Schweitzer Fachinformationen
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»Man gab mir den Auftrag, Sie zu töten. Ich bin bereit, alles zu sagen, was ich weiß.«
Diese haarsträubenden Zeilen standen in einem Brief, der mich Ende 2020 über einen Bekannten erreichte. Das Schreiben kam aus einer Haftanstalt in Buenos Aires. Die Worte standen in leserlicher Handschrift auf liniertem Papier. Sie stammten von einem türkischen Häftling: Serkan Kurtulus.
Eine Situation wie in einem Thriller, nicht wahr? Doch der Brief war echt, ebenso wie der Name. Nervöse Neugier überfiel mich, als ich ihn las: Wer war der Absender? Woher sollte ich wissen, dass er die Wahrheit sagte? Warum deckte er gerade jetzt die Vorbereitungen zu einem mehrere Jahre zurückliegenden Attentat auf? Warum hatte man ausgerechnet ihn für den Anschlag ausgewählt? Und was hatte er in Argentinien zu suchen? Warum war er im Gefängnis?
Als ich den Namen Serkan Kurtulus googelte, tauchte das Foto eines Gangsters mit Bart und strengem Blick auf, der aus zwei Maschinenpistolen feuert, in jeder Hand eine. Auf einem anderen Foto posiert er stolz neben Dschihadisten im syrischen Kriegsgebiet. Ein weiteres zeigt ihn im Gespräch mit dem wohl gefürchtetsten Mafiaboss der Türkei. In einem Video trifft er vor einem Gericht mit Mitgliedern einer Bande zusammen, die den Wolfsgruß zeigt. In einem weiteren aus Argentinien sind ihm die Hände auf dem Rücken gefesselt, zwei Polizisten führen ihn zu einem Polizeiwagen. Damit war klar, um was für einen Mann es sich bei dem Absender des Briefes handelte.
Was würden Sie tun, wenn Sie von so einer Person ein solches Schreiben in Ihrem Briefkasten fänden?
Würden Sie es als Aufschneiderei abtun und wegwerfen?
Wären Sie beunruhigt und würden die Polizei um Schutz bitten?
Vielleicht wären Sie neugierig und würden antworten?
Genau das tat ich. In distanziertem Ton schrieb ich zurück, sein Brief habe meine Neugier geweckt; um ihm glauben zu können, bräuchte ich allerdings weitere Informationen. Ich listete die Fragen auf, die sich mir stellten:
Was genau sollten Sie tun?
Warum?
Wann?
Wo?
Wie?
Und vor allem: Wer? Wer gab den Tötungsbefehl?
Meinen Brief schickte ich an Serkan Kurtulus, Gefängnis Ezeiza Federal, Buenos Aires, Argentinien.
Dann wartete ich. Einige Monate darauf traf ein Brief von neun Seiten ein. Handschriftlich hatte Kurtulus Punkt für Punkt all meine Fragen ausführlich beantwortet. Beim Lesen packte mich schieres Entsetzen. Es war unglaublich. Detailliert mit Namen, Daten und Orten berichtete er von den Vorbereitungen eines Attentats, das meine Ermordung zum Ziel hatte. Die Namen waren echt, die Orte stimmten, die Daten passten, die Einzelheiten erschreckten .
Der Plan zur Ermordung eines oppositionellen Journalisten reichte laut den Aussagen eines Killers bis in höchste staatliche Stellen hinauf und sprang von dort mitten in ein globales Beziehungsnetz hinein. Dahinter steckten außergewöhnliche Deals, Intrigen und Finten, die sich von Russland in die USA, von Syrien in die Ukraine erstreckten.
Ich war aufgeregt. Ohne dass ich davon gewusst hätte, war mir in diesem Szenario die Hauptrolle zugedacht worden. Ich musste es aufklären, es auf seinen Wahrheitsgehalt prüfen, die Leerstellen füllen und der Welt kundtun. Diese Aufgabe fiel mir in meiner Rolle als Zielperson des Anschlagsplans ebenso zu wie in meiner Rolle als Journalist, der sich die Aufklärung der Öffentlichkeit auf die Fahnen geschrieben hat.
Hunderte Fragen gingen mir durch den Kopf, sie ließen sich unmöglich in einem Briefwechsel beantworten, der Monate gedauert hätte. Ich beschloss, nach Buenos Aires zu reisen und meinen »potenziellen Attentäter« zu treffen. Für mich persönlich und auch für die Ausleuchtung dieses Stücks Zeitgeschichte wäre es von Bedeutung, mit der Kamera zu dokumentieren, was er mir erzählen würde.
Ich richtete ein Gesuch an das argentinische Justizministerium. Darin stellte ich mich vor, erwähnte den Brief und erläuterte, wie wichtig der Zeuge sei, um Licht in diese Epoche zu bringen. Ich bat um die Erlaubnis, ihn zu besuchen. Dazu merkte ich an, dass ich als Dokumentarfilmer die Absicht hätte, das Treffen aufzuzeichnen. Mit Kurtulus' Rechtsanwalt stand ich bereits in Kontakt. Auch hatte ich Antwort auf die Frage gefunden, warum er mir gerade jetzt geschrieben hatte: Der beharrliche Druck der türkischen Regierung, Kurtulus auszuliefern, hatte schließlich zum Erfolg geführt, das zuständige Gericht in Argentinien hatte seine Abschiebung an die Türkei verfügt. Er war zwar in Revision gegangen, sollte die höhere Instanz aber das Urteil bestätigen, würde er ausgeliefert werden. Das wiederum bedeutete, dass ein wichtiger Zeuge zum Schweigen gebracht werden würde. Offenbar wollte er mit mir reden und mir mitteilen, was er wusste, um die Abschiebung zu verhindern oder zumindest hinauszuzögern. Welch seltsame Schicksalsfügung: Der Mann, den er einst umbringen sollte, war nun für ihn zur Hoffnung auf Leben geworden. Für mich hingegen galt das Gegenteil: Ich würde versuchen, dem Mann, der mich hatte umbringen sollen, das Leben zu retten.
Wieder wartete ich monatelang, dann traf die erhoffte Antwort von den argentinischen Behörden ein: Nach Sichtung der Akte des Häftlings und Beurteilung meines Gesuchs sei man zu dem Schluss gekommen, dass das Interview von öffentlichem Interesse sein könnte. Mir wurde zugestanden, einen zeitlich begrenzten Besuch unter Aufsicht eines Vollzugsbeamten abzustatten und das Gespräch aufzunehmen.
Endlich war es so weit. Ich musste daran denken, wie Papst Johannes Paul II. 1983 den türkischen Nationalisten Mehmet Ali Agca im Rebibbia-Gefängnis in Rom besucht hatte, der 1981 im Vatikan auf ihn geschossen hatte. Bei meinem Besuch würde ich in ähnlicher Weise den Attentäter treffen, der beauftragt worden war, mich zu erschießen, und Antwort auf meine Fragen finden.
Am liebsten hätte ich mich unverzüglich auf den Weg gemacht. Doch es gab ein schwerwiegendes Hindernis: Die türkische Regierung hatte bei Interpol beantragt, mich international zur Fahndung auszuschreiben. Mit der Begründung, das sei nicht juristisch, sondern politisch motiviert, hatte Deutschland es abgelehnt, das türkische Ersuchen anzuerkennen, und Interpol hatte es aus demselben Grund nicht umgesetzt. Doch zwischen Argentinien und der Türkei bestand ein Auslieferungsabkommen für Straftäter. Die Reise könnte mich also teuer zu stehen kommen. Über diplomatische Kanäle forschte ich nach und stellte sicher, dass mir dort nichts geschehen würde. Dann klopfte ich beim ZDF an und stellte mein geplantes Doku-Vorhaben vor. Man stimmte sofort zu. Ich verständigte mich mit einem Produktionsteam und in Argentinien wurden ein Kameramann und eine Kontaktfrau vor Ort engagiert. Kurtulus' Anwalt besorgte die notwendigen Genehmigungen, die Tickets wurden gebucht, dann war alles bereit.
Am Morgen des 1. April 2023, einem Samstag, bestieg ich das Flugzeug nach Buenos Aires. Auf dem dreizehnstündigen Flug machte ich mir Gedanken über meinen Dreh. Es würde das interessanteste, womöglich das bedeutendste Interview meiner beruflichen Laufbahn werden.
Früh am Montagmorgen, dem 3. April, brachen wir zur Haftanstalt Ezeiza auf. Der weitläufige Komplex liegt außerhalb der Stadt. Hinter Stacheldraht und hohen Mauern wie bei allen Gefängnissen reihen sich identische Blöcke aus Beton. Zweitausendfünfhundert Häftlinge säßen in dieser zwanzig Jahre alten Anstalt ein, informierte uns unsere Kontaktfrau. Serkan befand sich seit rund drei Jahren dort.
Um 9.00 Uhr standen wir mit Serkans nicht mehr ganz jungem Anwalt, mit einem Dolmetscher und meinem Kameramann vor dem Gefängnistor. Die Durchsuchungen und Genehmigungsprozeduren dauerten eine Weile, endlich hieß es, wir könnten in einem Raum des Gebäudes drehen, der für die Ausbildung der Insassen verwendet wird. Man gestand uns gerade einmal drei Stunden zu. Ein Vollzugsbeamter begleitete uns, gemeinsam räumten wir in dem Raum Tische und Stühle beiseite, bauten die Kamera auf und erwarteten unseren »Gast«.
In wenigen Minuten sollte ich dem Attentäter gegenüberstehen, der sieben Jahre zuvor den Auftrag erhalten hatte, auf mich zu schießen. Ich kontrollierte den Kamerawinkel, ging meine Fragen durch und überlegte unterdessen, wie ich mich verhalten sollte. Sollte ich lächeln, wenn ich ihm die Hand schüttelte? Oder lieber kühl distanziert bleiben? Und er, wie mochte er auftreten? Würde es mir gelingen, meine Fragen zu stellen, als wäre ich gar nicht unmittelbar involviert?
Als es hieß: »Er kommt«, erreichte meine Aufregung den Höhepunkt. Die Aufnahme lief, ich stand auf. Die Tür öffnete sich. Ein bärtiger junger Mann von ähnlicher Statur wie ich trat mit leichtem Hinken ein. Er trug ein auffälliges rotes T-Shirt von Tommy Hilfiger mit kurzen Ärmeln. Er lächelte und streckte mir die Hand entgegen: »Willkommen, Can Bey.« Lächelnd erwiderte ich: »Danke, Serkan.«
»Ihretwegen haben wir eine weite Reise gemacht.«
»Danke, gut, dass Sie da sind.«
Er reichte mir die mitgebrachte Plastiktüte, in der Gefängniskantine hatte er Kekse und Limonade für uns besorgt. Ich überreichte ihm ein signiertes Exemplar von Lebenslang für die Wahrheit, meinen Aufzeichnungen aus dem Gefängnis. Wir nahmen einander gegenüber Platz. »Nicht jeder Journalist hat die Chance, jemanden zu interviewen, der ihn töten sollte«, sagte ich. Er grinste.
»Sind Sie bereit, Serkan?«, fragte ich.
»Ich bin bereit, alle...
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