Schweitzer Fachinformationen
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«Big Data!»
Die Wörter blinken auf der Leinwand, Jake lächelt und zeigt schneeweiße Zähne. Jeder Zentimeter an ihm strahlt aus, dass er zu den Profis des neuen Jahrtausends gehört, von der makellosen Gelfrisur bis runter zu den auf Hochglanz polierten Schuhen. Er trägt Jackett, aber keine Krawatte, und seine Designerjeans hat mehr gekostet, als das Durchschnittspaar für einen Wochenendtrip ausgibt. Er ist ein Querdenker, der sich trotzdem im Rahmen der Konventionen bewegt. Hip und solide. Das ist sein Motto. Exakt so will er sein; Vordenker, Trendsetter - und gleichzeitig einer, auf den man sich hundertprozentig verlassen kann. Tradition trifft Moderne in charmanter Fünf-Sterne-Verpackung. Alle Gesichter im Raum sind ihm erwartungsvoll zugewandt, doch sein sexy Zwinkern gilt mir. So unwahrscheinlich es klingen mag, aber dieser Typ gehört zu mir.
Na ja, nicht ganz. Aber wir sind uns auch darüber einig, dass wir noch nicht heiraten wollen. Jake meint, heiraten liegt im Augenblick nicht im Trend. Die Statistik besagt, dass immer mehr junge, karriereorientierte Paare ohne Trauschein zusammenleben, und die Datenkorrelation zeigt, dass sich unverheiratete Frauen Ende zwanzig - so wie ich - hinsichtlich ihrer Karriere besser entwickeln als ihre frisch vermählten Altersgenossinnen. Jake sagt, das liegt daran, dass jene Frauen, die die Leiter langsam hochklettern, früher Kinder kriegen, während die Kletterfreaks die Familienplanung auf Ende dreißig oder sogar Anfang vierzig verschieben. Er hat zum Beleg dafür Tonnen von Daten herangezogen. Jake meint, es sei für meine Karriere wichtig, dass wir noch nicht heiraten. Für mich ist das in Ordnung. Wir sind so eng, wir brauchen keinen Standesbeamten, der unserer Beziehung eine Lizenz erteilt. Und zu wissen, dass er auch ohne Ehering zu mir steht, hat was Besonderes. Meine beste Freundin May guckt mich immer etwas schief an, wenn ich ihr das erzähle. Aber man muss nun mal Kompromisse machen im Leben.
Inzwischen erklärt Jake, warum die Firma dringend in neue Server investieren muss und dass wir absolut auf Big Data angewiesen sind, um weiter zu den Top Playern gehören zu können. Überall im Raum nickende Köpfe. SkyBluePink - oder kurz und knackig SBP - gehört zu den sich am schnellsten entwickelnden Firmen für Digitales Marketing weltweit. Wir sind stolz darauf, für Themen wie Big Data offen zu sein. Die Tatsache, dass wir alle gerne hier sitzen, um Jakes Rede zu hören, obwohl wir wissen, dass gleich danach die Weihnachtsfeier beginnt, darf als Maßstab für unser Engagement betrachtet werden.
Während ich seinem Vortrag lausche, meldet sich trotzdem eine leise Stimme in mir, die sich fragt, ob Big Data nicht einfach nur ein schickes Wort für das Sammeln riesiger Datenmengen ist, und das tun wir doch sowieso schon. Ich arbeite als Datenanalystin. Was ich mit Excel nicht hinbekomme, kann mit Excel nicht gemacht werden. Trotzdem steht Jake da vorne und sagt, es reicht nicht, wir müssten noch größer, breiter, tiefer denken.
Eigentlich kann ich das alles schon auswendig. Er hat zu Hause wochenlang für diesen Auftritt geprobt. Ich wende mich ab und schaue zum Fenster in die Dunkelheit hinaus. Es ist ein regnerischer Winterabend. Seit wir mit SBP auf die Royal Mile gezogen sind - mit Unterstützung einer Initiative der Stadt Edinburgh zur Neubelebung des Stadtzentrums, bei deren Marketing wir witzigerweise selbst mitgewirkt haben -, ist der Blick aus dem Fenster gefährlich verlockend. Früher waren wir in einem trendigen Lagerhaus am Stadtrand untergebracht, jetzt sitzen wir in einem imposanten sanierten Altbau in der Altstadt. SBP hat sämtliche Wände rausgeschlagen und einen riesigen offenen Workspace ohne feste Arbeitsplätze geschaffen. Ich versuche immer, einen Schreibtisch direkt am Fenster zu ergattern. Und weil ich auf meinem Rechner über Nacht Programme laufen lasse, habe ich auch einen Grund, mir immer denselben Tisch zu schnappen. Jake findet, ich hätte einen Reviertick.
Draußen ragt St. Giles mächtig in den Himmel auf, so finster, als würde die Kathedrale alles Licht verschlucken. Sie steht seit Jahrhunderten mitten auf der Royal Mile, unbeeindruckt vom Kommen und Gehen der Menschen und ihrer Geschäftigkeit. Direkt davor ist das Heart of Midlothian in den Straßenbelag gepflastert. Dort, wo früher das alte Gefängnis stand, wird von jedem echten Schotten quasi erwartet, auf die Straße zu spucken - als Zeichen seiner Verachtung für das, was früher an der Stelle vor sich ging. Direkt daneben schließt sich der herrlich wirr zusammengeschusterte Georgian Parliament Square an. Ich kann die Lichter der Sternsänger sehen, die sich auf dem Platz versammelt haben. Dort ist ein kleiner Weihnachtsmarkt aufgebaut, inklusive Maronenstand. Er füllt sich gerade mit Familien und Leuten, die schon Feierabend haben. Ich seufze tief. Ich wäre jetzt auch gern da unten. Es ist nur ein winziger Teil des offiziellen Adventsprogramms der Stadt, aber es war meine Idee. Ein Stückchen Dickens'sche Weihnacht im Herzen der Altstadt. Etwas romantisches Flair als Kontrast zu den grellen Lichtern der Princess Street und den Verlockungen der Designer-Outlets. Der Markt ist mein persönliches kleines Stück Weihnachtszauber, aber das ist natürlich in der schnelllebigen Welt des Digitalen Marketings eine sehr kleine Hausnummer.
Dann erblicke ich mein Gesicht im Fenster, eine gespenstische Spiegelung über der fröhlichen Szenerie. Ich sehe traurig aus, dabei gibt es gar keinen Grund dafür. Meine schulterlangen dunklen Locken wirken schlapper als sonst und hängen nach vorne über mein ungewöhnlich herzförmiges und dadurch derzeit ganz und gar nicht im Trend liegendes Gesicht. Ich sitze seitlich verdreht, um aus dem Fenster zu schauen, und mir fällt auf, wie schmal meine Schultern wirken. Das ist gut, glaube ich. Jake sagt, ein paar Pfund weniger würden mir gut stehen. Er meint das nicht kritisch, aber unsere Branche ist nun mal sehr imagebewusst. Ich werfe meinem Spiegelbild ein Lächeln zu, nehme die Schultern zurück und drehe mich wieder um. Spiele selbstsicher, und du bist selbstsicher, rezitiere ich still. Während ich den Blick vom Fenster löse, fällt mir auf, dass es draußen angefangen hat zu schütten. Die Leute auf dem Weihnachtsmarkt tangiert das nicht. Wir sind hier schließlich in Edinburgh. Man rechnet mit Regen in dieser Stadt. Ich muss blinzeln. Indirekte Beleuchtung ist out, und SBP hat in der Decke über jedem Tisch helle Halogenleuchten installiert, außerdem ein großes Scheinwerfergestell und Projektionssystem, das die riesige schwarze Rückwand des Büros bei Bedarf in ein Präsentationszentrum verwandelt. Den Laptop unauffällig neben sich, holt Jake an Effekten aus seiner Präsentation, was geht. Nach exakt dreiunddreißig Minuten kommt er zum Ende. Die perfekte Länge. Die Statistik sagt nämlich, dass die Leute sich bei fünfundvierzigminütigen Präsentationen anfangen zu langweilen und alles, was kürzer als dreißig Minuten dauert, für oberflächlich halten.
Er beendet den Vortrag mit der Passage, die er immer wieder vor dem Badezimmerspiegel geübt hat: «Liebe Kollegen. Hier geht es nicht darum, was ich glaube. Hier geht es um das, was die Daten uns verraten. Die Herausforderung ist riesig, aber ich weiß, dass wir bei SBP große Herausforderungen lieben. Wenn wir auch in Zukunft ganz vorne mitspielen wollen, müssen wir in Big Data investieren, Big Data leben.»
Die Leute applaudieren frenetisch. Linda, unsere Geschäftsführerin, ein Fashionfreak Anfang vierzig, erklärt die Party für eröffnet und lenkt unsere Aufmerksamkeit auf die Wodka-Eisrutschen, die inzwischen hereingerollt wurden. Unbemerkt, weil alle an Jakes Lippen gehangen hatten.
Eine halbe Stunde später befinde ich mich vor der Eisskulptur eines nackten Mannes. Wo der Schnaps da wohl rauskommt? Irgendwer gießt Chili-Wodka für mich in die Rille. Oh Gott, wie ich diese Spielchen hasse. «Lucy! Lucy!» tönt die Menge um mich herum, während ich darauf warte, dass der eiskalte Kick mich trifft. Wenn ich den Mund schnell genug wieder schließe, landet das meiste wahrscheinlich in meinem Gesicht. Das bringt alle zum Lachen und bewahrt mich davor, so betrunken zu werden, dass mir meine Beine nicht mehr gehorchen. Dies ist leider nicht meine erste Wodkarutsche. Die Kälte unterdrückt das Brennen, und man glaubt, man könnte viel mehr trinken, als man in Wirklichkeit verträgt. Bei so einer Gelegenheit sind Jake und ich vor fünf Jahren zusammengekommen. Was natürlich toll ist, aber am nächsten Tag ging es mir trotzdem grottig.
Jake war schon dran. Er hat zwar inzwischen sein Jackett verlegt, schwankt jedoch nur ganz leicht. Kelly Martin hingegen hat es wie üblich übertrieben und hängt leicht derangiert auf dem runden roten Sofa. Ich frage mich flüchtig, was mein Dickens'scher Weihnachtsmarkt wohl macht, als der erste eisige Schluck mich trifft. Mein Timing ist schlecht, und ich bekomme die volle Ladung ab. «Lucy!», grölt die Menge erneut. «Einer geht noch!», schreit jemand. Die anderen stimmen ein. Ich huste leicht, schlucke den Schnaps runter und schaue zu der Eisrutsche hoch. Was soll's. Wer A sagt, muss auch B sagen.
Weitere fünf Stunden später sage ich nicht mehr B, sondern nur noch Weh. Mein Kopf pocht. Ach was, er hämmert. Ich habe keine Ahnung, wie ich nach Hause gekommen bin. Ich liege auf dem Sofa im Wohnzimmer. Glücklicherweise ist es eins von diesen breiten Dingern, die eher wie ein Bett aussehen - bloß tut das leuchtende Orange mit den...
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