Schweitzer Fachinformationen
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Jorge
Der Berg versank in Sonne. Heller als der Himmel leuchtete der Hang, die Pfade vor ihm waren nur ein Flimmern, unter seinen Schritten erzitterte das Licht. Ohne stehenzubleiben lüftete Jorge seinen Hut, den er der Mittagshitze wegen aufgesetzt hatte, und wischte sich mit bloßer Hand die Stirn. Er mochte keine Hüte, er wollte nichts als freien Himmel über seinem Haupt, doch um halb drei stand die Sonne noch so steil, daß Jorge wohl oder übel damit vorliebnehmen mußte, mit diesem albernen bißchen Bast zwischen sich und Gott.
Unaufhaltsam stieg er die staubigen, steinigen Pfade bergauf, vorbei an hüfthohen Bruchsteinmauern, die nur von dem Schatten in ihren Ritzen zusammengehalten wurden. Seit Jahren weidete hier kein Vieh mehr, nicht einmal im Frühling, wenn das Schmelzwasser vom Gipfel den ausgebrannten Boden tränkte. Das spärliche Grün lohnte den Anstieg nicht. Wie vom Licht gebeugt harrten die wenigen Bäume und Sträucher aus und neigten sich in ihre Schatten. Über bröckelnde Oliventerrassen und Wege, die das Geröll sich gesucht hatte, erklomm Jorge ein verlassenes, vom Menschen aufgegebenes Land, dessen einziger Reiz darin bestand, daß es gegen alle Widrigkeiten dennoch existierte und in seiner Kargheit ewig schien.
Er kletterte heute nicht auf dem kürzesten Weg zur alten Finca mit dem ummauerten Schrein, die man im Dorf nur die »Kapelle« nannte. Vor wenigen hundert Metern war er vom gewohnten Pfad abgewichen, um den Bach zurückzuverfolgen, der sich durch zerklüftete Felsen und Erdspalten gegraben hatte. Jorge hielt sich so dicht wie möglich an den Wasserlauf, auch wenn die Schluchten, durch die er sich wand, mitunter so steil abfielen, daß man das Bachbett nicht erkennen konnte. Nur die Fülle der Vegetation und das ungewöhnlich frische Grün des Blattwerks ließen auf eine Wasserader in der Tiefe schließen.
Jorge wollte zur Quelle.
Das Wetter der vergangenen Woche hatte nicht den erhofften Regen gebracht. Die wenigen Wolken, die sich am Bergkamm halten konnten, waren zu dünn, zu weiß, zu leicht gewesen, um in der Sonne zu bestehen. Jeglicher Niederschlag auf dem Gipfel blieb aus. Nicht einmal für nächtlichen Tau oder ein paar Nebelschwaden vor Sonnenaufgang hatte es gereicht. Der Bach war nahezu vollständig versiegt. Vor zwei Tagen hatte Jorge den letzten Eimer Wasser für seinen Garten geschöpft und dabei fast zehn Minuten warten müssen, bis er auch nur viertelvoll gelaufen war.
Die Trockenheit ließ Jorge keine Ruhe. Immer ungeduldiger suchte er nach Wasser, während ihm bereits Zweifel kamen, ob die Quelle überhaupt existierte. Möglicherweise speiste sich der Bach vollständig aus den Abflüssen verschiedener Berghänge. Möglicherweise hatte er es mit einem Berg zu tun, der nichts Lebendiges gebar.
Die ganze letzte Nacht und während des Schwimmens am Morgen hatten ihn diese Fragen beschäftigt. Sie waren ihm nicht einmal aus dem Kopf gegangen, als Esther sich verabschiedete und von den Lobecks unter lautem Hupen zum Flughafen gefahren wurde. Nur schemenhaft hatte er sie hinter den getönten Scheiben mit einem weißen Taschentuch winken sehen. Doch es hätte ebensogut eine Spiegelung sein können. Mehr auf Verdacht hatte Jorge die Hand gehoben und dem Geländewagen nachgeschaut, aber in Gedanken war er bereits unterwegs zu der Quelle, wenn es sie denn gab. Nur jetzt beim Anstieg hatte er auf einmal vergessen, warum ihm diese Frage so wichtig schien.
Esther fehlte ihm. Sie hatte ihn auf seinen Bergwanderungen noch nie begleitet. Ihre regelmäßige Ermahnung, vorsichtig zu sein, hörte er geduldig an, um sie dann mit einem Achselzucken hinter sich zu lassen. Doch sie stand immer in der Tür, wenn er aufbrach, und sie erwartete ihn jedesmal, wenn er zurückkam. Esther gehörte zu seinem inneren Kompaß. Sie war ein fester Bestandteil seiner nur sehr wenige Menschen umfassenden Welt. Es wäre ihm nie in den Sinn gekommen, er könnte sie irgendwann einmal vermissen, aber es war so.
Jorge vermißte seine Frau.
»Morgen um diese Zeit sitze ich schon bei Beate Gerber im Wohnzimmer und trinke meine zweite Tasse Tee«, hatte Esther gestern abend halb im Scherz, halb vor sich hin gesagt. Das war ihre Art zu denken: immer Tage und Wochen voraus. Jetzt, in diesem Moment, saß sie gewiß schon im Flugzeug, und gestern um diese Zeit hatte sie sich vorgestellt, wie sie heute im Flugzeug sitzen würde. Jorge versuchte, an etwas anderes zu denken.
Er näherte sich bis auf anderthalb Schritte der Felsspalte und schaute hinab. Das Grün auf dem Grund der engen Schlucht schien weniger üppig, fast kraftlos. Es war moosfarben und von gelblichen Flechten durchsetzt, obwohl der Bach an seinem oberen Lauf eher mehr als weniger Wasser hätte führen müssen. Doch vielleicht waren gerade dadurch die letzten Überreste von fruchtbarem Boden weggeschwemmt worden, und es hielten sich hier nur Pflanzen, die sich in den Ritzen der schroffen, ausgehöhlten Steine festsetzen konnten. Jorge schaffte es nicht, seine Zweifel abzuschütteln. Aus irgendeinem Grund wurde er das Gefühl nicht los, daß er das Wasser bereits verloren hatte.
Nur eines wußte er mit Sicherheit: Er würde morgen um diese Zeit wieder hier stehen und sich dieselben Fragen stellen. Er würde an jedem dieser vierzehn Tage tun, was er immer tat, um so die Zeit zu täuschen. Nichts sollte daran erinnern, daß ohne Esther alles anders war. Wenn sie heute abend anrief, um von ihrer Ankunft in Deutschland zu erzählen, würde er nichts zu berichten haben, keine besonderen Vorkommnisse.
Mit einer Hand an der Hutkrempe hielt Jorge nach Kalkablagerungen, Salz- und Kristallbärten oder ähnlichen Wasserspuren an den Felswänden Ausschau. Er vermutete, daß der Bach hier durch unterirdische Höhlen oder Tunnel verlief, wenn nicht gar tiefer im Fels zwischen älteren Gesteinsschichten entsprang. Doch nirgendwo an den Klüften und Vorsprüngen zeigten sich Verfärbungen, die auf einen Wasserfall, auf Rinnsale oder Auswaschungen hindeuteten.
Mißmutig trat Jorge von der Schlucht zurück und kletterte in einer steilen Diagonalen auf eine Felsspalte zu, um von dort aus in die zerklüfteten Eingeweide des Berges hinabzusteigen. Obwohl ihn nichts und niemand erwartete, zog er das Tempo an. Mehrmals wandte er den Kopf und sah sich um, so als könnte ihn jemand bei seinem Ausflug beobachten. Doch der Junge, der ihm gestern auf seinem Anstieg bis in die Kapelle gefolgt war, ließ sich nirgends blicken. Die Wahrscheinlichkeit, daß er ihm heute erneut auflauern und hinterherklettern würde, war äußerst gering. Schließlich nahm Jorge diesmal einen anderen Weg.
Thomas
Mit etwas Phantasie hätte man von weißen Flecken auf der Landkarte sprechen können, von unentdeckten Kontinenten inmitten seiner nikotinvergilbten Rauhfasertapete. Wenn Thomas die Augen zusammenkniff, gingen sie auf Wanderschaft wie Schönwetterwolken am Horizont. Je länger er sie anstarrte, desto mehr verloren sie ihre klare geometrische Form, schienen nicht mehr oval oder rechteckig, sondern zerliefen an den Rändern wie verschüttete Milch oder sonst irgendeine in Kleckse versprengte Materie, die vom Gelb und Gilb der Vergänglichkeit aufgesogen wurde. Sie erinnerten ihn daran, wie lange er schon hier in der unteren Gesindehauswohnung lebte.
Thomas saß an seinem Schreibtisch, betrachtete die hellen Flecken an der Wand und versuchte, dabei nicht an die gerahmten Fotos zu denken, die er abgenommen hatte, um sich besser konzentrieren zu können.
Es hatte nicht viel genutzt.
Mit fast schon routinemäßiger Verzweiflung massierte er sich die Schläfen, biß einmal mehr in das weichgekaute Ende seines Kugelschreibers und zwang seine flatterhafte Aufmerksamkeit auf das mit Randnotizen übersäte Blatt Papier auf seinem Schreibtisch, indem er die Hände wie Scheuklappen um die Augen legte. Vor allem galt es, den Blick aus dem Fenster seines Arbeitszimmers auszublenden, diese von Tannen verhangene Aussicht mit ihren Licht- und Schattenspielen, über denen er jedesmal die Zeit vergaß.
Wenigstens drei oder vier Sätze wollte er vor Christians Besuch noch schaffen.
Aber vielleicht war gerade das der Haken! Vielleicht stimmte mit dem Licht etwas nicht. Möglicherweise war er, Thomas, der sich bis dato für einen Nachtmenschen gehalten hatte, doch vom Tageslicht und dem Wetter abhängiger, als er es wahrhaben wollte. Zumindest erschien ihm dieser Gedanke immer plausibler, je länger er an den Spiralfedern seiner Schreibtischlampe herumzupfte, um sie optimal auf das wie ein Abgrund vor ihm liegende Blatt Papier zu justieren, ohne daß er geblendet wurde oder die wenigen bislang feststehenden Zeilen wieder zu tanzen anfingen, was sich im Endeffekt nicht ganz vermeiden ließ.
Nur aus diesem und keinem anderen Grund gönnte Thomas seinen Augen eine kleine Verschnaufpause. Geschickt unterlief er das alles verschlingende Tannengrün und ließ seinen Blick ein wenig auf den Lücken und Leerstellen im Bücherregal ruhen, wo die Kinderbilder von Christian gestanden hatten, die jetzt mit dem Gesicht nach unten auf einer umgekippten Dünndruckausgabe der Schriften von Ludwig Marcuse und mehreren Manuskriptmappen zur Methodik der historischen Forschung lagen. Es handelte sich um Fotos aus allen Lebensabschnitten, darunter auch sein Lieblingsbild von Christian und Beate auf der Motorhaube seines alten ochsenblutroten NSU, ein Schnappschuß, den er seinerzeit bei einer Reifenpanne im Schwarzwald auf dem Weg in den Italienurlaub gemacht hatte, es war ihr vierter gewesen, einer zuviel für seinen NSU, der in Neapel blieb. Kurz danach hatte er seine Promotion endgültig abgebrochen und war auf Lehramt umgeschwenkt, während Beate bereits ihre zweite Stelle an...
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