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T Was Sie in diesem Kapitel lernen können
Die Betrachtung der sozialen Effekte und Erscheinungsformen von Emotionen - z.?B. ihre Rolle in Hinblick auf gesellschaftlichen Zusammenhalt oder auch im Kontext von Handlungsmotivationen - beschäftigt ganz unterschiedliche wissenschaftliche Disziplinen, wenn auch mit zum Teil sehr unterschiedlichen Fragestellungen. Im Fokus stehen dabei Fragen danach, wie Handlungen zustande kommen und welche Rolle Emotionen dabei spielen, aber auch welche Effekte Handlungen und Entscheidungen in ganz unterschiedlichen Sphären von (modernen) Gesellschaften - wie Wirtschaft, Soziales, Politik, Glauben - haben können. Dabei geht es sowohl um die Mikroebene (Akteur*innen und ihre Beziehungen) als auch um die Mesoebene (Gruppen oder Institutionen) sowie die Makroebene (Gesellschaften bzw. gesellschaftliche Teilsysteme).
Im Folgenden werden wir exemplarisch verdeutlichen, wie unterschiedliche Wissenschaftsdisziplinen auf Emotionen schauen und mit welchen Fragestellungen sie sich diesem Gegenstand nähern.
Dabei beschränken wir uns hier auf die Soziologie und Psychologie als Bezugswissenschaften der Sozialen Arbeit sowie auf spezielle Beiträge aus der Geschichtswissenschaft, bevor wir uns im darauffolgenden Kapitel 3 mit der Betrachtung von Emotionen in der Wissenschaft der Sozialen Arbeit im engeren Sinne befassen.
Folgt man Konstanze Senge (2013, o.?S.), breitete sich im 21. Jahrhundert ein emotional turn aus, der sich als »disziplinübergreifend« erweist und sich zum Beispiel als deutliches Interesse an dem »Gefühlsleben« von Individuen in der Gesellschaft ausdrückt. Im Speziellen lässt sich dieser turn jedoch in den »durch Kalkulation und Berechnung dominierten Bereichen wie Wirtschaft und Management« ausmachen (ebd.).
In diese Entwicklung bettet Senge dann auch die Etablierung der Emotionssoziologie als Subdisziplin der Soziologie ein, wobei im Vergleich der nordamerikanischen, europäischen und deutschen Debatte Unterschiede in der Konturierung einer eigenständigen Subdisziplin ausgemacht werden können.
Die Gründungsjahre der eigenständigen soziologischen Befassung mit Emotionen siedelt Senge in den 1970er Jahren in Nordamerika an. Auch wenn sich in als Klassiker der Soziologie bezeichneten Werken (z.?B. bei Simmel oder Durkheim) bereits eine Auseinandersetzung mit Emotionen nachzeichnen lässt, waren die bis dato prägenden soziologischen Prämissen eher durch einen mehr oder weniger »impliziten Kognitivismus« geprägt (Senge, 2013, S. 13). Damit wurde die Bedeutung von Emotionen für die gesellschaftliche Ordnungsbildung und für Handlungen bzw. Handlungsmotivationen stark vernachlässigt und unterschätzt. Dies traf beispielsweise auf den funktionalistischen Ansatz von Parsons zu, der Emotionen eher als Hindernis für eine (instrumentelle) Zielerfüllung verstand und sie damit als zu vernachlässigende Größe »für das Zustandekommen sekundärer Institutionen in modernen Gesellschaften« begriff und Handlungsmotivationen als »durch >affective neutrality< geprägt« verstand (ebd.).
In den frühen 1970er Jahren änderte sich diese Betrachtungsweise in der Soziologie allerdings und der funktionalistische Ansatz wurde zum Beispiel aus interaktionstheoretischer Perspektive heraus stark kritisiert. Mit gesellschaftlichen Ereignissen und Entwicklungen wie dem Vietnamkrieg, aber auch dem Entstehen von neuen sozialen Bewegungen rückten in der Gesellschaftswissenschaft Soziologie neue Fragen in den Vordergrund. Damit stieg das wissenschaftliche Interesse an Konflikten und gesellschaftlichen Widersprüchen, Prozessen und Bewegungen. Es ging um die (Weiter-)?Entwicklung von Konflikttheorien und so traten die Rolle von Emotionen bzw. »emotionale Energien« und deren Bedeutung für die »Stratifikation moderner Gesellschaften« ins Zentrum der Aufmerksamkeit (ebd., S. 14).
Dazu etablierten sich weitere Themenfelder, in denen die Rolle von Emotionen soziologisch untersucht wurde. Einen Schwerpunkt bildeten Arbeiten, die sich mit Emotionen in Arbeitsprozessen und Organisationen auseinandersetzten: Bis heute rezipiert wird die Studie »The Managed Heart. Commercialization of Human Feeling« (1983) von Arlie Russell Hochschild, in der sie mittels eines dramaturgischen Ansatzes untersucht, wie Emotionen in Dienstleistungsberufen als Teil der verkauften Arbeitskraft präsentiert und gemanagt werden müssen (?Kap. 3.2).
Ab den 1980er Jahren kamen Beiträge hinzu, denen es um integrative Perspektiven ging. Dies traf zum Beispiel auf den Ansatz von Thomas Scheff zu, der eine psychoanalytisch-interaktionistische Perspektive auf Emotionen einnahm und so versuchte, die verschiedenen Herangehensweisen miteinander ins Gespräch zu bringen. Für diese »Pionierphase« der US-amerikanischen Emotionssoziologie bilanziert Senge, dass
»[d]?ie turbulenten Zeiten der 1970er und 1980er Jahre, das Aufleben der Frauenbewegung, der Friedensbewegung und des >Black Movement< zeigten, wie wichtig die menschliche emotionale Verfassung für das gesellschaftliche Zusammenleben war« (Senge, 2013, S. 15).
Diese ersten emotionssoziologischen Arbeiten interessierten sich letztlich für die Zusammenhänge zwischen Emotionen, Identität und sozialer Ordnungsbildung. Auf diese Pionierphase folgte eine der Professionalisierung und Verstetigung; themenspezifische Konferenzen wurden durchgeführt und Netzwerke und Vereinigungen gegründet.
In Europa setzte der emotional turn zeitverzögert ab ca. Mitte der 1990er Jahre ein, also zehn bis 15 Jahre später. Die ersten Beiträge kamen vor allem aus Großbritannien und Skandinavien, ohne dass ein klarer einheitlicher Fokus erkennbar gewesen wäre (ebd., S. 16?ff.). Zur Etablierung und Durchsetzung emotionssoziologischer Konzepte und Fragestellungen in Deutschland trugen die Arbeiten von Brigitte Nedelmann, Jürgen Gerhards oder auch Helmut Kuzmics bei (vgl. im Überblick dazu Senge, 2013, mit entsprechenden Nachweisen). Als weitere wichtige Protagonist*innen der deutschen sowie europäischen Emotionssoziologie sind zudem Sighard Neckel (»Status und Scham«, 1991) sowie Helena Flam (»The Emotional >Man<«, 1990a; 1990b) zu nennen, die »von Beginn an bis heute das Feld mit zahlreichen Publikationen prägten und prägen« (Senge, 2013, S. 18). Senge vermutet, dass die zunehmende Auseinandersetzung mit Emotionen in den 1990er Jahren möglicherweise auch durch die weitgreifenden gesellschaftlichen Umbrüche und Transformationen in sozialistischen bzw. kommunistischen Staaten geprägt war. Beginnend Mitte der 2000er Jahre nimmt sie eine neuere Entwicklung wahr, mit der sich eine »zweite Generation deutscher Emotionssoziologen« etablierte (vgl. Senge, 2013, mit entsprechenden Nachweisen). Angesichts historischer Ereignisse wie dem Terroranschlag auf das World Trade Center und dem in der Folge erklärten »Krieg gegen den Terrorismus«, aber auch im Licht »neue?[r] wissenschaftliche?[r] Erkenntnisse in den Kognitionswissenschaften« und eines damit in Zusammenhang stehenden Umdenkens in der Ökonomie kam es zu einer »neuen Problematisierung emotionaler Mächte« (ebd., S. 18).
Aufgrund der vielfältigen Themenstellungen bleibt zu fragen, was denn nun eigentlich den Kern der Emotionssoziologie ausmacht, was der Gegenstand dieser soziologischen Subdisziplin ist. Laut Senge ist die Emotionssoziologie selbst Teil und Ausdruck des emotional turns und der Wiederentdeckung der Gefühle. Sie habe sich damit einem Bereich zugewendet, »der sich seit jeher gegen eine wissenschaftliche Durchdringung widerspenstig gesperrt hat« (ebd., S. 12).
Ob dies auf Emotionen insbesondere zutrifft, sei dahingestellt - aber mit Blick auf die Frage, was »die Emotionssoziologie gegenüber anderen Disziplinen für ein besseres oder anderes Verständnis von Emotionen« leisten kann, verweist Senge auf die
»Aufgabe, ihrerseits ein Modell zu erarbeiten, welches sowohl die primären, unkonditionierten als auch die kulturell und kognitiv geprägten Emotionen integrieren kann, welches offen ist für verschiedene Funktionen emotionalen Erlebens, welches soziale Beziehungen und Prozesse mittels der Zuhilfenahme von Emotionen besser verstehen und erklären kann sowie vice versa und vor allem welches Emotionen als eigene, gesellschaftlich hochrelevante, soziologische Kategorie begreift, die sich gerade nicht in den Rahmen einer Subdisziplin ausgrenzen lässt. Dies setzt voraus, dass die Emotionssoziologie zu den zentralen soziologischen theoretischen Kategorien Stellung bezieht« (Senge, 2013, S. 26).
Letztlich könne eine dezidiert soziologische Auseinandersetzung mit Emotionen sowohl dazu beitragen, das Verhältnis von Emotionen und sozialen Beziehungen zu ergründen, und dabei auf »die kulturelle Prägung von Emotionen durch...
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