Schweitzer Fachinformationen
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Mit mildem Gelb durchsetztes frisches Blattlicht fiel von der Böschung vor dem Küchenfenster auf Boden und Tisch. Durch die Decke klangen die Takte einer Chopin-Etüde. Freitagnachmittag, Klavierstunde Maude. Er war mit dem Zug von seinem Labor in Oxford nach Paddington gefahren, von dort dreißig Minuten weiter mit der Tube. Am Wochenende kam er nach Hause. So hatte seine Frau die Nummer 8, Portland Terrace, vom ersten Tag an genannt: Zuhause. Seit einem Jahr lebten sie hier.
Er brauchte einen Tee.
Irgendetwas in der Küche stimmte nicht.
Sie befand sich im Souterrain wie üblich bei viktorianischen Häusern. Als er seine Jacke - es war Juli, es herrschte die neue Hitze, aber ebenso herrschten die alten Wettergüsse und unberechenbaren Windschübe von der Nordsee die Themse herauf -, als er seine wasserdichte Jacke über den Stuhl an der Tür hängte, sah er, dass jemand den Magneten auf dem Kühlschrank, einen roten Doppeldeckerbus, umgedreht hatte. Der Bus lag auf dem Dach, die Räder ragten in die Luft. Statt der üblichen Einkaufsliste klemmte ein Brief darunter.
Oxford, 12. 11. 1978
Liebste Maude,
. kann nicht länger .
nie eine andere als Dich .
Abigail . unter Silas' Bademantel . ich . mir . sicher
. diese Tage auf Sylt vergessen . Dir, wenigstens Dir .
Die Art ., wie sie endeten .
und wir wussten Dinge, die wir Stunden
zuvor nicht zu benennen .
Du sollst zwischen uns ., . frei .
ohne Lüge, . Dein Leben aufbauen . Ich musste es Dir
. Maude
Forever yours
Charles
Die waren verrückt.
Die: Seine Frau und ihr Liebhaber.
Seine Frau und sein bester Freund.
Maude und Silas.
Das Wasser in der Säulenanzeige des Kochers blubberte blau auf. Chopin Takt 1, 2, 3, 1, 2, 1, 2. Noch bevor er dazu kam, etwas zu denken, hatte seine Hand das Blatt in die Jackentasche gesteckt. Er sah sich in seinem Studentenzimmer sitzen, das Feuer im Kamin, zwei Drähte wie in einem Toaster, glühte rot, die Butter, die er auf dem Innenbrett des gotisch spitzbogigen Fensters aufbewahrte, blieb hart. Der Füllfederhalter hatte über das Papier gekratzt. Vierzig Jahre war der Brief alt.
Er rührte Milch in den Tee.
Er betrachtete den Plastiklöffel. Plastik wurde nicht heiß.
A bit crowded, his marriage.
Crowded, so zu dritt.
In seinem, Charles', neuem Londoner Haus.
Please touch, der Raum schwirrt von Menschengeräusch. Zwei von Gerüsten gestützte Saurierskelette schwanken im Luftzug, den Unterkiefer eines Wals hat man gegen eine Säule gelehnt.
Er fährt so oft hin und her zwischen der großen und kleinen Stadt an der Themse, dass er um jeden Tag dankbar ist, an dem er nicht in einem der zockelnden Züge sitzt, nicht auf dem holprigen Oxforder Bahnsteig ankommt und mit hundert anderen über die aus dünnstem Metall zusammengestückte Fußgängerbrücke klettern muss. Und ist doch erneut Zug gefahren, gestern Abend noch.
Die Nacht hat er in seinem pied-à-terre verbracht. Es liegt nahe einer mehrere Hektar großen wilden Wiese, auf der Kühe und Pferde grasen. Seit viertausend Jahren, heißt es, wird hier nicht mehr gepflügt, Jogger und Hunde jagen über die Sandwege. Jetzt, im Sommer, riecht es nach Kuhdung, er fasst kaum, wo er lebt. Wie kann etwas so ländlich sein - grasig, dampfig warm, voller Insekten -, und dann läuft er zehn Minuten und steht in seinem Labor oder einem Museum wie diesem.
Fünf Wale, der kleinste ein Vorläufer des Tümmlers, der größte ein Entenwal, hängen von den silbergrauen Rippen der Decke. Oxfords Heimstätte der Naturgeschichte ist warm, hallt, mächtige Stahlbalken tragen das Glasdach, ein durch die Luft fliegendes Schiff der göttlichen Schöpfung, ein Traum von Unendlichkeit im Reifrock viktorianischer Ingenieurskunst. In dreißig Metern lichter Höhe ragen beinerne Köpfe aus sesselgroßen Halswirbeln, überdimensionierte, spitz zulaufende Unterkieferschlitten fahren auf scharfen Knochenkufen durch die Luft, während die Füße der 65 Millionen Jahre alten Dinosaurier dort, wo auch er steht, kräftig, zehig, breit die Erde berühren.
Cavity, sagt die andere Sprache, »Höhle«. Seine Faust passt in die cavity des Zahns, der im Unterkiefer des Wals fehlt. Don't touch, fragile.
Er hat im College gelebt, zur Miete in den USA, später mit Maude in Deutschland. Das terraced house mit der edel schwarz lackierten Haustür ist ihr erstes eigenes englisches Heim. Er hat es der Küche wegen gekauft, wegen des böschigen Unterwasserlichts. Maude hingegen aus guten Gründen für die Bank. In seinem Beruf zählt er Zellen, »dem Geheimnis des Lebens auf der Spur«, so der Banner über dem Department am Open Day. Fünf Jahre hat er noch auf seiner Stelle, ein Wunder, dass man ihn zurückhaben wollte.
Er streift durch die Gänge der seltenen und ausgestorbenen Tiere, an Charles Darwin und Doppelhelix-Watson vorbei. Wesen klettern hin und her zwischen Wasser und Stein. Kriechen an Land. Blicken ihn aus übergroßen Augen an. Flugsaurier, zart wie Eidechsen, schade, dass sie nicht mehr auf dem Planeten umherstaken (ob sie ihre eckigen Beine auf Chamäleonweise gesetzt haben, bedächtig platschend - er muss dabei an kalte Makkaroni denken). Es wäre seltsam, ihnen beim nächsten Spaziergang in den Cotswolds, wenn ein Kaninchen aus der Hecke springt oder Rehe zu einer Waldinsel wechseln, in der Dämmerung zu begegnen. Saurier gehören zu den Vögeln, sagt das Schild, ursprünglich eher zart gebaut, und für Sekunden scheint ihm die Wirklichkeit eben das, ein hübscher, wendiger Springsaurier, gebaut aus Gewohnheiten und Halbwissen, immer schon vorbei, wenn du ihn zu greifen glaubst. Seinen Brief, als wäre er eine Einkaufsliste, mit dem umgestürzten Doppeldecker an die Kühlschranktür geklippt.
Oxford, November 1978: Liebste Maude.
Tinte, sein alter Montblanc.
In Dinosaurierzeit sind vierzig Jahre nichts, in Oxfordzeit fast nichts, in Lebenszeit viel, in Charles' Zeit mit Maude alles.
Dass sie den Brief aufgehoben hat, hätte ihn unter anderen Umständen gefreut. Er weiß natürlich, warum sie die Zeilen hervorkramen musste, jetzt, wo Silas bei ihr ist. Silas, der alte englische Freund, der sie schon in Düsseldorf regelmäßig zwischen seinen Reisen besucht hat, Silas scheint mit einem Mal nicht mehr viel unterwegs zu sein. Hat er überhaupt noch seine Wohnung in Bloomsbury, oder wohnt er schon bei ihnen? Bei Maude?
Die Scham brennt nicht im Gesicht. Nicht im Nacken.
Er ist ja nicht dort. Er ist weggerannt. Als wäre er ein Eheanfänger. Ein Krisenanfänger. Dabei ist vierzig Jahre lang alles gut gegangen, aus seiner Sicht.
Die Scham brennt nicht, sie ist ein Klumpen, der wie ein Ball zwischen seinen Rippen rollt.
Der Baumeister hat die Seitenschiffe des Museums in die Mitte geklappt und das gesamte Gebäude auf spitze, glasige Weise zusammengeschoben, sodass das Licht bester technischer Laune farblos und kristallen auf die versammelten Tiere fällt, unter denen einzig die Hominiden sich noch regen. Selbst samstags werden Kinder in dunkelblauen Pullovern mit lila Bordüre am Ausschnitt, die Mädchen in blauen kurzen Röcken und Kniestrümpfen, immer ein Stück Haut zu sehen, durch die Gänge geführt, auf und ab, als fädelte man sie in einen Stoff. »Was finden wir auf der Welt?« »Wo kommst du her?« »Was ist normal?«
Wieder erstaunt ihn, dass die Umgebung der Stadt in diesem Maß voller Fossilien steckt: erstarrte Sauriertritte, gigantische Hüften, die zugehörigen Schädel wie aus Hühnerknochen gefügt, vergleichsweise zerbrechlich und fein. In beeindruckender Front schoben die farnfressenden und panzerknackenden Schönheiten, die Erfindungen aus Urschleim, die Kleinhirne und Erst-Lungenträger, die Wahnsinnigen des Wassers, die Revolutionäre der Luft, die schwer schaukelnden Pioniere des Gehens, die ersten und tiefsten Urtümer des Planeten sich aus ihrer Heimat, dem Schlamm.
Für dich finden wir auch ein Zuhause, hatte Maude gesagt, als sie von Düsseldorf nach England zurückgekehrt waren, nach drei Jahrzehnten auf dem Kontinent, zurück in das nicht wiedererkennbare Land, in dem er, Charles, aufgewachsen war, in das sie, Maude, gehörte. Ganz, sagte sie. Und er, Charles, doch...
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