01. September
Ein Schrei ließ Ben aus seinen Gedanken schrecken. Ruckartig drehte er den Kopf und beugte sich vor, um aus dem Fenster sehen zu können. Zwei Jungen jagten sich lachend über die Straße. Der vordere schrie erneut auf, als sein Freund ihn beinahe erwischte. Er wand sich außer Reichweite und sprintete in die entgegengesetzte Richtung.
Ben seufzte und lehnte sich zurück. Von seinem Tablet leuchtete ihm der Grundriss eines Gebäudes entgegen. Darin befand sich ein Fehler, den er seit einer halben Stunde verzweifelt suchte.
Er tippte auf ein kleines Symbol und schob die Zeichnung damit auf den Fernseher. Nachdenklich drehte er die Skizze um ihre eigene Achse. Auf dem großen Bildschirm ließen sich die einzelnen Zahlen, Winkel und Linien besser erkennen.
Er fand eine kleine Ungenauigkeit und beseitige sie. Trotzdem zeigte das Programm weiter an, dass das Gebäude zusammenbrach, wenn er es so bauen würde. Irgendetwas an der Formel musste falsch sein, die Frage blieb nur, was.
Frustriert speicherte er die Fortschritte der letzten halben Stunde. In nicht einmal zwei Wochen musste er sein Projekt abgeben. Ein Blick würde den Professoren genügen, um festzustellen, dass die Kapelle wie ein Kartenhaus zusammenfiel.
Lag es an der Kuppel?
Er zoomte den entsprechenden Teil des Entwurfes heran. Ein weiteres Mal ging er die Berechnungen, Maße und Winkel Schritt für Schritt durch. Er konnte keinen Fehler finden und dennoch trugen die Wände die Last nicht.
Ben wechselte in die Innenansicht der Kapelle. Vielleicht half ihm eine neue Perspektive, dem Fehler auf die Spur zu kommen. Doch als ihm eine Idee kam, hörte er das Klimpern eines Schlüsselbundes.
Nur ein paar Sekunden später wurde die Haustür so hart aufgestoßen, dass sie gegen den Stopper an der Wand prallte. Schuhe flogen durch die Luft, eine Jacke wurde ausgezogen und in Richtung Garderobe geworfen. Ben schüttelt den Kopf und versuchte, sich wieder auf sein Projekt zu konzentrieren.
Sein Bruder randalierte wie eine Horde wilder Berserker in der Küche herum. Ben starrte auf seine Zeichnung, ohne etwas zu sehen. In seinem Kopf hallte nur der Lärm wider.
»Ach, du bist heute hier?« Manu hob eine Augenbraue, als er ihn entdeckte. Er kam ins Wohnzimmer, eine Milchpackung in der Hand, und ließ sich auf die Couch fallen. »Gar nicht in der Uni?«
Ben schüttelte den Kopf. Er hatte die Ruhe im Haus nutzen wollen, um seine Bauzeichnung auf dem Fernseher unter die Lupe zu nehmen. Schweigend beobachtete er, wie sich Manu die Fernbedienung schnappte. Die Zeichnung verschwand und auf Bens Tablet erschien eine Fehlermeldung.
»Ich habe gerade gearbeitet«, sagte er leise.
»Papa hat gesagt, nur solange keiner den Fernseher nutzen will«, erwiderte Manu und setzte die Milchpackung an seine Lippen.
Ben startete das Programm auf seinem Tablet neu. »Du hättest mir Bescheid geben können«, murmelte er.
»Ich bin hier, oder nicht? Das reicht ja wohl als Warnung.« Manus Stimme war desinteressiert und genervt. Er zappte wild durch die Kanäle. Bei den Nachrichten blieb er für einen Moment hängen. Schwelende Gebäudegerippe zierten die Mattscheibe, während eine Reporterin von den neuesten Attacken der Kineten berichtete. Seine Lippen verzogen sich zu einem schmalen Strich. »Die muss man gezielt ausräuchern«, sagte er missbilligend.
Ben wandte den Kopf und starrte aus dem Fenster. In der Ferne konnte er den Rauch sehen, der sich in dunklen Wolken am Randbezirk zusammenballte. Den ganzen Tag über hatte er Explosionen gehört. Eine Fabrik war in die Luft geflogen. Die Regierung ging davon aus, dass Kineten die Ursache für die Flammen waren, die plötzlich aus dem Gebäudedach schlugen.
Er war jedes Mal zusammengezuckt, wenn ein Donnern über die Stadt gefegt war. Die Fabrik lag nah am Randbezirk, wie auch ihre Siedlung. Die Kineten könnten genauso schnell bei ihnen sein und Häuser anzünden. Er verbot sich den Gedanken daran.
Manu zappte weiter, schien jedoch nichts zu finden. Also startete er den Streamingdienst und suchte einen Film heraus. Zufrieden lehnte er sich zurück und stellte den Ton lauter. Wenige Minuten später hallten die Geräusche explodierender Gebäude und der Lärm von Schusswaffen durch das Wohnzimmer.
Ben schüttelte den Kopf. In den Nachrichten lief eine Endlosschleife aus Hinrichtungen und Katastrophenberichten. Am Horizont türmten sich fast täglich Wolken aus Asche und Ruß auf, trotzdem wurde Manu der Kriegsfilme nicht leid. Als wäre das Leben nicht schon grausam genug. Zumal das Ende der Filme vorhersehbar war: Die Kineten verloren immer.
Er gab es auf, weiter am Projekt zu arbeiten, und holte sich etwas zu trinken. Von der Küche aus hörte er seinen Bruder lachen und mit den Soldaten reden. Ben überlegte, ob er sich in seinem Zimmer noch einmal vors Tablet setzen sollte, als es an der Tür klingelte.
Er zögerte, doch da Manu nicht reagierte, ging er zur Haustür. Draußen stand seine Kommilitonin Helena. Überraschung huschte über ihre Züge, als sie Ben in der Tür entdeckte. Ihre Wangen färbten sich tiefrot und sie strich sich verlegen das blonde Haar aus dem Gesicht. »Oh, hallo Ben«, stammelte sie. »Ist Manu da?«
Ben nickte und deutete in Richtung Wohnzimmer. Zögerlich drückte sie sich an ihm vorbei und eilte zu seinem Bruder. Ben schloss die Tür, während der Lärm abrupt verstummte. Manu begrüßte Helena herzlich.
»Du hast gesagt, wir wären allein«, sagte sie vorwurfsvoll.
Bittersüßer Schmerz durchzuckte Ben. Darum hatte sie ihn nach einem Monat Beziehung in den Wind geschossen. Es beruhigte sein schlechtes Gewissen, sich nicht genug um sie bemüht zu haben. Zwischen Manu und ihr hatte es gefunkt, als Ben sie das erste Mal mit nach Hause gebracht hatte. Als sein Bruder die Tage mit seiner heißen, neuen Freundin geprahlt hatte, hätte er den Wink mit dem Zaunpfahl begreifen müssen.
Manu zuckte mit den Schultern. »Es ist doch nur Ben.«
Nur Ben . für seinen Bruder war er schon immer nur Ben gewesen. Jemand, den man schnell vergaß.
Er seufzte und holte sein Tablet aus dem Wohnzimmer. Helena warf ihm einen verlegenen Blick zu. Immerhin schien ihr die Situation peinlich zu sein. Er zwang sich zu einem freundlichen Lächeln und zog sich in sein Zimmer zurück.
Ben warf sich aufs Bett und zoomte die Kuppel seiner Kapelle heran. Gedankenverloren starrte er die Zeichnung an. Dreizehn Tage bis zur Abgabe und sein Projekt war noch immer voller Fehler. Sollte er Philip um Hilfe bitten?
Er schickte seinem Kommilitonen eine Nachricht und versuchte, sich zu konzentrieren. Wieder begann er, die Zahlen zu überprüfen, nahm sich jede zur Brust. Er zog seine Bücher heran und prüfte die Formeln.
Wenig später lenkte ihn Helenas albernes Kichern im Flur ab. Er hörte, wie die beiden die Treppe hinaufkamen und in Manus Zimmer verschwanden. Ihre Stimmen drangen dumpf durch die Wand.
Ben stöhnte, als kurz darauf ein rhythmisches Klopfen ertönte. Spätestens jetzt war es vorbei mit seiner Konzentration. Er schaltete das Tablet aus und drehte sich auf den Rücken. Die Decke war mit Sternen gespickt, ein Überbleibsel seiner Kindheit.
Widerwillig lauschte er den Geräuschen aus dem Nachbarzimmer. Sein Körper war zum Zerreißen gespannt, seine Hände gruben sich in die Bettdecke. Warum traf Manu Helena hier?
Er wollte nicht dabei sein, ihnen zuhören. Seine Muskeln schmerzten, so stark baute sich der Widerstand in ihm auf. Das rhythmische Klopfen wurde in seinen Ohren immer lauter. Abrupt schoss er aus dem Bett und verließ sein Zimmer. Er schnappte sich Jacke, Schlüssel und schlüpfte in seine Schuhe. Sobald ihm die frische Nachmittagsluft um die Nase strich, durchströmte ihn Erleichterung.
Er holte seinen Drahtesel und schwang sich in den Sattel. Sein Wohnviertel lag am Rand der Stadt, in der Nähe des stillgelegten Industriegeländes und unweit des gefährlichen Randbezirks. Die meisten Wege waren Spielstraßen, auf denen mehr auf Kinder als auf Autos geachtet werden musste.
Ben schlug automatisch den Weg ein, der ihn zu den Gleisen führte. Sie schlängelten sich zwischen den letzten Häusern hindurch und suchten sich ihren Weg entlang der Fabrikgebäude. Verlassene Hallen reihten sich in der trostlosen Gegend aneinander.
Seit der Säuberung vor rund zwölf Jahren arbeitete hier niemand mehr. Die Kriege hatten das Industriegebiet zerfleischt. Es war nun ein Ödland aus leeren Gebäuden, dass die Grenze zwischen den Wohnvierteln und dem Randbezirk bildete. Die Häuser waren teilweise eingestürzt, die Scheiben eingeschlagen. Rostende Bauelemente...