Schweitzer Fachinformationen
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»Mein Ruhestand kommt später.«
Henning von Vieregge
Wir befinden uns in einer fundamentalen gesellschaftlichen Zeitenwende. Heutzutage haben wir beim Pensionsantritt noch etwa ein Viertel unseres Lebens vor uns, bei günstigen Umständen sogar noch ein Drittel oder mehr.
Historisch gesehen ist das völlig neu. Wer das begreift und für sich nutzt, steht mit einem Alter von sechzig bis 65 Jahren an der Schwelle zur größtmöglichen Chancenrealisierung seines Lebens.6
Wir leben immer länger und bleiben dabei gesünder. Deshalb ist es so wichtig, die höhere Lebenserwartung auch beruflich zu unserem Vorteil zu nutzen und selbst zu bestimmen, ob - und falls ja - wie lange und was wir arbeiten. Wie schaut es nun mit der höheren Lebenserwartung konkret aus?
Die Daten der Statistik Austria geben eine klare Antwort (Abbildung 2).
Im Jahr 1950 betrug die Lebenserwartung in Österreich bei Männern 61,9 Jahre, 2023 waren es bereits 79,4 Jahre: eine Steigerung um 17,5 Jahre an Lebenserwartung!
Bei den Frauen in Österreich sieht es noch besser aus. Ihre Lebenserwartung war im Jahr 1950 bereits deutlich höher als jene der Männer. Sie lag bei 67 Jahren und stieg bis zum Jahr 2023 auf 84,2 Jahre. Die Lebenserwartung der Frauen erhöhte sich seit 1950 somit um 17,2 Jahre.
Abbildung 2: Lebenserwartung in Österreich
Quelle: Statistik Austria
* Lebens- bzw. Restlebenserwartung in Jahren
Im Durchschnitt verzeichnen wir eine Erhöhung der Lebenserwartung von Männern und Frauen um 17,35 Jahre - und das alles in einer vergleichsweise kleinen Zeitspanne von nur 73 Jahren (1950-2023). Dieses Plus an Lebenserwartung beträgt also etwas mehr als 208 Monate: Das ergibt pro Jahr (!) unglaubliche drei Monate mehr an Lebenserwartung. Kaum zu glauben, aber wahr! Anders ausgedrückt: Pro einzelnem Tag, den wir (er)leben, erhöht sich unsere Lebenserwartung um sechs Stunden.7 Und nochmals anders formuliert: Während Sie, liebe Leserin und lieber Leser, 60 Minuten in diesem Buch lesen, erhöht sich Ihre Lebenserwartung um 15 Minuten. Eine wichtige Zusatzbemerkung: Gemeint ist die durchschnittliche Lebenserwartung in Österreich, nicht unbedingt Ihre eigene. Diese kann höher oder niedriger sein.
Wenn das kein Auftrag - oder sagen wir lieber keine Einladung - für uns alle sein soll, aus der gewonnenen Lebenszeit mehr zu machen, dann haben wir das Chancenpotenzial des heutigen Lebens nicht erkannt.
Was leiten wir für uns daraus ab?
Das bisher übliche Lebensphasen-Modell mit der bekannten Dreiteilung des Lebens in Ausbildung, Arbeit und Ruhestand (Abbildung 3) ist für ein achtzig- bis bald hundertjähriges Leben nicht mehr zutreffend. Phasen des Arbeitens, des Lernens und des Ausruhens werden sich zwischen zwanzig und achtzig Jahren immer wieder abwechseln.8 Die weithin gewohnte Dreiteilung des Lebens wird schließlich zugunsten eines flexibleren Lebensphasen-Modells weichen.9
Professor Leopold Stieger, der sich selbst viel mit den Auswirkungen der Pension beschäftigt hat, spricht von einem Vier-Phasen-Lebensmodell (Abbildung 4).10
Wir sind die erste - oder vielleicht schon zweite - Generation, bei der nach der Berufstätigkeit nicht der Ruhestand folgt. Es hat sich eine neue Lebensphase aufgetan - sozusagen dazwischen geschoben -, die wir zu unserer Freude, Erfüllung und Sinnstiftung produktiv nutzen können. Das ist die Phase zwischen sechzig/65 Jahren und achtzig/85 Jahren. Es sind im wahrsten Sinne »gewonnene Jahre«, die oft auch als Silberjahre bezeichnet werden.11 Diese Silberjahre bieten die Chance für unzählig viele Lebensentwürfe. Arbeit, ob bezahlt oder unbezahlt, bleibt ein Teil des Lebens. Der Ruhestand kommt später.12
Leopold Stieger nennt diese gewonnenen Jahre die Phase der »Freitätigkeit«.13 Nach der Berufstätigkeit folgt die Freitätigkeit. Wichtig ist aus Stiegers Sicht, dass beide Lebensphasen mit »Tätigkeit« zu tun haben.
Der Zusatz »frei« könnte im Sinne von »gratis« missverstanden werden. Neben unbezahlter Arbeit, sogenannter Engagementarbeit, soll genügend Platz für bezahlte Arbeit sein: Vollzeit, Teilzeit oder geringfügig.
Aus diesem Grund bezeichne ich diese Ära der gewonnenen Jahre als Phase der »post-operativen Tätigkeit« (Abbildung 5). Post-operativ deshalb, weil sich diese Phase nahtlos an die Phase der Berufstätigkeit, das heißt des operativen Arbeitens, anschließt. Es ergeben sich dann die folgenden vier Lebensphasen:
Die Phase 1 zieht sich im Vergleich zu früher durchaus in die Länge. Die jungen Menschen haben heute im Durchschnitt längere Ausbildungszeiten und treten deshalb tendenziell erst später in das Erwerbsleben ein.
Das Ende der Phase 2 habe ich deshalb mit 60/65 Jahren angeführt, weil diese Altersstufen in Österreich über viele Jahrzehnte dem gesetzlichen Pensionsantrittsalter entsprochen haben. Bei Männern sind es 65 Jahre, bei Frauen waren es lange sechzig Jahre. Bis zum Jahr 2033 wird dieses gesetzliche Pensionsantrittsalter für Frauen sukzessive auf 65 Jahre erhöht und damit den Männern angeglichen. Für Deutschland muss das Ende der Phase 2 folgerichtig mit 65 bis 67 Jahren angeführt werden. Hier erfolgt in Monatsschritten von 2012 bis zum Jahr 2029 eine Anhebung von 65 auf 67 Jahre.
Hingegen soll das Ende der Phase 3 - der post-operativen Tätigkeit - mit achtzig/85 Jahren als symbolischer, aber durchaus realistischer Wert gesehen werden. Es gibt leider unzählige »Ausreißer« nach unten, aber glücklicherweise auch viele individuelle Beispiele, bei denen selbst mit 95 Jahren die post-operative Phase keinesfalls beendet ist.
Als Beispiel darf ich meinen Vater Luis Drexel erwähnen. Er war 65 Jahre, als er altersbedingt als Vorstandsvorsitzender der SPAR Österreich ausschied. Mit diesem Alter begann seine post-operative Tätigkeit. Er übernahm die Funktion des Aufsichtsratsvorsitzenden und übte diese Tätigkeit mit großem Erfolg bis zu seinem 77. Lebensjahr aus. Seine Aufgaben als Gesellschafter, Unternehmer und Verwalter des familieneigenen Home-Office behielt er bis zu seinem Tod im Jahr 2019, mit stolzen 95 Jahren. Ich erinnere mich an ihn als stets glücklich und erfüllt arbeitenden Menschen. Erst im Alter von neunzig Jahren reduzierte er seine tägliche Bürozeit auf den Vormittag. Zum Mittagessen kam er nach Hause und genoss eine erweiterte Mittagspause mit meiner Mutter.
Am Nachmittag arbeitete er mit Vergnügen zu Hause in seinem Büro weiter. Erst mit 93 Jahren verlegte er sein Büro von der SPAR-Zentrale Dornbirn endgültig nach Hause. Und noch eine Erinnerung: Er arbeitete bis zu seinem Tod mit 95 Jahren von Montag bis Freitag. Er sagte, für die Erholung und die Regeneration gibt es das Wochenende.
Für meinen Vater war Ruhestand ein Irrtum - ohne, dass er dies so ausgedrückt hätte. Er lebte einfach vor, dass der Mensch dann ein glückliches und erfülltes Leben hat, wenn er bis ins hohe Alter im Angesicht von Aufgaben und Tätigkeiten steht.
Natürlich weiß ich, dass das Beispiel meines Vaters eine Ausnahme darstellt. Es soll dennoch zeigen, was am oberen Ende der Altersskala möglich ist. Vorausgesetzt, man bleibt gesund und besitzt den nötigen Willen.
Dem entgegengesetzt steht die Geisteshaltung, die in Österreich über Jahrzehnte in die falsche Richtung gegangen ist. Das Motto war: »Wenn du ehestmöglich ohne Abzüge in Pension gehen kannst, dann bist du der Hero.«14 Politik und Wirtschaft haben ihren Teil dazu beigetragen. In vielen Unternehmen sind die Menschen reihenweise mit der »Aktion 55« oder »Aktion 58« in Frühpension gedrängt worden.
Welch dramatisch negative Auswirkungen ein zu früher Ruhestand auf den Einzelnen und auf die Gesellschaft hat, möchte ich in den Kapiteln 3 und 6 im Detail analysieren.
Zuerst...
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