Kapitel 2
Als John Ermin den Wagen., an der Haltestelle >Villa Borghese<, verließ, hatte es aufgehört zu regnen. Doch der Asphalt auf der Via Veneto glänzte noch von Nässe.
Die Via Veneto gehört zu den berühmtesten und verrufensten Straßen Roms. In den Hotels und Restaurants zu beiden Seiten der Via Veneto wird mehr Geld mit Prostitution, Raub, ja sogar bezahlten Mordaufträgen umgesetzt als an irgendeinem anderen Ort in Rom - ausgenommen vielleicht die Stazione Termini, der Hauptbahnhof, und das Stadtviertel Trastevere.
Der Regen und die frühe Morgenstunde hatte zwar verhindert, daß die Tische der Straßen-Cafés schon dicht besetzt waren, aber die käuflichen Frauen standen bereits in grellbunten Kleidern, zigarettenrauchend, neben den Hoteleingängen und warteten auf Kundschaft. Viele Hotels entlang der Via Veneto sind Absteigen und erfüllten denselben Zweck wie öffentliche Häuser.
Auf dieser Straße - wie in den meisten Straßen Roms - läuft jede Frau, die Goldschmuck trägt, Gefahr, daß ein Räuber ihr im Vorbeijagen den Schmuck herunterreißt. Die Diebe fetzen selbst goldene Ohrringe aus blutenden Wunden. Und die Männer auf der Via Veneto, unter deren linkem Arm sich das Jackett auffällig bauscht, tragen dort nicht ihr Scheckbuch oder den zusammengefalteten >Il Messagero<, sondern eine Schußwaffe in einer Schulterhalfter.
An den Theken der Bars lehnten Zuhälter in teuren Anzügen. Ihre teuren ausländischen Wagen waren am Straßenrand geparkt. Jeder dieser Wagen kostete so viel; wie eine sechsköpfige Familie in den römischen Armenvierteln brauchte, um ein Jahr zu leben. Aber Verderbtheit und Verbrechen hatten sich allezeit besser bezahlt gemacht als harte Arbeit. Und es gab keine Art von Laster und Begierde, die man mit Geld auf der Via Veneto nicht hätte befriedigen können. Hier war selbst die Luft erfüllt vom Gestank moralischer Verkommenheit.
Während John Ermin unter den gleichgültigen, abschätzigen oder verächtlichen Blicken der Frauen die Straße entlangschritt, kam ihm unwillkürlich die Weissagung des Priesters Giovanni Bosco in den Sinn: »O Rom, was wird aus dir werden? Undankbares Rom, sündenbeladenes Rom, verkommenes Rom! So tief bist du gesunken, daß du nichts anderes suchst und nichts anderes bewunderst als Luxus und die Befriedigung deiner Sinnengier. Hast du denn vergessen, daß deines Gottes Kreuz und Glorie auf Golgatha stand? O Rom, Gottes Zorn wird über dich kommen, und er wird vierfach schrecklich sein .«
John Ermin bog in eine der Seitenstraßen ein, die in die Via Veneto mündeten. Nach einigem Suchen fand er die richtige Hausnummer. Es war ein altes, verkommen wirkendes Gebäude. Er stieg eine schmutzige Steintreppe hinauf bis in das dritte Stockwerk. Dort läutete er an einer Tür.
Nichts rührte sich. Er läutete noch einmal. Wieder nichts. Er drückte die Klinke herab. Die Tür schwang nach innen auf. Von einem kurzen Korridor zweigten mehrere Türen ab. Hinter einer ertönte das Gemurmel von Stimmen.
Ermin öffnete und trat über die Schwelle. Im nächsten Augenblick saß ihm der kalte Stahl einer Pistolenmündung im Genick.
»Keine Bewegung, oder du bist ein toter Mann«, sagte eine Männerstimme. Dann fügte sie hinzu: »Sind Sie es, Ermin? Verdammt, kommen Sie nie wieder unangemeldet in einen Raum, in dem ich mich befinde. Fast hätte ich Ihnen eine Kugel durch den Kopf gejagt. Ich habe viele Feinde in Rom. Ich bin nur deshalb noch am Leben, weil ich härter zuschlage und schneller schieße als meine Gegner.«
Die Fensterläden waren halb geschlossen. In dem Raum herrschte graues Zwielicht. Der Druck der Pistolenmündung verschwand aus John Ermins Nacken, und Hal Amico trat in sein Blickfeld. Er mußte hinter der Tür gestanden haben, als Ermin über die Schwelle trat - ein Zeichen dafür, daß der Privatdetektiv immer auf der Hut war, weil er offenbar um sein Leben fürchtete.
»Die reichen Männer einer ganzen Anzahl von römischen N. von Weibern, meine ich, denen ich zu einem Scheidungsgrund und einer reichen Abfindung verholfen habe, haben professionelle Killer auf meine Fährte gesetzt. Die Italiener sind ein nachtragendes Volk. Wer mir eine Kugel ins Herz schießen würde, könnte von verschiedenen Auftraggebern mindestens zwanzigtausend Dollar kassieren.«
Hal Amico warf die Pistole auf den Tisch und griff nach einer Flasche Brandy, die dort stand. Er sah John Ermin fragend an, doch dieser schüttelte nur den Kopf. Amico zuckte daraufhin geringschätzig mit den Mundwinkeln, füllte ein Glas bis zum Rand und stürzte den Brandy hinunter.
Auf dem Tisch stand noch ein zweites Glas, dessen Rand dick mit Lippenstift beschmiert war. Das machte John Ermin mit einemmal klar, daß er und Amico nicht allein in dem Raum waren.
Er wandte den Kopf und sah, daß eine junge Frau auf dem Rand des Bettes saß. Sie war eine von den hübschen Frauen, die auf der Via Veneto ihrem Gewerbe nachgingen - und sie war vollkommen nackt. Mit der Trägheit, die alle Süditalienerinnen auszeichnet, zog sie ihre Seidenstrümpfe an. Sie hatte ein klassisch schönes Profil, langes haselnußbraunes Haar, das offen über ihre Schultern fiel, und eine Haut wie goldgetönter Alabaster.
»Das ist meine Art zu leben«, sagte Hal Amico, als Ermin unwillkürlich den Blick abwandte. Er füllte sein Glas abermals mit Brandy. »Fühlen Sie sich etwa dadurch beleidigt, Pater?«
»Ich bin nicht so schnell zu beleidigen«, entgegnete John Ermin. »Ich habe aber Mitleid mit Ihnen, weil ich ahne, daß das Leben, das Sie führen, Sie nicht glücklich macht.«
Das Glas, das eben noch in Hal Amicos Hand gewesen war,> ging an einer Wand zu Bruch. Trotz des herrschenden Zwielichts konnte Ermin erkennen, daß das Gesicht des Italo-Amerikaners bleich vor Zorn war.
»Ich brauche Ihr Mitleid nicht. Noch ein solches verdammt hochmütiges Wort, und ich schlage Sie zusammen«, stieß Amico wütend hervor. »Ich habe Männer schon wegen geringerer Beleidigungen halbtot geschlagen.«
»Mich zusammenzuschlagen, wäre keine Heldentat. Ich bin nicht so stark wie Sie«, sagte John Ermin.
Amico starrte ihn mit zusammengepreßten Lippen an. Plötzlich wandte er Ermin den Rücken zu und herrschte das Mädchen an: »Raus! Los, raus mit dir! Zieh dich im Badezimmer an! Geh hinaus, oder ich werfe dich auf die Straße, so, wie du bist!«
Sie floh davon wie ein Schatten. Die beiden Männer blieben allein zurück. Amico griff nach der Brandyflasche, setzte sie an die Lippen und leerte sie halb in einem einzigen Zug.
»Es lag kein Grund vor, das Mädchen zu beschimpfen«, sagte John Ermin. »In jeder Art von Liebe, auch in der sündigsten, lebt ein Funke der Liebe Gottes.«
Hal Amico setzte die Brandyflasche hart auf den Tisch zurück.
»Ich glaube, Sie kennen die römischen Flittchen nicht, Pater«, sagte er mit mühsam beherrschter Stimme. »Die glauben nur an den Lohn für ihre Liebesdienste. Was suchen Sie überhaupt hier?«
»Ich wollte vorhin nicht an Ihre Warnung glauben, der Papst sei vergiftet worden. Ich glaube eigentlich noch immer nicht daran«, antwortete John Ermin. »Aber inzwischen habe ich Dinge erlebt, die mich Ihre Worte in einem etwas anderen Licht sehen lassen. Ich bin gekommen, um mehr von Ihnen zu erfahren.«
Amico lehnte sich gegen den Tisch und verschränkte die Arme vor der Brust. Er war in einen schäbigen, abgetragenen Schlafrock gekleidet.
»Ich habe Sie nicht belogen, Ermin«, sagte er. »Wenn auch die vatikanischen Ärzte keine Vergiftungserscheinungen bei dem Toten fanden, so besagt das gar nichts. Es gibt Gifte, die keine erkennbaren Spuren im Körper des Opfers hinterlassen - und doch tödlich sind.«
»Aus welchem Grund sollte irgendein Mensch den Papst ermordet haben? Das ergibt doch keinen Sinn.«
»In Rom geschehen gegenwärtig Dinge, die scheinbar überhaupt keinen Sinn ergeben. Aber dennoch sind sie tödlich nicht nur für einen Menschen, sondern für Millionen Menschen. Es sind schlimme Dinge, John Ermin. Höllische Dinge. Sie lassen sich nur schwer in Worte kleiden. Niemand würde freiwillig an solchen Dingen rühren. Trotzdem sind sie wahr. Die Hölle streckt ihre Hände aus nach der Kirche.«
»Erzählen Sie mir, was Sie wissen«, forderte John Ermin.
»Nur, wenn Sie mich darum bitten«, antwortete Amico herausfordernd.
»Also gut, ich bitte Sie darum.«
Hal Amico starrte Ermin wie vom Donner gerührt an. Er hatte Widerstand erwartet. Nun, da der Widerstand ausblieb, wußte er offenbar nicht, was er sagen sollte. Ihm selbst wäre es schwergefallen, um etwas zu bitten. Doch Ermin wand ihm eben dadurch, daß er bat, die Waffen des Hochmuts und des Spotts aus der Hand.
»Ich weiß nicht viel von dem Mord. Nur soviel: Er ist geschehen«, stieß er hervor und griff nach der Brandyflasche. »Der Papst ist vergiftet worden, soviel steht fest Es mag wie Wahnsinn klingen, aber hinter der Tat stehen höllische, dämonische Kräfte. Eine finstere Macht schickt sich an, Besitz von der Welt zu ergreifen, von der Kirche, von allen Menschen.«
»Es ist noch keine Stunde her, seit ich Ähnliches zu hören bekam«, entgegnete John Ermin. »Ein Mann, der als Geisterseher galt, den ich persönlich aber nicht für einen Lügner hielt, erzählte mir, er hätte Satan siegesgewiß über den Petersplatz schreiten...