Schweitzer Fachinformationen
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Der ovale Spiegel warf zwei große, dichte, schwarze Augenbrauen zurück, die gemäß Mutters striktem Verbot nicht gezupft werden durften. Und zwar nicht nur, weil Allah seinen Geschöpfen untersagt, irgendetwas an ihren Körpern zu verändern, sondern auch, weil ich nicht verheiratet war. Das wichtigste Ereignis im Leben eines jeden aserbaidschanischen Mädchens ist zweifellos die Hochzeit, nur sie schenkt einem das Recht auf Veränderung, selbst wenn Allah diese Veränderung missbilligt. In kleinen Bergdörfern ließ sich ein unverheiratetes, unschuldiges Mädchen leicht von einer verheirateten Frau unterscheiden: Der erste und wichtigste Unterschied waren die Augenbrauen.
Dünn wie mit Tusche gemalt, gleichmäßig, ja geradezu künstlich, teilten sie dem Umfeld mit, dass das Mädchen nun zur Frau geworden war - und das paradiesische Gesträuch üppiger Augenbrauen der Vergangenheit angehörte. Aber in der normalen russischen Schule rissen die meisten Mädchen, sich in kleinen runden Spiegeln aus dem Kiosk betrachtend, seelenruhig mit einer erbarmungslosen Metallpinzette die widerspenstigen dicken Härchen aus. Ich dachte lange darüber nach, was am Augenbrauenzupfen so verkehrt sein mochte, waren doch meine Klassenkameradinnen am nächsten Tag dieselben, sogar ein bisschen glücklicher. Meine Augenbrauen wucherten Tag für Tag stärker über den Lidern, okkupierten immer mehr Haut, und hatten meine Freundinnen wenigstens helle Lianen, waren es bei mir zwei riesige dunkle Adlerflügel. Das Problem der Augenbrauen beschäftigte mich auch, wenn wir Vaters Verwandtschaft in Baku besuchten. Träge lagen dort in einem kleinen Zimmer feste Matratzen und bunte, ornamentverzierte Decken aufeinander. Die meisten Matratzen hatten meine Tanten und Großmütter eigenhändig befüllt: Erst wurde das Schafsfell lange gewaschen, dann sorgfältig im Hof unter der Sonne Bakus ausgebreitet, bis es ans Befüllen ging - den langwierigsten und qualvollsten Schritt. Saubere, rosenverzierte Bezüge wurden randvoll gestopft, Mama und bibi*1 drückten das Fell fest zusammen, als stopften sie den aufgeschlitzten Bauch einer Truthenne, dann nähten sie die Ränder von Hand zu. Anschließend wurde der Matratzenkörper noch mit großen Stichen in der Mitte perforiert, und zwar mit der größten, dicksten Nadel, mit der zu nähen schwer und gefährlich war: Schnell zeigten sich blutige Sternbilder an Händen und Werk. Auf ebensolchen, mit Liebe genähten, aufeinandergeschichteten Matratzen saßen meine Cousinen und ich und schauten schweigend zu, wie die erwachsenen Frauen mit funkelnden Ringen an den Fingern einander mit einem seidenen Faden die Augenbrauen zupften. Ich weiß noch, wie ich mich fragte, woher ihre Hände wohl diese geheimen Bewegungen kannten, wo hatten sie gelernt, den Faden so zielsicher und schnell zu führen, dass er einwandfrei das Überflüssige entfernte und das Richtige erhielt? Kaum hatte die Haut den schmerzlichen Verlust erlitten, rötete sie sich, als beweine sie jedes Härchen. Zwanzig Minuten später befanden sich anstelle der alten Augenbrauen neue: in die Haut eingraviert wie ein Ornament in eine Vase. Kalt, ruhig, um ihre Vergangenheit nicht wissend, verliehen sie dem Gesicht ihrer Besitzerin einen neuen Ausdruck, einen, der nur denen eigen ist, welche die Kraft des eigenen Willens erfahren haben und die Möglichkeit, den eigenen Körper zu verändern. So einen Gesichtsausdruck hatte eine Kindheitsfreundin, als ich sie an einem heißen Sommertag in Baku nach ihrer Hochzeit traf: Da war Erleichterung, nun musste sie nicht mehr die schwere Bürde der Unschuld tragen und an die Stelle all der rügenden »verboten« traten unzählige »endlich erlaubt«.
Einerseits mochte ich es, mit meinen vielen Cousinen, Tanten und anderen weiblichen Verwandten zu tun zu haben - lebten sie doch in einer Welt, deren Regeln mir vertraut waren, und verstanden all das, was ich meinen Klassenkameradinnen unmöglich erklären konnte. Andererseits waren sie selbst zu den strengsten Hüterinnen dieser Regeln geworden, die einst für sie erfunden worden waren: Tat jemand etwas Schmachvolles oder etwas, das nicht der Tradition entsprach, konnte man sicher sein, dass dank der geschwätzigen Vertreterinnen der Diaspora alle davon erfuhren. Deswegen konnte ich meinen Cousinen auch nicht von meinem süßen, verbotenen Wunsch erzählen, mir die Augenbrauen zu zupfen, und ich beneidete insgeheim meine Klassenkameradinnen, deren Leben nicht durch ein unendliches Konvolut von Verboten erschwert wurde und die selbst über ihre Körper verfügen konnten.
Nach langen Überlegungen fasste ich mir ein Herz: An einem Wochenende stahl ich Mutters Pinzette und zupfte unauffällig ein paar der unliebsamsten und auffälligsten Härchen zwischen den Augenbrauen. Es war getan: Die Pinzette kehrte an ihren Platz zurück, und die wie Herbstlaub abgefallenen Härchen wurden vom glatten, weißen Körper des Waschbeckens gespült. Obwohl ich eine gewisse Freude empfunden hatte - konnte ich doch nun in Gesellschaft meiner Klassenkameradinnen und Freundinnen entspannter sein -, hatten die herausgezupften Härchen nichts verändert: Die Welt war nicht zusammengebrochen, und mein Körper war nicht wertlos geworden. Wie waren die Augenbrauen der Frauen, die mich umgaben, warum waren sie so?
Seit meiner Kindheit wusste ich, dass ich Mutter ähnlich sehe, davon zeugten nicht nur die Fotos in den Familienalben, sondern auch die Worte von ausnahmslos allen, die zu Besuch kamen. Nachdem sie ein paar Minuten in mein Kindergesicht und dann in Mutters Gesicht geschaut hatten, schlussfolgerten sie freudig: »Ganz die Mutter.« Ich weiß noch, wie sehr es mich irritierte, dass alle so beharrlich nach Ähnlichkeiten suchten. Als wären sie nicht durch die Tatsache der Zeugung und Geburt gegeben. Vielleicht versteckte sich hinter dem Wunsch, eine Ähnlichkeit auszumachen, die Frage, ob sich auch unsere Schicksale ähneln würden? Ähneln sich die Schicksale der Heldinnen in Nizamis Epen?
Nur meine Augenbrauen hatte ich von Vater. Männerbrauen in einem Frauengesicht: markante schwarze Bögen, und unter jeder Augenbraue einzelne Härchen wie verstreute Teekrümel. Warum haben alle Frauen in der »östlichen« Literatur diese Augenbrauen - geschwungen wie ein Sichelmond und schwarz wie die Nacht? Warum sollen nur die Augenbrauen schwarz sein? Was für Augenbrauen hatte Scheherazade? Sicherlich schwarze.
Auch die Augenbrauen meiner Mutter sind schwarz. Sie wirken immer ein wenig fragend; jedes Mal, wenn sie mich ansieht, steht in ihren Augenbrauen geschrieben: Warst du heute eine würdige Tochter? Nur selten heben sich ihre Augenbrauen vor Freude - das passiert meistens bei Hochzeiten. Hochzeiten waren schon immer ihre liebsten Feste. Nicht nur, weil sie bis heute die wichtigste Möglichkeit der Sozialisierung innerhalb der Diaspora sind, sondern auch, weil eine Hochzeit ein langersehnter Anlass ist, das Haus zu verlassen, sich schön anzuziehen, ein neues Kleid zu kaufen, sich zu schminken, die geliebten, immer gleichen Ringe und Ohrringe anzulegen, mit Freundinnen zu tratschen, und offiziell, ohne Scham, ein Glas Wein zu trinken. Sie liebt Hochzeiten, weil sie dann nicht kochen muss, ihren harten Alltag und den Haushalt vergessen und einfach ein Teil der Gesellschaft sein kann. Bei einer Hochzeit lernte sie vor dreißig Jahren auch meinen Vater kennen, genau genommen, lernte er sie kennen, und noch genauer, wählte er sie unter den anderen aus. Einer der Gründe, warum er sie wählte, waren natürlich ihre dichten, unangetasteten Augenbrauen, unter denen sie zum Tanz des Brautpaars hervorlinste. Konnte sie wissen, dass ihr bescheidener gesenkter Blick zum Grund für seine Verliebtheit würde?
Die gleichen Augenbrauen hatte auch meine Großmutter mütterlicherseits, mit der Zeit hörte sie ganz auf, sie zu zupfen, und sie ähnelten ihrem verwilderten Garten, den sie lieber mochte als Menschen. Nur ihn und die Nähmaschine betrachtete sie mit Zuneigung und Zärtlichkeit, als würde sie sie streicheln; Gegenstände und Pflanzen enttäuschten sie im Gegensatz zu Menschen nie. Menschen bekamen von ihr nur karge, harte Blicke wie trocken Brot. Man musste seine Nützlichkeit beweisen, um diesen Blick zu erweichen, und deswegen mussten alle, die jeden Sommer in ihr georgisches Haus kamen, ihren Aufenthalt abarbeiten: weiße und rote Vogelkirschen pflücken, Haselnüsse pflücken und schälen, Bohnen pflücken und in große grobe...
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