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Die äußere Dynamik
Wie konnte Recep Tayyip Erdogan wiedergewählt werden, nachdem er der Wirtschaft den größten Schaden ihrer Geschichte zugefügt hatte, obwohl er so krank war, dass er kaum noch laufen konnte, und obwohl das halbe Land gegen ihn war?
Die Antwort auf diese Frage hat aktuelle, politische, soziale, wirtschaftliche, historische und diplomatische Aspekte. Betrachten wir zunächst den aktuellen internationalen Aspekt, anschließend beleuchten wir verstärkt die nationalen und historischen Dimensionen.
Zunächst einmal ist der Fakt zu betonen, dass es sich beim Aufstieg von Nationalismus und Populismus um eine globale Epidemie handelt. Ihre Auswirkungen sind in der ganzen Welt zu spüren, von den USA bis Indien, von Israel bis Italien, in den Niederlanden, Frankreich, Spanien, Deutschland. Auch in der Türkei fand sie geeigneten Nährboden. Sie besitzt eine Reihe gemeinsamer Merkmale:
Regionale Reaktionen auf Globalisierung, Multikulturalität und die Traumata, die beide mit sich bringen; Schaffung einer starken Alternative gegen die festgefahrene Politik des Mainstreams und gegen elitäre Politiker; Bildung einer gesellschaftlichen Basis durch Schärfung der Gegensätze »wir« und »sie«; Eintreten für eine defensive, nach innen gerichtete Politik mit aggressiver Rhetorik; Anstacheln des Rufs nach einem starken Führer, indem Ängste genährt werden; Betreiben einer auf Polemik beruhenden Politik, die sich auf einer ausländer- und flüchtlingsfeindlichen, antielitären, homophoben Linie bewegt. Beim Populismus türkischer Spielart kommt noch eine streng islamistische Ausrichtung durch religiöse Erziehung hinzu, die sich parallel zum Zusammenbruch des laizistischen Bildungssystems breitmacht, sowie die damit ansteigende Aversion gegen den Westen und das Christentum.
Erdogan vereinte sämtliche Eigenschaften dieses giftigen politischen Cocktails in seiner Person und wurde damit zu einem Symbol des aufstrebenden Populismus. Er machte sich zu einem einflussreichen Akteur der Weltpolitik, indem er seine Meisterschaft nutzte, Krisen in Chancen zu verwandeln. Und etliche Spitzenpolitiker im Westen arbeiteten aus eigenen Interessen dem Erfolg dieses Akteurs freiwillig in die Hände.
Sie werden sich an das Foto von Bundeskanzlerin Angela Merkel auf dem vergoldeten Sessel im Palast von Staatspräsident Erdogan erinnern. Es wurde im Oktober 2015 aufgenommen. Vier Monate vor ihrem damaligen Türkei-Besuch hatte Erdogans AKP bei den Juni-Wahlen erstmals die absolute Mehrheit im Parlament verloren. Jäh setzten Anschläge, Bombardierungen, Morde ein und verwandelten das Land in ein Meer aus Blut. Die Bevölkerung war entsetzt.
In jenen Tagen des Entsetzens fiel ein Detail auf: Die Veröffentlichung des jährlichen EU-Fortschrittsberichts zum Beitritt der Türkei war mehrfach verschoben worden. Neun Tage nach der Neuwahl wurde er dann publiziert und beinhaltete harsche Kritik an Erdogans Regime.
In ebendieser kritischen Phase reiste Kanzlerin Merkel in die Türkei und bot Erdogan zehn Tage vor der Wahl den rettenden »Lebenskuss«. Der Kanzlerin ging es darum, den Ansturm von Flüchtlingen in der Türkei aufzuhalten, bevor er Europa erreichte. Das Fundament des berühmten Flüchtlingsabkommens wurde bei diesem Treffen gelegt. Wir wissen zwar nicht, was auf den vergoldeten Sesseln besprochen wurde, haben aber konkrete Kenntnis von den Verhandlungen mit EU-Vertretern hinter verschlossenen Türen. Dabei zeigt sich deutlich, wie Erdogan Erpressung als diplomatisches Instrument einsetzte und den Westen mit Einschüchterung in die Tasche steckte:
16. November 2015. Zwei Wochen nach seinem Wahlsieg traf Erdogan den damaligen Präsidenten der Europäischen Kommission Jean-Claude Juncker und den damaligen EU-Ratspräsidenten Donald Tusk in Antalya. Die griechische Website Euro2day.gr bekam die Protokolle des Dreiergipfels in die Hand und veröffentlichte sie. Die nicht dementierten Unterlagen beinhalten sämtliche schmutzigen Geheimnisse des Türkei-EU-Deals.
Auf der Tagesordnung des Gipfels stand die Verhandlung über die Flüchtlinge. Als Gegenleistung dafür, die Flüchtlinge nicht nach Europa durchzulassen, versprach die EU der türkischen Regierung Geld und den Bürgern der Türkei Freizügigkeit. Allerdings war man sich über die Summe uneins. Zur Eröffnung sagte Tusk zu Erdogan: »Wir haben uns auf drei Milliarden Euro in zwei Jahren verständigt. Aber Sie fordern drei Milliarden pro Jahr.« Erdogan reagierte barsch:
»Wenn Sie drei Milliarden für zwei Jahre zahlen, brauchen wir gar nicht zu reden. Wir brauchen das Geld der EU nicht. Wir öffnen die Grenzen zu Griechenland und Bulgarien und setzen die Flüchtlinge in Busse. Das werden zehn- bis fünfzehntausend. Wie wollen Sie damit fertigwerden? Wie wollen Sie die Flüchtlinge aufhalten, wenn das Abkommen nicht zustande kommt? Wollen Sie sie umbringen? Das sind ungebildete Leute, sie werden in Europa weiter als Terroristen agieren.«
Und was tat Juncker angesichts dieser Drohung, die die in die Türkei geflüchteten Menschen zum Faustpfand machte? Er enthüllte, warum der EU-Bericht verschoben worden war. Lesen wir die Protokolle:
Juncker: »Ich erinnere daran, dass wir den Fortschrittsbericht auf nach den Wahlen in der Türkei verschoben. Wir wurden dafür kritisiert.«
Erdogan: »Das Verschieben hat dem Wahlsieg der AKP nicht gedient. Der Bericht ist ohnehin eine Beleidigung. Wie können Sie solche Dinge schreiben?«
Juncker: »Wir haben den Bericht verschoben, weil Sie es wollten. Wir dachten, Sie wollen sich mit Europa verständigen. Jetzt fühle ich mich betrogen.«
So stand es also um das »betrogene« Europa gegenüber Erdogan: Man hatte den Bericht, der schwere Menschenrechtsverletzungen in der Türkei aufführte, auf Erdogans Verlangen hin auf nach den Wahlen verschoben, und doch hatte es nichts genützt.
Mit dem Trumpf Flüchtlinge in der Hand ging die neue Regierung zu noch massiveren Angriffen auf Pressefreiheit und Menschenrechte über. Genau zehn Tage nach dem Tusk-Juncker-Erdogan-Gipfel wurde ich von der Staatsanwaltschaft vorgeladen und verhaftet - wegen meines Berichts, der belegte, dass Erdogan über seinen Geheimdienst die Dschihadisten in Syrien mit Waffen belieferte. Der Staatsanwalt sagte nicht, der Bericht sei falsch, vielmehr erklärte er, er hätte nicht veröffentlicht werden dürfen, weil es sich um ein Staatsgeheimnis handelte. Wie hätte ich das wissen sollen? War es nicht meine Pflicht als Journalist und dazu im öffentlichen Interesse, das Volk zu unterrichten, wenn der Staat in einer geheimen, illegalen Operation die Dschihadisten in Syrien aufrüstete?
Meine Argumente wurden als unwirksam betrachtet, am Donnerstag, den 26. November 2016, kam ich ins Gefängnis. Für Sonntag, den 29. November, stand ein Treffen der EU-Staatschefs mit dem türkischen Premier in Brüssel an. Ich beschloss, allen EU-Gipfelteilnehmern einen Brief zu schreiben. Auf dem Notizzettel eines Abgeordneten, der mich am Freitag im Gefängnis besuchte, notierte ich handschriftlich:
»Wir schreiben Ihnen aus der Haftanstalt Silivri als Journalisten, die davon überzeugt sind, dass die Türkei zur europäischen Familie gehört, und an das Ziel der Vollmitgliedschaft glauben. Die Freiheit der Meinung und der Rede ist ein unverzichtbarer Wert der Zivilisation, der wir angehören. Wir sind angeklagt und inhaftiert, weil wir Gebrauch von dieser Freiheit machten und für das Recht der Öffentlichkeit auf Information eintraten. Der türkische Premierminister, den Sie an diesem Wochenende treffen, und das Regime, das er repräsentiert, sind für ihre Menschenrechte und Pressefreiheit missachtende Politik und Praktiken bekannt. Wegen der Flüchtlingskrise, die unser aller Herz rührt, verhandeln Ihre Regierungen mit der Regierung in Ankara. Wir wünschen aufrichtig, dass bei Ihrem Treffen eine dauerhafte Lösung für das Problem gefunden wird. Wir möchten hoffen, dass Ihr Wunsch nach Lösung Ihrer Sensibilität in Sachen Menschenrechte, Meinungs- und Pressefreiheit, die zu den Grundwerten der westlichen Welt gehören, nicht im Weg stehen wird. Wir erinnern daran, dass unsere gemeinsamen Werte nur durch gemeinsames Handeln und Solidarität bewahrt werden können, und möchten zum Ausdruck bringen, wie wichtig und dringend geboten diese Solidarität ist.«
Dieser Brief gelangte in der Innentasche des Jacketts eines Abgeordneten aus dem Gefängnis hinaus und wurde noch am selben Tag an die Büros der EU-Staatschef gesandt, allen voran an Kanzlerin Merkel. Am Sonntag verfolgte ich in meiner Einzelzelle live die Übertragung der zum Gipfel in Brüssel angereisten Staatschefs. Ich hörte den italienischen Premier Renzi sagen: »Ich habe einen Brief von einem Journalisten in der Tasche, der in der Türkei inhaftiert ist.« Die Nachricht war also angekommen.
Europa war aber nicht gewillt, sich mit der Unterdrückung der Pressefreiheit in der Türkei und den dort inhaftierten Journalisten zu beschäftigen, es ging ja um ein weit wichtigeres Thema. In der nach dem Gipfel veröffentlichten gemeinsamen Erklärung war lediglich von der Verhinderung des Weiterzugs der Flüchtlinge, der Bekämpfung des Terrorismus und der gemeinsamen Sicherheitspolitik die Rede. Es hieß, der Beitrittsprozess der Türkei zur EU sollte wiederaufgenommen werden, türkischen Staatsbürgern wurde - unter der Bedingung, dass die Kriterien erfüllt wären - versprochen, ab...
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