Schweitzer Fachinformationen
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»Stillhalten«, sagte Konrad. Das norddeutsche Mädchen saß am Rand der Kücheneckbank und hielt ihm stumm die verletzte Hand entgegen. Nun, da die Wunde ausgewaschen war, begutachtete er die Blessuren in Ruhe im grellen Licht des Fensters. Die Sache sah hässlich aus, war aber weniger schlimm als im ersten Moment befürchtet. Er griff zum Desinfektionsspray und bemerkte, wie sich Neles Körper anspannte.
»Tut nicht weh«, sagte er. Dennoch verzog sie ihr Gesicht, als der feine Nieselregen auf ihrer Haut niederging; wahrscheinlich eher in der Erwartung von Schmerz als vor echtem.
»Du hast gesagt, du lebst hier mit deiner Mutter«, sagte die Deutsche plötzlich. Die grün gefärbte Strähne in ihrem ansonsten dunklen, schulterlangen Haar hing ihr ins Gesicht. Konrad nickte. Ja, das hatte er ihr während der kurzen Traktorfahrt erzählt, weil sie danach gefragt hatte. »Aber sie ist nicht da«, sagte Nele. Der Satz klang wie ein Vorwurf.
»Sie wird irgendwo unterwegs sein«, antwortete Konrad. »Einkaufen. Am Friedhof. Bei der Nachbarin.« Er zuckte mit den Schultern. Woher sollte er wissen, wo sich seine Mama wieder herumtrieb.
»Wenn du so ein Perverser bist«, fauchte Nele, »der junge Frauen nach Hause verschleppt und sie im Keller einsperrt, dann trete ich dir in die Eier.«
Daher wehte der Wind also, dachte Konrad. Wäre seine Mutter zu Hause gewesen, hätte sich das Mädchen sicherer gefühlt.
»Ich weiß nicht, ob du es mitbekommen hast«, erwiderte er, »aber ich mach das hier nicht freiwillig.« Er ließ die Worte nachhallen. »Der Spray muss kurz einwirken, danach sind wir bald fertig.« Wenn sie nicht wollte, würde er das junge Ding eben nicht heim bringen. Je früher er sie wieder los war, desto besser. Er hatte genug auf dem Hof zu tun, auch ohne, dass er für irgendeine Klimakleberin Sanitäter spielte. Nele antwortete nicht, sondern blieb stumm auf ihrem Platz sitzen.
Stille breitete sich in der Küche aus. Nur die Fliegen surrten über dem Herd - und ihr Surren war Konrad unangenehm. Leute aus der Stadt wussten nicht, wie schwierig es auf einem Bauernhof war, die Fliegen fernzuhalten, und zwar selbst dann, wenn man auf Sauberkeit achtete. Und bei ihnen war es weiß Gott sauber. Dafür sorgte seine Mutter.
»Gefällt's dir bei uns am Land?«, fragte Konrad um die peinliche, surrende Stille zu überbrücken, während der Spray immer noch feucht auf Neles Handfläche schimmerte. Bei jedem Satz bemühte er sich, Hochdeutsch zu sprechen. Redete er normal, verstand sie ihn nicht, das hatte er bereits auf der Straße gelernt, als er sie nach ihrem Namen gefragt hatte. Gleich, nachdem Traudl und Matthias abgehauen waren. Die Deutsche ließ einen Laut hören, den Konrad nicht einordnen konnte. War es ein Seufzen? Ein spöttisches Schnauben? Oder ein nervöses Lachen? Eine Antwort erhielt er jedenfalls nicht.
Konrads Blick fiel auf das leere Glas am Küchentisch. Er stand auf und ging zum Kühlschrank, um einen zweiten Saft herzurichten. Den ersten hatte Nele gierig in wenigen Schlucken getrunken. Kein Wunder. Das Mädchen musste lange Zeit in der prallen Sonne gesessen sein. »Schon ganz anders hier als in Hamburg, oder?«, machte Konrad einen neuen Versuch, die Fliegen zu übertönen, während er einen Schuss Himbeersirup mit kaltem Mineralwasser mischte. Wenig Sirup, viel Wasser - so wie er es als Kind am liebsten getrunken hatte, wenngleich seine Oma vom Gegenteil überzeugt gewesen war.
Warum auch immer.
»Allerdings«, antwortete die Deutsche und obwohl Konrad mit dem Rücken zu ihr stand, konnte er hören, dass sie die Augen verdrehte.
»Du willst gar nicht hier bei uns sein, hab' ich Recht?«, fragte er als er das Glas auf den Tisch stellte. Dieses Mal war es einfach, ihren Laut zu deuten: Nele schnaubte verächtlich.
»Meine Eltern brauchen Erholung von mir«, sagte sie. Konrad war sich nicht sicher, ob das ein Witz gewesen war, und wenn ja, auf wessen Kosten.
»Bist du so .?« Er suchte nach einem passenden Wort. »Anstrengend?«
»Ich bin ein rebellischer Geist«, war ihre prompte Antwort. Eine Wortwahl, die sie offensichtlich nicht zum ersten Mal verwendete. »Deswegen haben sie mich hierhergeschickt. Als Strafe.«
Konrad wollte dieses Thema nicht vertiefen. Zum einen ging es ihn nichts an, zum anderen hörte er es nicht gerne, dass jemand in seinen Heimatort >strafversetzt< wurde. Wo waren wir denn hier? In Sibirien? Er nahm wieder auf dem Stuhl ihr gegenüber Platz und musterte erneut ihre Wunde.
»Der Matthias ist ein Trottel«, sagte er, als könnte er dies aus ihrer Hand ablesen. »Ich mein' den Dachdecker, der dich von der Straße gerissen hat. Ein Grobian. Ganz wie sein Vater.« Er würde ihr eine Kompresse anlegen und dann wären sie fertig. »Aber in einem hatte er schon recht«, fuhr Konrad fort, während er sich die notwendigen Dinge zurechtlegte. »Warum klebst du dich ausgerechnet bei uns fest? Das macht doch keinen Sinn.«
Auf diese Frage schien Nele nur gewartet zu haben.
»Ihr seid doch auch schuld an der Klimakatastrophe!«, schmetterte sie ihm entgegen.
»Wer?«
»Na ihr! Hast du gewusst: Ein Haushalt am Land bläst zig Tonnen mehr CO2 in die Luft als einer in der Stadt. Wenn man es pro Kopf berechnet.« Er konnte ihrer offensichtlich einstudierten Argumentation kaum folgen, so seltsam kam ihm immer noch ihr >Du< vor. Er hatte gedacht, dass man sich in deutschen Großstädten siezte. Gerade bei diesem Altersunterschied. »Aber ihr müsst ja unbedingt überall diese gigantischen Einfamilienhäuser hinbauen, die .«
»Jetzt ist aber gut«, unterbrach Konrad ihren Redefluss unwirsch und tatsächlich verstummte Nele. »Schau dich um. Ist das hier ein Einfamilienhaus?« Er hatte die Frage so scharf gestellt, dass keine Antwort kam. Und das war auch gut so. Er beugte sich über ihre Wunde und begann damit, die Mullbinde um ihre Hand zu wickeln. »Unser Hof steht hier seit 1650«, fuhr er genervt, aber weniger harsch fort. »Seit fast vierhundert Jahren machen wir hier Milch.« Hatte er gedacht, sein beißender Ton hätte die Teenagerin eingeschüchtert und ihre Predigt zum Erliegen gebracht, so hatte er sich getäuscht. Und zwar gewaltig.
»Perfektes Beispiel«, sagte Nele und klang dabei seltsam froh. »Kennst du die Klimabilanz deiner Kühe? Weißt du eigentlich, wie viel Treibhausgase die Landwirtschaft verursacht?« Konrad erkannte eine rhetorische Frage, wenn er eine hörte. Gleich würde das Mädl mit irgendwelchen Zahlen nur so um sich werfen, aber genau das würde er verhindern.
»Hysterisches Tamtam«, unterbrach er sie und fragte sich im selben Moment, ob man dieses Wort in Deutschland überhaupt verstand. »Früher war das >Waldsterben< jede Woche in der Zeitung. Dann das >Ozonloch<.«
»Aber .«
»Nichts aber«, unterbrach sie Konrad erneut. »In Wahrheit geht es doch nur ums Geld«, brachte er die Sache für sich auf den Punkt. »Die Medien bauschen das Ganze auf .«
»Und was ist mit der Wissenschaft?«, fragte Nele hitzig.
»Was soll mit der Wissenschaft sein?«, fragte Konrad zurück und begutachtete die fertig angelegte Kompresse. Von ihm aus konnten sie aufhören zu diskutieren. Er war sich sicher, dass er mehr von >der Wissenschaft< verstand als das junge Ding - aber auch, dass Nele das nicht glauben würde.
»Na, es ist doch die Wissenschaft, die seit Jahrzehnten vor der Klimakatastrophe warnt! Weißt du eigentlich, was da auf uns zukommt?« Konrad wusste, was auf ihn zukam: die nächste einstudierte Predigt. »Hungersnöte, Überflutungen, Dürren, Wasserknappheit. Millionen werden sterben und über hundert Millionen werden sich auf den Weg machen. Schon heute .«
Weiter kam sie nicht, denn plötzlich war Motorenlärm zu hören. Hochtourig. Wie eine mechanische Gelse. Beide blickten sie zum offenen Fenster und sahen einen übergewichtigen Mann auf einem Moped auf den Hof zurasen. So schnell es das Moped eben erlaubte. Ohne Helm und in einem blauen Arbeitsoverall mit kurzen Ärmeln. Konrad erkannte das Gesicht erst spät - so überrascht war er vom Anblick.
»Wer ist das und was will er hier?«, fragte Nele. Sie war aufgestanden und sah plötzlich blass aus. Die Hitze der geführten Debatte war aus ihrem Gesicht gewichen. Offensichtlich war sie seit dem Zwischenfall auf der Straße verschreckt - zumindest, wenn sie nicht gerade mit Konrad diskutierte.
»Ich hab' keine Ahnung, was er hier will«, antwortete Konrad ohne seinen Blick vom Fenster abzuwenden. »Aber du müsstest ihn kennen.« Die Teenagerin ließ ein verwirrtes »Hä?« hören. Es war offensichtlich, was sie dachte: Sie kannte hier in der Gegend doch so gut wie niemanden. »Das ist der Nachbarbauer deiner Oma«, erklärte Konrad. Der Mann hieß Veit und war im ganzen Ort dafür bekannt, fünf Töchter zu haben, die gemeinsam musizierten. Genre: Volkstümlicher Schlager. Größter Hit: >Morgen ist auch noch Zeit<. Er hatte im vergangenen Monat seinen 55. Geburtstag gefeiert und ungefähr genauso viele Kilo zu viel auf den Rippen.
»Oh«, sagte Nele leise.
»Oh?«, fragte Konrad zurück, während Veit vor dem Hof anhielt und aus ihrem Blickfeld in Richtung der Haustür verschwand. Und zwar in einem überraschend hohen Tempo für seine Gewichtsklasse.
»Dann weiß ich, was er hier will«, sagte Nele leise und setzte sich ohne ein weiteres Wort...
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