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Als die Nachricht kam, saß ich mit einer Germanistin in einem Café in München. Es war das Omacafé. Meine Oma kaufte dort Katzenzungen, solange sie lebte. Schon allein deshalb gehe ich kaum in dieses Café. Ich mochte meine Oma. Sehe ich die Katzenzungen, vermisse ich sie. Auch Katzenzungen mag ich, trotz des Namens. Katzen haben Glück, dass ihre echten Zungen nicht schmecken und in Schokolade nachgeformt werden müssen. Wer isst was, wer bekommt wen, was haben Mutterschaft und »ich verschlinge dich« miteinander zu tun?
Aus Zufall waren wir in dem Omacafé gelandet. Die Germanistin kannte ich nicht, sie hatte um ein Gespräch gebeten für einen Lexikonartikel, an dem sie arbeitete, und ich sah sie danach nie wieder. Die Nachricht kam über das Telefon. Nachdem ich aufgelegt hatte, umarmte ich die mir nicht weiter vertraute Frau. Die nun ebenfalls gerührt war. Die Hasen in ihrer Wohnung durften frei laufen, sie nagten Elektrokabel an - mit Glück, Pech oder Lernerfolg. Die Wohnung, in die sie mich in ihrer Aufregung an diesem Vormittag führte, roch nach den Tieren. Es war nicht unangenehm. Das Stroh lag in der Küche. Die Hasen waren Kaninchen, die Germanistin ohne Kind.
In dem Café hatte ich vergessen, die Katzenzungen zu kaufen, die meine Oma gekauft hätte. Meine verlorene Oma, so die Nachricht, würde nun Urgroßmutter werden. Meine Mutter würde sich in eine Großmutter verwandeln, wäre sie das nicht längst gewesen. Drei Kinder hatte meine Schwester in die Welt gebracht, die Lieblingsnichte meines Vaters vier, In-vitro-Fertilisation nur beim letzten. Vollkommen selbstständig waren sie alle gewachsen, eigenfamiliäre, blutsverwandte, sogenannt natürliche, nackt und schmierig, mit allen Gliedern geborene Namensträger, die insbesondere meinem Vater als die richtige Verwandtschaft am Herzen lagen. Dagegen war nichts einzuwenden, es handelte sich um ein verständliches Gefühl, Teil der Welt meines Vaters (»Namensträger«), die ich nicht teilte, die sachlich nicht einmal mehr stimmte, doch dieses Denken und der damit verbundene Blick standen im Raum und schmerzten.
Auch wir würden nun ein Kind bekommen, so die Nachricht. Auf dem Weg in die germanistische Hasenwohnung rief ich meinen Mann an. Er war damals noch mein Mann, nicht mein Exmann. Für Sekunden, die sich dehnten wie die süßen Bohnenpastekugeln, die wir auf der Hochzeitsreise in Japan beim Stichwort »honeymoon« ständig ungefragt serviert bekommen hatten, blieb es sehr ruhig. Hunter saß in unserer Wohnung in Berlin, nahm ich an, zumindest sagte er nichts Gegenteiliges. Dass die Nachricht in einem Café gekommen war, in dem es Katzenzungen gab, die ich nicht gekauft hatte, interessierte ihn weniger. Ich weiß auch nicht, warum ich ihm dies als Erstes erzählte.
Der Rest des Tages ist verschollen. Ich glaube, ich traf noch den Rheumatologen Herrn Dr. F. Ich hatte keine Schmerzen, keine Ausfälle, keine geschwollenen Gelenke, nur Blutwerte, die auf eine rheumatische Erkrankung deuteten. Die Diagnose stellte sich später als falscher Alarm heraus, was auf die Nachricht, die über das Telefon gekommen war, glücklicherweise nicht zutraf. Sie war ein Alarm, wenngleich nicht falsch. Und vielleicht auch kein Alarm, wenn man es richtig bedenkt.
Mit dem Rheumatismusdoktor besuchte ich ein bayerisches Restaurant, das ich ohne den Wunschdruck eines anderen niemals betreten hätte. Wir verabschiedeten uns vor der Tür. Bäume kahl und kaum vorhanden, Sträucher kahl und kaum vorhanden, glatte Fassaden, Nachkriegsarchitektur, schachtelig, niedrig, Beton. Licht fiel auf den verschlossenen Boden, schattenlos. Mitte März. Eine Polizeistreife kontrollierte die parkenden Wagen, eine der Frauen, blond und pobreit in der unvorteilhaft geschnittenen Uniformhose, hatte einen stark russischen Akzent.
In dem Lokal hatte man nur Fleisch und Fleischartiges wie Leberkäse (überbacken oder nicht überbacken) serviert. Doktor F.s Frau war in einer Schleife verunfallt. So drückte er sich aus. Es handelte sich um die Auffahrtschleife vor dem S-Bahnhof, der zufällig der S-Bahnhof des Ortes war, in dem ich aufgewachsen war und in dem meine Eltern noch immer wohnten. In der Mitte der Unfallkehre lagen der Eingang zum Bahnhof sowie ein Kiosk, in dem mein Vater, der nun ein Großvater werden würde, wäre er nicht schon einer gewesen, regelmäßig (überaus regelmäßig) seinen Tabak kaufte.
Doktor F., der sich bereit erklärt hatte, mir von medizinischen Fällen zu erzählen, konnte meine Kind-Aufregung nicht teilen. Ich versuchte, sie zu verstecken, zum Ausgleich bebte sie umso entschiedener in meinem Untergrund (Magen und tiefer), was uns beiden (der Aufregung und mir) guttat.
Um mich abzulenken, schimpfte ich mit Herrn F. darüber, dass in dem Ort fast nur mehr alte Männer und Frauen Auto fuhren, was daran lag, dass nur mehr Menschen über siebzig dort wohnten. Es war ein stiller Ort, durchdrungen vom nahezu unhörbaren Summen der Batterien in PKWs, Rollatoren, Rollstühlen, Hörgeräten und Herzschrittmachern. Man saß in diesem Reichenort allein oder paarweise in überdimensionierten, oft mit Hirschgeweihen und Schnitzbalkonen geschmückten und ausnahmslos mit Sicherheitsschranken versehenen Häusern und fuhr in gleichermaßen überdimensionierten, ungeschnitzten Limousinen umher. Auch mein Vater hielt Autofahren für einen natürlichen Vorgang, der im Alter auf natürliche Weise weiter ausgeführt wird, sprich wie von selbst, war nur erst der Schlüssel in die Zündung gebracht. Der Abstand zwischen den Menschen blieb groß, metallgesichert und bakterienfrei, um sechs Uhr abends senkte sich der Frieden der Fernsehprogramme über den mitten in Deutschland liegenden, von Grenzbewegungen unberührten Ort.
Dass ich die Nachricht in München erhielt, verdankte sich einem Zufall. Ebenso wie der Umstand, dass ich selbst einst in München zur Welt gekommen war. Schon die Begegnung der Samenzelle und des Eis, aus denen ich zusammengesetzt wurde, war hochzufällig. Das ist bei allen Menschen so (Wettrennen, Einnistung und und), wir vergessen es bereitwillig. Meine Eltern betonten, dass sie sich nicht sicher waren, ob sie wirklich Großeltern wurden bei einem Vorgang, wo jemand (ich) ein Kind nur adoptierte, statt ihm mithilfe des eigenen Körpers das Leben zu schenken. Ihr »das ist ein fundamentaler Unterschied« war für sie so unumstößlich wahr wie »der Storch bringt die Kinder nicht«. Und das, obwohl sie mich kurz nach meiner Geburt auf der Entbindungsstation mit einem anderen Baby verwechselt und ohne fremde Hilfe nicht wiedergefunden hatten.
Waren sie mit Zufällen also nicht vertraut?
Neugeborene wurden ihren Müttern in den 60er-Jahren nur zum Stillen gebracht. Den Rest der Zeit lagen sie im Säuglingszimmer, ein wiegenartig geformtes Kunststoffbettchen am anderen, und konnten sich allein fühlen, was als hygienisch und praktisch galt. Bloß nicht verzärteln, den Balg, bloß nicht zu viel Bindung Mutter-Kind. Johanna Haarers nationalsozialistisches Erfolgsbuch Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind, leicht modifiziert, verkaufte sich unvermindert bestens. Besichtigende Eltern betrachteten den Nachwuchs durch die große Besucherscheibe. Die Babys lagen nicht unbedingt jeden Tag an der gleichen Stelle, man suchte das eigene, das man selbstverständlich erkannte, und bezog dort Position, von wo man es am besten betrachten konnte. So hatten es auch meine Eltern unter Führung meiner Mutter gehalten. Alles reine Freude, bis ein anderes Paar erschien und dasselbe Kind von derselben idealen Stelle aus bewundern wollte.
Vier Erwachsene, ein Säugling. Die herbeigerufene Schwester stellte fest, dass das Neugeborene, das meine Mutter so sicher als eigene Tochter erkannt hatte, den anderen gehörte. Meine Eltern, die damals nicht oder nur auf anstrengend unsichere Weise meine Eltern waren, standen mit einem Mal kindlos an der vermaledeiten Scheibe. Die Schwester suchte in den Babykörben nach einem Nachwuchs, an dessen Arm der richtige Name hing, ebenjene Buchstabenfolge, die heute als mein Nachname gilt. Dass ich offensichtlich nicht so aussah wie das Baby, an das meine Mutter sich vor dem Besichtigungsglas erinnerte - jenes frischgeborene feuchte Wesen, das ihr nach der Entbindung in den Arm gelegt und von ihr gehalten und gedrückt worden war -, wurde stillschweigend ignoriert.
Dank dieser Erfahrung sollten meine Eltern ein differenzierteres Verhältnis zu etwas wie »natürlicher Verbindung« oder »automatischem«, quasi eigenleiblichem Bonding haben. Doch wenn ich sage, dass nicht alles, was eindeutig scheint, dies auch ist, wollen sie nichts davon hören.
Nach dem Zufall, die Nachricht in München zu bekommen, flog ich nach Berlin. Falsch, ich fuhr mit dem Zug. Das ist heute ausnehmend korrekt und war schon damals richtig. Ich fliege nicht so gern, dass ich dauernd fliegen müsste, allemal nicht von München, wo bereits der Weg zum Flughafen eine Dauerkatastrophe ist. Sie dauert so lange an, wie es die Münchner S-Bahn und den Flughafen gibt, der seinerseits immer schon eine Umweltkatastrophe war, die noch dadurch vergrößert wird, dass er nur mit dem 150-Euro-Taxi oder der nichtfahrenden S-Bahn zu erreichen ist. Vor Jahren bereits hatte ich einen Flug verpasst, weil ich in der S-Bahn zum Flughafen eingesperrt worden war. Türblockade. Wer sich auskannte, stieg ohnehin nur mit Wasserflasche und Notfallbonbon ein.
Nach der Nachricht war mir dies alles egal. Die innere Unruhe summte auch an dem Tag nach dem Anruf vor sich hin und dehnte...
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