ihrer weißen Bluse geöffnet. Vermutlich, um zu verbergen, dass die Sachen spannten. Oder aber es sollte die Wirkung des berühmten Trinkgeldknopfes erzielen.
Unter Cluzets kritischem Blick schloss Fabienne einen Knopf wieder und setzte ein künstliches Lächeln auf. »Dann haben Sie mich ja vorhin ganz schön auflaufen lassen.«
»Oder aber .«, Cluzet strich sich über den Mund und rieb sich die Nase, um ein Niesen zu unterdrücken, »ich habe nur einfach keine Zeit für Sie.«
Fabienne Beringer sah an seinem Morgenmantel hinab, als wollte sie sagen: Ah, ja! Stattdessen aber zog sie eine Visitenkarte aus der...