Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Samstag, 19:30 Uhr
Es passte nicht dorthin.
Weder Farbe, Material noch Form stimmten.
Es bestand aus grünem Stoff, nicht aus grauem Sandstein. Jedenfalls Teile davon. Und das, was unter dem Stoff herausragte, waren das etwa Füße, die in hellbraunen Stiefeletten steckten? Unmöglich. Und doch .!
Die Buchhändlerin Felicitas Reichelsdörfer stand vor dem Hugenottenbrunnen im Erlanger Schlossgarten, starrte auf den Fremdkörper darin und fragte sich, ob sie halluzinierte. Waren die zwei Gläser Sekt daran schuld, die sie getrunken hatte? Aber obwohl sie nicht besonders trinkfest war, verursachte diese Menge erfahrungsgemäß höchstens einen leichten Schwindel und führte nicht zu Hirngespinsten. Feli schloss die Augen, öffnete sie wieder und taxierte erneut das, was da im Brunnen war.
Es war Realität.
Verflogen war ihr Freudenrausch darüber, endlich einmal das Erlanger Schlossgartenfest zu besuchen, was sie sich seit Jahren gewünscht hatte, aber immer wieder an ihrer desolaten finanziellen Situation gescheitert war. Verflogen war auch das Gefühl, die Königin des Abends zu sein, das sie verspürt hatte, als sie in ihrem Traumkleid über die Kieswege flaniert war und, so war es ihr vorgekommen, die huldvollen Blicke ihrer Untertanen entgegengenommen hatte. So musste sich Markgräfin Wilhelmine von Bayreuth gefühlt haben, die vor über zweihundert Jahren auf ebenjenen Wegen gewandelt war. Es war ein erhabenes Gefühl gewesen, das Feli an die Prinzessinnenträume ihrer Kindheit erinnert hatte. Und jetzt beendete dieser Fremdkörper im Brunnen einfach ihren Höhenflug. Die Landung war hart und kam völlig unverhofft.
Sie knuffte ihren Begleiter Hieronymus Bosch, genannt Boschi, in die Seite. »Siehst du, was ich sehe?«
Doch ihr bester Freund badete mit solcher Inbrunst in der einzigartigen Atmosphäre des Festes, dass er Lichtjahre davon entfernt war, es zu bemerken. »Meinst du den bayerischen Innenminister oder den bayerischen Ministerpräsidenten, die da vorne mit ihren Frauen stehen?«, fragte er. »Jetzt kommt auch noch der Bürgermeister dazu. Das Bild ist morgen bestimmt in der Zeitung.«
Feli warf einen raschen Blick auf die Prominenz, die mit ihren Ehefrauen in die Kameras mehrerer Fotografen strahlte. Normalerweise hätte sie dieses Bild in sich aufgesaugt, wann sah man die Herrschaften denn schon live? Aber in dem Moment war es ihr egal.
»Das meine ich nicht. Schau mal in den Brunnen, also in die Öffnung. Da ist doch was.«
»Welche Öffnung?«, fragte Boschi.
»Na, die hier.« Sie deutete auf den länglichen Schlitz inmitten der Sandsteinfiguren, der einen Blick auf das Reiterdenkmal weiter hinten im Schlossgarten freigab. Die meisten Menschen bemerkten die schmale Öffnung wahrscheinlich gar nicht, aber sie hatte einmal bei einer Führung davon erfahren.
Boschi drehte sich in die richtige Position und taxierte den Schlitz. »Du hast recht. Da ist was.«
»Sag ich doch. Sieht aus, als ob da jemand seitlich in einer Nische sitzen würde, oder nicht?«
»Könnte eine Frau sein. Modisch nicht ganz zeitgemäß. Nach allem, was ich sehen kann, stammen die Stiefel aus dem 18. Jahrhundert.«
»Sagt der Experte.« Feli kringelte eine ihrer karottenroten Locken um den Zeigefinger.
»Sei froh, dass du einen Modeexperten wie mich an deiner Seite hast. Das Kleid, das ich dir geschneidert habe, ist der Hingucker des Abends.«
Womit er zweifellos recht hatte, und wofür Feli ihm für alle Zeiten dankbar war. Boschi hatte ihr einen Traum aus einem bunten, rückenfreien Oberteil und einem dunkelgrünen Satinrock genäht. Sie konnte von Glück sagen, dass er nicht nur ihr bester Freund, Seelenverwandter und Mitarbeiter in Personalunion, sondern auch ihr Modeberater und Schneider war. Aber im Augenblick gab es Wichtigeres als seine Qualitäten. Feli wollte wissen, was es mit der vermeintlichen Frau im Brunnen auf sich hatte.
Inzwischen strömten immer mehr Besucher in Richtung Schloss, wo der Präsident der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg in Kürze eine Rede halten würde. Auf den Kieswegen um den Brunnen herum drängten sich die Gäste. Feli hatte sich auf die Rede gefreut, galt sie doch als einer der Höhepunkte des Festes, aber nun ging ihre legendäre Neugierde mit ihr durch.
»Ich glaube, ich schaue mir das jetzt mal genauer an.«
»Was um alles in der Welt hast du vor, Karotte?«, rief ihr Freund.
Feli gab keine Antwort, sondern raffte ihren Rock bis über die Knie nach oben, was wegen der Fülle des Stoffes einige Anstrengung erforderte, hüpfte ungelenk über die den Brunnen umgebende Rosenrabatte und marschierte über die Grünfläche zum Brunnen.
»Und was ist, wenn sich da drin ein Attentäter versteckt hat?« Boschis Stimme klang jetzt leicht panisch.
Feli ließ ihren Rock fallen und drehte sich zu ihm um.
»Unsinn!«, rief sie, spürte aber, wie sich ein Hauch Unsicherheit in ihrem Magen bemerkbar machte. Zudem registrierte sie, dass andere Gäste sie schon beobachteten. Vielleicht sollte sie doch auf Boschi hören und wieder zu ihm zurückgehen? Doch ihre Neugierde behielt die Oberhand. Sie steuerte auf den Brunnenrand zu, kam jedoch nicht weit, weil hinter ihr eine schneidende Stimme ertönte: »Bitte treten S' zurück.«
Feli drehte sich erneut um und traute ihren Augen nicht. Da stand ein Mann in einem dunklen Anzug. Er hatte blonde Stoppelhaare und einen Leberfleck auf der linken Wange. Von seinem rechten Ohr aus führte ein weißes Kabel in sein Sakko. Er sah aus wie einer der Secret-Service-Agenten, die sich im Fernsehen immer in unmittelbarer Nähe des amerikanischen Präsidenten aufhielten oder in einschlägigen Agentenfilmen die Welt retteten. Sie brauchte einen Augenblick, bis sie kapierte, dass es sich um einen Securitymitarbeiter mit fränkischer Abstammung handelte. Letzteres hatte sie an der Art und Weise, wie er das R rollte, eindeutig erkannt.
»Auf gar keinen Fall trete ich zurück«, protestierte sie. »Da drin«, sie deutete auf die Brunnenöffnung, »sitzt eine Frau.«
Der Securitymitarbeiter bedachte sie mit einem Blick, der Zweifel an ihrem Verstand offenbarte, schaute dann aber in die Öffnung.
»Sehen Sie?« Felis Puls raste vor Aufregung. »Das ist doch eine Frau, oder etwa nicht?«
Ein zweiter Securitymitarbeiter erschien neben ihr. Er war kleiner und gedrungener als der erste und trug einen Dreitagebart. Nachdem auch er den Brunnen in Augenschein genommen hatte, sahen sich die beiden Männer ungläubig an.
Schließlich sah der Große mit dem Leberfleck wieder zur Öffnung: »Hallo, Sie da drinnen! Hören Sie mich?«
Feli hielt den Atem an. Aber aus dem Brunnen kam keine Antwort. Nur das Rauschen der beiden Wasserfontänen rechts und links im Brunnenbecken war zu hören.
»Jetzt unternehmen Sie doch schon was!«, drängte sie die Männer, ohne zu wissen, was sie konkret von ihnen erwartete.
Der Blonde mit dem Leberfleck reagierte als Erster, allerdings nicht in Felis Sinne. »Sie gehen etz erst amol wieder zurück.« Er legte eine Hand auf ihre rechte Schulter, drehte sie um und schob sie Richtung Rosenbeet.
»Geht's noch? Sie können mich doch nicht einfach so wegschieben?«, protestierte sie und wollte stehen bleiben.
Aber der Mann hatte mehr Kraft. Gegen ihren Willen entfernte Feli sich vom Brunnen.
»Sie sehen doch, dass ich das kann. Also bitte!« Er ließ sie erst unmittelbar vor den Rabatten los und versperrte ihr dann breitbeinig den Rückweg.
»Unverschämtheit!«, schimpfte Feli, sah aber ein, dass diese Schlacht verloren war. Wieder raffte sie umständlich ihren Rock und stieg mit einem großen Schritt über die Rosen. Währenddessen hörte sie, wie der Securitymann in sein Headset sprach: »Wir brauchen Verstärkung am Hugenottenbrunnen.«
Feli schäumte vor Wut. Jetzt wollten diese beiden fränkischen Secret-Service-Agenten die Sache auch noch in die eigene Hand nehmen. Aber nicht mit ihr. Wenn früher oder später ein Hauptverantwortlicher auftauchte, würde sie wieder ins Geschehen eingreifen. So leicht ließ sie sich nicht abspeisen. Schließlich hatte sie die Frau entdeckt. Mussten nicht ihre Personalien aufgenommen werden? Man konnte sie doch nicht einfach so wegschicken.
Boschi nahm sie mit hochrotem Kopf in Empfang. Sein Blutdruck schien durch die Decke zu gehen, wie so oft, wenn er sich aufregte. »Und? Hast du was Neues in Erfahrung gebracht?«, wollte er wissen.
»Da sitzt wirklich eine Frau drinnen. Zumindest der untere Teil von ihr. Mehr habe ich nicht sehen können.«
Das Interesse der Besucher galt nun ausschließlich den Ereignissen am Brunnen. Manche hatten sich von den Bänken, die ringsum auf den Grünflächen standen, erhoben und reckten ihre Hälse. Nervöses Gemurmel breitete sich aus. Eine stattliche Dame in froschgrünem Abendkleid, die die ganze Zeit neben Boschi gestanden hatte, stellte schließlich die Frage, die Feli selbst am meisten auf der Zunge brannte: »Glauben Sie, die Frau im Brunnen ist tot?«
»Fragen Sie doch so was nicht.« Boschi hob abwehrend beide Hände.
Feli zuckte mit den Schultern. Eigentlich war ihr Bedarf an Leichen nach der Sache mit dem Krimischorsch, der letzten Herbst tot in ihrer Buchhandlung gelegen hatte, bis auf Weiteres gedeckt. »Ich weiß es nicht«, antwortete sie.
Dann sah sie, dass die Prominenz und der Bürgermeister zusammen mit ihren Frauen von Securityleuten ins Schloss gebracht wurden. Die Gäste auf dem Kiesweg bildeten eine Gasse, um den Tross durchzulassen. Vor dem Foyer des Schlosses entdeckte Feli den Präsidenten der Universität, ebenfalls von...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: ohne DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet – also für „glatten” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Ein Kopierschutz bzw. Digital Rights Management wird bei diesem E-Book nicht eingesetzt.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.