Schweitzer Fachinformationen
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Wie mein Kind im Bienenwagen geboren wurde
Bienen sind große Architekten. Wenn sie zu wenig Platz haben für Kinderzimmer, oder weil viel Honig in das Volk strömt, bilden sie eine Baukette und fangen an, neue Waben anzubauen.
Steht der Sommer bevor, ist vielleicht auch Zeit fürs Schwärmen, und ein Teil des Volkes fliegt aus und fängt an einem neuen Ort von vorne an. Viel brauchen sie dafür nicht, eigentlich nur einen sonnigen, geschützten Ort.
So ähnlich fühlte ich mich im Sommer vor nunmehr acht Jahren. Die Renovierungsarbeiten für unseren Wohnraum auf dem Stadtgut sollten laut Plan anderthalb Jahre in Anspruch nehmen. Wir mussten dafür noch einmal ausschwärmen, doch zurück in die Stadt kam für uns nicht in Frage. Wir hatten uns dafür entschieden, diese anderthalb Jahre Bauphase für einen alten Traum zu nutzen: das Wagenleben.
Zunächst aber merkten wir vor allem, dass wir mit unserem Traum vom schönen, einfachen Leben nicht die Einzigen waren. Wer in einer sanierten Altbauwohnung im Prenzlauer Berg wohnt, denkt nicht darüber nach, aber de facto gibt es einen regen Handel mit um- und ausgebauten Wägen und eigenen Transportdienstleistern. Manche davon sind fahrende Traumschlösschen zu astronomischen Preisen. Für Bezahlbares war damals der nähere Umkreis wie leergefegt.
Den größten und schönsten Wagen hatten wir in Gelsenkirchen gefunden, wir mussten ihn allerdings erst mal heim nach Berlin fahren.
Schon mal mit einem sieben Meter langen Zirkuswagen hintendran gebremst? Ich jedenfalls war mit so etwas noch nie gefahren. Wenn wir rollten, fühlten wir uns wie ein Planet in einer ganz eigenen Umlaufbahn. Autobahnen waren tabu. Deutschland war plötzlich eine Dreißiger-Zone. Landschaften, Städte, Dörfer - alles war neu aus dieser Perspektive und wunderschön, aber auch tückisch.
Stadtpläne mussten gründlichst gelesen werden, denn eine zu niedrige Brücke konnte zu einer fatalen Sackgasse werden, aus der es kaum ein Entrinnen gab. Mit solch einem Gefährt rückwärts in eine schmale Nebenstraße einzuschwenken, um zu wenden; ein solches Manöver hinzubekommen hatte bei mir auch mehr mit Zufall als mit Können zu tun.
Ein drängelnder Berufsverkehr oder auch die Stromführung der Straßenbahn (was würde eigentlich passieren, wenn wir die streiften oder beschädigten?) machte die Lage nicht entspannter.
Eigentlich kaum zu glauben, aber es passierte uns - nichts. Nach drei Tagen Fahrt erreichten wir erschöpft, aber überglücklich unser Stadtgut.
Den zweiten Wagen ließen wir uns nach dieser Abenteuerfahrt lieber aus Hamburg bringen. Und einen dritten fanden wir zum Glück in der näheren Umgebung. Wir bauten alle in Windeseile zu Wohnräumen um und hausten darin auf einer Wiese des Gutes wie die Räuber. Wir hatten die Wägen zu einem kleinen Kreis angeordnet, in der Mitte lag der Feuerplatz, begrenzt mit Steinen. Wie eine kleine Burg.
Das Modell aus Hamburg war unser kleinster; und ein ehemaliger Bienenwagen. Er war auch unser Joker, mal Büro, dann wieder Krankenstation, Gästezimmer, Rückzugsort.
Wir lebten mit drei, gegen Ende mit vier Kindern dort, der dritte Wagen war ihr Schlaf- und Kinderzimmer. Platz und Ruhe waren in den kalten Monaten, in denen man sich eher im Warmen aufhalten wollte, Gold wert.
Unterteilt in Groß und Klein, schliefen wir wie die Urmenschen in ihren Höhlen, über- und untereinander. Wer abends zu Bett ging, musste noch einmal ins Freie treten, um zwischen den Wägen zu wechseln. Die frische, belebende Nachtluft, und dann der Blick zu den Sternen: In meinem Körper breitete sich dabei eine angenehme Mischung aus Ruhe und Konzentration aus und Vorfreude auf das weiche Federbett in dem vom Holzofen gewärmten Schlafwagen. Auch das werde ich nie vergessen.
Unseren größten und hellsten Wagen hatten wir zum Wohnzimmer erklärt. Am Boden lagen herrliche alte Holzdielen, und schöne alte Fenster öffneten sich zu drei Seiten, so dass immer irgendwo die Sonne hereinschien. Dort wurde auch gekocht, das Wasser zum Abwaschen floss aus einem Kanister.
Ein alter Ofen verbreitet die unbeschreiblich angenehme Wärme, die nur ein Holzfeuer hinkriegt. Sofa, Esstisch, Stühle und ein Bücherregal. Was braucht man mehr?
Zunächst aber mussten wir uns reduzieren, klar, es fehlte uns an Platz. Unser Haushalt wurde damals sehr überschaubar. Nur das Lieblingsgeschirr durfte bleiben, also für jeden eine Lieblingstasse, die beiden besten Töpfe, eine Pfanne.
Alles, was übrig blieb, spielte nunmehr eine unersetzliche Rolle im Dreiklang von Essen und Trinken, Wärme, Schlafen. Genau die Funktionen, die der Stuhl, die Leselampe, die Wolldecke erfüllen sollten. Keine Auswahl, keine Alternativen. Ein Teesieb erhielt plötzlich wieder seinen Wert; zu klein, zu groß, egal. Es war genau richtig. Auch merkten wir, wie jedes Ding unsere Aufmerksamkeit brauchte.
Wer sich von Krams trennt, befreit sich von Verantwortung. Es ist, als hätte man ein Dutzend Haustiere an nette Menschen abgegeben. Kein Stallsäubern, Füttern und Wassergeben mehr. Es ist erlösend.
Nur um ein Ding tat es mir im Nachhinein wirklich leid; um meinen herrlich ramponierten, alten Flügel, auf dem ich früher so gerne gespielt hatte. Nie hätte er in so einen Wagen gepasst.
Vielleicht wollte ich diesem seltsam anklagenden Gefühl bei seinem Anblick auch ein Ende setzen. Träume zu verabschieden, die man nicht umgesetzt hat, tut manchmal gut; sollte jemand anderes damit Freude haben.
Ein Teil meiner Bienen, die Jungvölker nämlich, hatten nicht weit entfernt von unseren Wägen auf einer Wiese ihren Platz gefunden. Sie besuchten uns manchmal, wenn nichts mehr blühte. Erwartungsgemäß interessierten sie sich aber vor allem für meine Honigbrote.
Alle anderen waren über den Sommer auf Wanderung in Brandenburg, die übrige Zeit verteilte ich sie auf zwei weiteren Ständen einige Kilometer entfernt. So war die Bienendichte an einem Platz nicht ganz so hoch und die Versorgung der Bienen damit besser.
Wer so behaust ist, wie wir es damals waren, der ist und isst vor allem draußen, wo viel mehr Platz ist, Licht und Luft.
Eigentlich fand ich ein Picknick im Grünen schon immer ziemlich unbequem: Überall piekt es, der Bauch drückt, irgendwann entdecken die Ameisen alles und geben zu Hause Bescheid, und dann ist obenrum auch noch Mückenalarm.
Aber nun, da wir an einem richtigen Gartentisch mit Stühlen und Bänken saßen, wurde das Essen unter freiem Himmel zum Fest. Irgendwie lief alles ruhiger ab, kein Schlingen, kein lautes Geklapper mit dem Besteck, selbst die Geräuschkulisse zappeligster Kinder verpufft im weiten Himmelsraum.
Was ich seitdem auch weiß: Mit frischer Luft schmeckt es anders. Die leichte Brise, die über das Essen streicht, weckt Aromen. Der Salat, das Brot, selbst frische Möhren entfalten plötzlich ihren Duft. Die Sinne sind geschärft und die Nase hilft der Zunge beim Schmecken. In diesen Momenten wusste ich nicht zu unterscheiden: Ist das jetzt Luxus, oder ist es das einfache Leben? Es war auf jeden Fall wunderbar.
In der Halbzeit unserer Bauwagenphase stieg die Spannung. Etwas ganz Neues, Besonderes kündigte sich an. Die Geburt unseres Kindes rückte näher.
Meine beiden ersten Söhne sind im Krankenhaus geboren worden. Wie schade im Nachhinein, als wäre dieses Wunder nicht ein Fest, sondern eine Krankheit. Wir wollten unser Kind zu Hause bekommen, und das war in diesem Moment nun mal unsere kleine Wagenburg. Nachdem auch unsere Hebamme ihr Okay gegeben hatte, bereiteten wir den kleinen Bienenwagen für den großen Moment vor.
Weihnachten verstrich, dann auch Silvester. Es war Anfang Januar und zum Glück kein wirklich kalter Winter, als unsere Tochter gesund und munter auf den vier Rädern eines Bienenwagens zur Welt kam. Nie werde ich die Bilder dieses kleinen Zwergs vergessen. Wie sie im darauffolgenden Frühjahr und Sommer mehr draußen als drinnen im Schatten der Wägen schlief oder die grüne Wiese mit ihrer kleinen Nase erschnüffelte.
Dieses Leben im Wagen hatte für mich etwas aus der Zeit der Jäger und Sammler; das Temporäre, Nichtsesshafte der Nomaden, deren...
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