KAPITEL 2
»Meiner Erfahrung nach nicht, nein«, sagt Truce einfühlsam.
Die Hand an Junes Hals flattert noch immer. Ihre Augen schießen von Seite zu Seite. »Ich verstehe das einfach nicht.«
»Warum erzählen Sie mir nicht einfach, was passiert ist?«
»Das habe ich doch schon alles zu Protokoll gegeben. Mehrmals.«
»Mehr als zwanzig Mal«, sagt Truce mit einem Lächeln. »Aber ich würde es lieber von Ihnen hören.«
»Haben Sie es denn gelesen?«, fragt June.
»Gehen Sie davon aus, dass ich kein Wort davon kenne«, sagt Truce. »Stellen Sie sich vor, ich wüsste überhaupt nichts, und fangen Sie ganz von vorne an.«
»Es ging mit Frankies Hund los«, sagt sie. Erneut zucken ihre Augen, diesmal nach links oben. Falls sie Rechtshänderin ist, würde so mancher Experte behaupten, sie schildere das Ereignis definitiv so, wie sie sich daran erinnere. Aber sie könnte sich genauso gut an die Geschichte erinnern, die sie schon so oft erzählt hat. Es verrät Truce also nichts. Was er sehen will, ist, ob sie irgendwelche körperlichen Ticks hat. Die flatternde Hand am Hals deutet darauf hin, dass sie nervös oder gestresst ist. Ein zuckender Fuß wäre ein großartiges Indiz, doch während Truce ihr dabei zuhört, wie sie ein weiteres Mal ihre Geschichte erzählt, bleibt sie nicht nur bei der Aussage, die er bereits in der Akte nachgelesen hat und die keinerlei Ungereimtheiten aufweist. Sondern auch ihre Füße bleiben standhaft, und er findet auch sonst keine offenkundigen Anzeichen, dass sie lügt. Dank des reichhaltigen Angebots an leicht verständlichen Büchern zum Thema Psychologie wissen die meisten Menschen um die Merkmale, anhand derer man Gefühlsregungen und Nervosität erkennen kann - zumindest was den Oberkörper betrifft. Das hat dazu geführt, dass sogar Leute, von denen man es am wenigsten erwartet, gelernt haben, die Bewegungen ihres Oberkörpers bewusst zu steuern, um zu verschleiern, was in ihrem Kopf vorgeht. Das Ganze ist wie ein Partytrick, den jeder kennt. Eine Notwendigkeit beim Speed-Dating und Bar-Flirten. Die wenigsten jedoch wissen, dass auch ihre Füße sie verraten können, und noch weniger Menschen haben die Bewegungen in ihren Füßen und Beinen unter Kontrolle.
»Sein Vater hätte ihm das Tier nie kaufen sollen. Wo seine Mutter doch seit zwei Monaten ein Baby hatte. Sie kriegt es einfach nicht hin, also bot ich ihr an, mit ihrem Hund spazieren zu gehen. Ein schwarzer Labradormischling, der jeden Tag kräftiger wird, aber dumm wie Bohnenstroh. Kein bisschen boshaft, aber stark bis zum Abwinken! Es war ungefähr sieben Uhr abends, also noch nicht dunkel, aber schon etwas trüber als tagsüber. Ich führte das Vieh in den nächsten Park. Kinder waren keine dort, daher ließ ich es von der Leine. Ich hatte ja meine Tüte in der Tasche, falls es irgendwo hinmachen sollte, und in der anderen hatte ich etwas Hühnchen, um das dumme Ding dazu zu bringen, dass es zurückkommt. Es ist zwar nur ein Bauch auf Beinen, aber ich finde es nicht fair, dass es den ganzen Tag lang in dieser winzigen Wohnung eingesperrt ist. Also denke ich mir, dumm wie ich bin: Armes Vieh, soll er doch ein bisschen Auslauf haben. Aber hallo, die vertrottelte Töle hat Vollgas gegeben. Wenn man das Gewicht bedenkt, ist der Köter ganz schön pfiffig auf den Pfoten, während ich in meinen besten Pantoffeln unterwegs war, und das im Sauseschritt, um auch ja schnell sein Geschäft zu bereinigen.«
Sie streckt sich nach ihrer Teetasse und nimmt einen Schluck. Ihre Hand hat automatisch am Henkel vorbeigegriffen und die Tasse umfasst. Truce begreift, dass sie für ihn das gute Porzellan auf den Tisch gestellt hat. Normalerweise trinkt sie aus Bechern. Was bedeutet es ihr wohl, ihr bestes Service aufzutischen? Er versucht sich zu entsinnen, wann seine eigene Großmutter zu den teuren Tassen griff. Nur zu ganz besonderen Ereignissen, meint er sich zu erinnern.
»Also, was ist passiert?«, fragt er sie aufmunternd.
»Der blöde Köter ist aus dem Park gerannt, die Gasse entlang Richtung Golfplatz. Wahrscheinlich hat er irgendeinen Hasen gesehen.«
»Und Sie sind dem Hund nachgelaufen?«
»So schnell ich konnte, was leider nicht sehr schnell ist.« Sie berührt ihre Hüfte. »Ich möchte zwar meinen, dass ich noch keine neue brauche, aber manchmal tut es doch ein wenig weh.«
»Haben Sie den Hund gerufen?«
»Nein. Ich dachte mir, dass er eh nicht auf mich hören würde, bis er seinen Hasen hatte, oder was er sonst jagte. Allerdings habe ich mich fast in Grund und Boden geflucht, das kann ich Ihnen sagen.« Sie schaut Truce unumwunden in die Augen. »Aber natürlich leise, falls doch Kinder in der Nähe sein sollten. Ich halte nichts davon, vor Kindern zu fluchen. Und das hat mir vermutlich das Leben gerettet.«
Truce legt den Kopf schräg, um zum Ausdruck zu bringen, dass er ihr zuhört. June holt tief Luft. »Ich erinnere mich nicht gerne daran, auch jetzt noch nicht«, sagt sie. Truce wartet und nach einer langen Minute fährt sie tapfer fort. »Ich eilte also den Pfad entlang, der am Golfkurs vorbeiführt. Malte mir schon aus, wie der Hund einen Verkehrsunfall verursacht oder seinen eigenen Tod herbeiführt und Frankie in Tränen ausbricht.«
»Sie waren also zutiefst aufgewühlt.«
»Ganz recht«, sagt June. »Ich habe mich nach allen Regeln der Kunst dafür verflucht, dass ich nicht angeboten hatte, die Kinder zu beaufsichtigen, damit die Mutter selbst mit dem Hund Gassi gehen könnte. Das hätte ihr gutgetan, und ich wäre nicht wie ein blindes Huhn hinter dieser verflixten Promenadenmischung hergelaufen. Verzeihung.« Wieder flattert Junes Hand an ihren Hals, als habe sie Angst, Truce werde sie für ihre harmlose Wortwahl verhaften. Er widersteht der Versuchung, sie zu beschwichtigen, dass er schon wesentlich Schlimmeres gehört hat. Stattdessen wartet er. Es fällt ihm leicht, diese Frau zu mögen. Inklusive Leoparden-Look.
»Hinter einer großen Eiche macht der Pfad eine Biegung. Ich war vom Baum verborgen, als ich darauf zuging, sodass ich den Wagen sah und stehen blieb, bevor man mich sehen konnte. Ein großes silbernes Ding, das mitten auf dem Grünstreifen stand. Die Scheinwerfer waren aus, und fragen Sie mich bloß nicht nach dem Hersteller. Ich habe nie gelernt, Auto zu fahren, da kenne ich mich also nicht im Geringsten aus.«
»Haben Sie das Nummernschild gesehen?«
»Schon möglich, aber ich hatte keinen Grund, darauf zu achten. Ich dachte, da läge ein Liebespaar drin. Beziehungsweise ein verheirateter Mann mit einem jungen Fräulein. Es war ein großer Wagen und Männer sind nun mal so. Wie dem auch sei, ich sprang zurück hinter den Baum. Ich wollte keinen Ärger und aus irgendeinem unerfindlichen Grund sagte mir mein Bauchgefühl, dass ich mir genau den einhandeln würde, sollte ich die Leute in dem Wagen stören.« Sie zögert. »Wir haben hier in der Gegend ein paar Männer, die sich für ganz schwere Jungs halten .«
»Schwere Jungs?«, fragt Truce.
»Die Genugtuung, sie Gangster zu nennen, gönne ich ihnen nicht. Schließlich handelt es sich bloß um ein paar verzogene Lümmel, die zu bösen Männern herangewachsen sind, aber wenn es ihnen in den Kram passt, sind sie sich nicht zu schade, das Gesetz mit Füßen zu treten .«
Truce sieht ein weiteres Handflattern und versteht, dass ihr das Thema zu unangenehm ist, um mehr darüber zu sagen, also belässt er es dabei.
». und es wäre mein typisches Pech, einen von denen mit einem Schulmädchen zu stören.«
»Konnten Sie denn sehen, ob jemand im Wagen war?«
»Nur den Kopf und die Schultern eines Mannes.«
»Warum sind Sie dann davon ausgegangen, dass er ein Mädchen bei sich hatte?«
»Ich dachte, sie wäre . Sie wissen schon . auf ihren Knien im Fußraum.« Junes rechte Hand flattert vor ihrem Hals herum wie eine Motte vor einer Flamme.
»Auf jeden Fall sind kurz darauf zwei andere Männer dazugekommen.«
»Können Sie die beiden beschreiben?«
»Nicht wirklich. Inzwischen war es ja schon ziemlich dunkel.«
»Haben sich die beiden Männer normal bewegt?«
»Wie meinen Sie das?«
»Hat einer den anderen irgendwie genötigt?«
»Oh, nein, keiner hatte den anderen im Schwitzkasten oder so was in der Art. Nein, sie unterhielten sich leise.«
»Okay. Fahren Sie fort.«
»Der Mann stieg aus dem Auto. Er war groß gewachsen, hatte breite Schultern und ich konnte erkennen, dass er etwas in der Hand hielt, eine Taschenlampe. Er schwang sie hoch und leuchtete einem der beiden anderen direkt ins Gesicht. Deshalb habe ich ihn ja so genau gesehen. Und im selben Moment schlug der andere Mann - der war übrigens kleiner und schlanker als der im Auto - dem von der Taschenlampe geblendeten mit irgendwas auf den Kopf. Was das war, habe ich nicht gesehen, aber es muss schwer gewesen sein, weil er zusammenbrach und liegen blieb. Dann haben die beiden anderen ihn in den Kofferraum gehievt.« June verstummt. Ihre Atmung ist gehetzt und eine dünne Schweißschicht steht ihr auf der Stirn.
»Wie kommen Sie darauf, dass der Mann tot war?«, fragt Truce.
»Abgesehen von der Tatsache, dass er zusammengebrochen ist, als hätte ihn der Blitz erschlagen?«
»Ich möchte nicht unverschämt klingen, June, aber manche Menschen haben harte Schädel.« Jetzt, wo sie mitten in ihrer Erzählung steckt, geht er zur persönlichen Anrede über, um eine Nähe und Vertraulichkeit zu erzeugen. Zumindest erhofft er sich dieses Resultat.
»Ja, das mag stimmen, aber die Sache ist die: Als sie den Körper zum Kofferraum schleppten, wurden sie richtig sauer aufeinander. Der eine schien dem anderen für irgendetwas Vorwürfe zu machen.«
»Haben Sie...