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José Canucci. So nannten sie ihn bei der Arbeit. Als wäre er halb Latino, halb Italiener. Italiener väterlicherseits, wie's scheint. Aus welchem Teil des Stiefels könnten die Canuccis wohl stammen? Keine Ahnung. Vielleicht war seine Mutter eine bildschöne Puerto Ricanerin aus Spanish Harlem. Verdammt, das wär echt lustig. Seinem Vater hätte es gefallen. Aber war Canucci überhaupt ein richtiger Name? Er wusste es nicht. Die sprachen ihn ja nicht mal richtig aus. Die Fans hier oben sagten's immer falsch. Can-you-see, sagten die, machten aus dem doppelten c ein s. Aber es war ja ohnehin nicht sein richtiger Name. Eigentlich hieß er Ted Fullilove. Theodore Lord Fenway Fullilove. Einen beknackteren Namen musste man erst mal finden. Irgendein Möchtegern-Poet auf Ellis Island musste damals das Filinkow, Filipow oder Filitow seines russischen Vorfahren als Fullilove eingetragen haben. Er selbst nannte sich Ted. Außer bei der Arbeit. Dort war er José. Oder Mr. Peanut.
Vielleicht sollte er sich ein Monokel zulegen. Eins wie das von Mr. Peanut, dem Cartoon-Maskottchen der Planters Peanut Company. Teds Vater war Werber gewesen. Ob er auch Mr. Peanuts Vater war? War Ted am Ende Mr. Peanuts Halbbruder?
Mr. Peanut war ein freundlicher Kerl mit Zylinder, ein Mischwesen aus Mensch und Erdnuss mit Gehstock und Monokel. Eine vernunftbegabte Nuss. Ein Wesen wie ein missglücktes Experiment aus einem der schäbigen B-Movies, die man sich im Chiller Theatre auf WPIX, Kanal 11, reinziehen konnte, wenn das Spiel wegen Regen ausfiel. Streifen wie Die Fliege zum Beispiel. »Helft mir! Helft mir!« Das war die legendäre Stelle. Vincent Price mit Fliegenkörper und Vincent-Price-Kopf. Oder war das überhaupt Vincent Prices Kopf? Vielleicht doch nicht, dachte Ted. Sowieso egal. Gut, Vincent Price war's wohl nicht ganz unwichtig. Ted aber schon. Etwas an dem »Helft mir! Helft mir!« rührte ihn allerdings an. Die reine, nackte Not. Vielleicht das Erste, was ein Kind sagen lernte. Nach »Mommy« und »Daddy« und »mehr«. Helft mir! Helft mir! Bitte, hilf mir doch jemand!
Mr. Peanut brauchte Hilfe. Er hatte so einen welligen, beigegrauen Erdnusskörper, Käferbeinchen und schlechte Augen. Also zumindest ein schlechtes Auge. Und Eier hatte er auch nicht wirklich, war ein geschlechtsloses Wesen, ein blinder Eunuch, der am Stock ging. Kann dem Kerl nicht einer helfen? Und was sollte dieser Zylinder? Der wollte es doch nicht anders! Ab auf Karteikarten mit all den Gedanken, abheften unter einem neuen Registerpunkt: Insiderwitz, H wie »Helft mir!«. Könnte klappen. Doch schon kamen die Querverweise und Seitwärtsbezüge, brachten alles durcheinander. Ted wünschte, er hätte eine Freundin. Er für seinen Teil hatte schließlich keinen Erdnusskörper, hatte Eier und Bedürfnisse, emotionale, körperliche und was sonst noch. Allerlei verrückte, widersprüchliche Bedürfnisse, die in alle Richtungen Funken schlugen, wie wenn ein Auspuffrohr abfällt, mit fiesem Scheppern und Feuerwerk auf dem Asphalt. Freundin/Auspuffrohr. Ich sollte wirklich immer einen Stift dabeihaben, dachte er. Wütend auf sich selbst, weil diese Sachen, diese Gedanken eben doch verloren gehen. Seine Mutter hatte immer gemeint, wenn es wichtig sei, falle es ihm schon wieder ein. Aber das stimmte nicht. Vielleicht war's genau umgekehrt. Vielleicht vergessen wir gerade das Wichtigste oder versuchen es zumindest. Was hat Nietzsche gleich gesagt? Wir erinnern uns bloß an das, was wehtut? Nicht ganz hundertprozentig derselbe Gedanke, aber dasselbe Spielfeld. Durchs Stadion hallte die Hymne: Through the perilous fight.
Ein Gedankenspielfeld. Yankee Stadium, mit jeder Menge Gedanken auf dem Platz. Und auf den Rängen. Teds Hirn war ein Stadion voll halbgarer Gedanken während des seventh-inning stretch. Bob Sheppards transatlantische Patrizierstimme: »Ladys und Gentlemen, bitte richten Sie Ihre Aufmerksamkeit auf die First Base. Bei den Yankees jetzt im Spiel für Chris Chambliss, der junge Deutsche mit dem eindrucksvollen Schnauzer, Friedrich Nietzsche.« Phil Rizzuto hätte seinen Spaß. Wie kommt's eigentlich, dachte Ted, dass man, wenn man was Allgemeingültiges sagen will, meistens irgendwas in der Liga von »der, welcher« im Satz hat? Als wären steife Formulierungen ein Signal für Tiefgang. Gar kein übler Gedanke - ein Gedanke, welcher gar nicht übel war.
Dass er keine Frau hatte, vergaß Ted oft, und in diesen Momenten war er glücklicher, als wenn er sich daran erinnerte. Freundin. Abheften unter U wie »unwahrscheinlich« oder V wie »Verpiss dich, Ted!«. Er konnte nicht mehr sagen, wann er das letzte Mal mit einer Frau zusammen gewesen war, und war für diese Vergesslichkeit sogar dankbar. Gallantly streaming. Doch auch wenn dieser Gedanke im Register nur ein Platzhalter für eine fehlende Karte war: Schmerz und Mangel waren echt. Ted fühlte sich vom Leben übergangen. Inzwischen war er über dreißig. Ging auf die All Star Break in der Saison seines Lebens zu. Das Spring Training nichts als eine blasse Erinnerung. Wieder mal meldete sich diese Panik in Teds Bauch, wie wenn ein Pitcher das ganze Spiel über dominant war und plötzlich »wild« wird, wie man sagt, die Kontrolle über den Ball verliert. Irgendwo in Teds Kopf zeigte ein Coach dem Schiedsrichter ein Time-out an und marschierte zum Pitcherhügel, um seinen Spieler zu beruhigen. Ted ließ die rechte Schulter kreisen. Bald würde er werfen, wollte aufgewärmt sein.
And the rockets' red glare. Ted musste über sich selbst lachen und blickte sich sofort nervös um. Während der Hymne lachen war ein No-Go. Man musste nicht unbedingt wie ein durchgeknallter Reserveoffizier strammstehen und die Hand aufs Herz legen, wie Teds Vorgesetzter sich das wünschte, aber wenigstens sollte man nicht quatschen oder lachen. Offenbar war das respektlos gegenüber dem Militär. Und den Gründervätern. Und gegenüber Jimmy Carter. Der ja wohl der echte Mr. Peanut war! Der Erdnussfarmer aus Georgia! Ted mochte sehr, wenn sich der Kreis so schloss. Andererseits: wer nicht? Jeder mochte Kreise, Abschlüsse, mochte, wenn das kleine Menschenhirn ein Muster in das große Chaos brachte. Mr. Peanut war jetzt Präsident dieses Landes. Die Zeit der Malaise. Helft ihm! Helft ihm!
Beim letzten Vers durfte man losjubeln - José, does that star-spangled ba-an-ner yet wa-ave. / O'er the la-and of the freeeeeeeeee . Vorher nicht. Vorher war respektlos. Ein feiner Unterschied, den alle - sechzigtausend, wenn Boston zu Gast war - instinktiv kannten. So wie man weiß, dass man im Aufzug nicht die Leute anglotzt, sondern auf die blinkenden Zahlen schaut. Kein Augenkontakt. Die instinktiven Regeln des Alltags, unverständlich höchstens für Kinder, Zurückgebliebene oder Serienmörder.
Laut dem alten Witz sind die letzten Worte der Nationalhymne »Play ball!«. Uralt, aber trotzdem lustig. Der unsingbare »Song« ging zu Ende, und der Lärm der Menge schwoll an, als wäre sie ein riesiges, vorfreudiges Ungetüm. Das Spiel ging jeden Moment los, und hier oben auf den billigen Plätzen war es afrikaheiß. In Teds Herrschaftsgebiet saßen achtzig Prozent Latinos - fünfundfünfzig Prozent Puerto Ricaner, fünfundzwanzig Prozent Dominikaner - und etwa zwanzig Prozent andere. Die »anderen« waren größtenteils Iren und Italiener. Alles seine Leute. Die Plätze hier für die billigen zu halten lag nahe und, ja, sie befanden sich wirklich so weit weg vom Spielfeld, dass man das Klacken des Schlägers erst hörte, wenn der Ball schon in der Luft war. Wie in einem schlecht synchronisierten japanischen Film. Ted aber fühlte sich an diesem Aussichtspunkt lieber wie auf dem Olymp als ab vom Schuss, so als wären sie hier oben allesamt Götter, die den Ameisenmenschlein dort unten bei ihren albernen Spielen zusahen. Hier arbeitete er jedenfalls. Warf im Yankee Stadium Leuten, hauptsächlich Männern, Erdnüsse zu, die es für wahnsinnig lustig hielten, ihn José zu rufen, so wie das erste Wort der Spanglish-Version der Nationalhymne, oder eben Mr. Peanut. Manche nannten ihn sogar Ted.
Er mochte lieber nicht Ted genannt werden. Obwohl der Job nicht schlecht war und die Miete zahlte, halbwegs zumindest, fand er es doch ein wenig peinlich, dass ein Mann seines Alters mit seinem Bildungsstand - New Yorker Privatschule, Ivy League - Leute mit Hülsenfrüchten bewerfen musste, um über die Runden zu kommen. Andererseits war es ihm sogar lieber, einen Job zu haben, der so gar nichts mit dem zu tun hatte, was er »tun sollte«, mit dem er sämtliche Erwartungen derart spektakulär enttäuschte, dass die Leute meinen konnten, er sei eben ein »Sonderling« oder habe wirklich Spaß dran oder sei so ein pietätloser Geniearsch, der auf die ganze Welt einen Scheiß gab. Statt des Versagers, für den er sich selbst hielt, sollte man lieber einen Exzentriker in ihm sehen. Den schrägen Vogel mit BA in Anglistik von der Columbia, der im Yankee Stadium Erdnüsse verkauft, während er am Großen Amerikanischen Roman ackert. Von Kopf bis Fuß Gegenkultur. Voll auf einer Wellenlänge mit den Arbeitern und Proletariern. Spitzentyp. Wallace Stevens als Versicherungsvertreter. Nathaniel Hawthorne, der im Zollhaus seine Stunden absitzt. Jack London bei den unteren Zehntausend, in der Hand ein Päckchen Erdnüsse.
Trotz allem war er stolz auf seine Zielgenauigkeit. Ein guter Sportler war er nicht, wie sein Vater ihm früher täglich ins Gedächtnis gerufen hatte. Er werfe »wie ein Mädchen«, hatte der alte Mann immer gesagt. Und, ja, er hatte nicht den Wurfarm eines Reggie Jackson, ja, nicht mal die Chicken Wings eines Mickey...
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