Schweitzer Fachinformationen
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Ich war Ralf in der orthopädischen Rehaklinik am Bodensee zuvor zwar schon ein paarmal begegnet, aber näher kennengelernt haben wir uns erst eines Abends während meiner zweiten Therapiewoche. Vor dem Fernseher, im Aufenthaltsraum, bei einem alkoholfreien Weizen. Zusammen mit einigen anderen Patienten hatten wir eine Menge Spaß an einer Sendung mit witzigen Zeichentrickfilmchen. Und wie erhofft, brachten sie schließlich auch Loriots herrlichen Sketch mit dem Mann namens Hermann, der nichts weiter will, als still in seinem Sessel zu sitzen, während seine Frau hinter ihm pausenlos hin und her wuselt und ihn mit ihrem schrillen Geschnatter nervt.
»Hermann«, kreischt sie mit vorwurfsvoller Stimme, »was machst du da?«
Woraufhin er betont sanft antwortet: »Ich mache nichts.«
»Gar nichts?«
»Nein.«
Da höre ich, wie der Mann direkt neben mir so leise, dass ich ihn gerade noch verstehen kann, murmelt: »Das ist natürlich Quatsch.«
»Was hast du damit gemeint: >Das ist natürlich Quatsch<?«, frage ich ihn, nachdem der Film zu Ende ist.
Er beugt sich zu mir herüber und sieht mich lächelnd an. »Na, dass der Typ nichts macht. Das ist ganz unmöglich.«
Genau genommen, sagt er nicht »Das ist«, sondern »Des isch«. Ralf schwäbelt unüberhörbar. Doch was Dialekte angeht, sollte ich lieber still sein. Denn dass ich im Fränkischen groß geworden bin, hört mir auch jeder an: Ich rolle das R, spreche ein komisches L und bringe nur, wenn ich mich bewusst anstrenge, ein halbwegs als solches erkennbares P oder T zustande.
Ich wende mich ihm interessiert zu. Erst jetzt fällt mir auf, was für ein Brocken von einem Mann er ist: mindestens eins neunzig groß und sicher mehr als 120 Kilo schwer. Dagegen bin ich mit meinen eins zweiundsiebzig und meinem schmalen Kreuz ein richtiger Mickerling. Aus seinem fleischigen, fast kahlen Schädel mit dem dunklen Kinnbart blicken mich zwei braune Augen freundlich an.
»Wieso?«, frage ich und reiche ihm die Hand. »Ich bin übrigens Peter.« Wahrscheinlich sage ich »Beder«, aber das hatten wir ja schon. Am Anfang hat es mich irritiert, dass hier in der Rehaklinik jeder jeden duzt. Aber mittlerweile habe ich mich daran gewöhnt und empfinde die Vertrautheit unter uns Leidensgenossen sogar als ganz angenehm. Schließlich verbindet uns ja so etwas wie eine Schicksalsgemeinschaft.
»Ralf«, sagt Ralf, und als er mir freundlich lächelnd die Hand schüttelt, verschwindet meine in seiner Pratze wie die eines Kleinkindes in der seines Vaters. »Weil das schlichtweg nicht geht: nichts machen.«
Ich schüttle den Kopf. »Das verstehe ich jetzt nicht.«
»Na ja, ist doch klar. Was der gute Hermann ganz sicher gerade tut, ist atmen. Vielleicht ein bisschen hektisch, weil ihm seine Frau gewaltig auf den Wecker geht. Kann sogar sein, dass er stressbedingt schwitzt, und vielleicht ballt er ja sogar die Fäuste. Das würde ich, wenn ich an seiner Stelle wäre, mit Sicherheit tun. Auf alle Fälle hört er sie ja ganz offensichtlich sprechen, und da er nicht nur die Ohren, sondern auch die Augen offen hat, sieht er natürlich auch irgendwas. Er stützt seinen Kopf auf die Hand und spitzt den Mund, betätigt also diverse Muskeln, und zweifellos überlegt er gerade, was er sagen oder tun soll. Das ist doch eine ganze Menge. Findest du nicht?«
Ich nicke langsam. »Wenn man's so sieht .«
»Doch damit nicht genug«, fährt Ralf fort. »Denn während er all das tut, ist sein Körper pausenlos mit noch viel mehr Aktivitäten zugange.«
»Wie meinst du das?«
»Nun, sein Herz schlägt und pumpt die ganze Zeit Blut durch seinen Körper. Seine Nieren produzieren ohne Pause Urin, sein Darm ist möglicherweise gerade schwer mit Verdauen beschäftigt und die Leber mit Entgiften.«
Inzwischen sind auch die anderen Patienten im Raum hellhörig geworden. »Richtig«, stimmt ein älterer Mann zu, der gerade dabei ist, sich mithilfe zweier Stöcke hochzuwuchten. »Und das Rückenmark produziert permanent neue Blutzellen.«
Ralf lächelt milde: »Das Knochenmark, meinst du. Das Rückenmark hat damit nichts zu schaffen. Wobei du ansonsten natürlich recht hast. Zwei Millionen rote Blutkörperchen entstehen jede Sekunde neu und ersetzen verbrauchte ältere. Wäre jedes ein Grashalm, könnte man mit denen, die an einem einzigen Tag neu gebildet werden, rund tausend Fußballfelder begrünen.«
»Sag ich doch«, entgegnet der Stöckemann trotzig. »Und das Immunsystem ist pausenlos auf der Suche nach fiesen Eindringlingen, um sie niederzumachen. Richtig?«
Ralf nickt. »Nicht nur das. In unseren Zellen laufen Tag und Nacht, also auch, wenn wir schlafen, Tausende von biochemischen Reaktionen ab. Und zwar gleichzeitig, das muss man sich mal vorstellen. Wenn ich allein nur an die Energieerzeugung, ich meine die Produktion von ATP, denke . Und dann die vielen Hormone .«
»Woher kennst du dich so gut aus?«, unterbreche ich ihn. »Bist du etwa Mediziner?«
Er nickt grinsend. »Landarzt. In einem Kaff auf der Schwäbischen Alb. Und das mit Leib und Seele.«
Und dann erfahre ich, dass er mit vollem Namen Dr. Ralf Hohmann heißt, Internist ist und trotz einer Quasi-rund-um-die-Uhr-Beanspruchung nichts anderes sein möchte als Landarzt. »Wenn mir der - entschuldige - Scheißbürokratismus auch schwer auf den Wecker geht«, fügt er hinzu. »Die vielen Stunden, die dafür draufgehen, würde ich viel lieber mit meinen Kindern verbringen.«
»Wie viele hast du denn?«
»Eine Tochter und zwei Söhne. Zum Glück hat meine Mutter Zeit, sich um die drei zu kümmern, solange ich hier bin.«
Offensichtlich hat Ralf also keine Frau. Warum, würde mich schon interessieren. Aber ich mag nicht fragen. Doch anscheinend sieht man mir meine Neugier deutlich an.
»Meine Frau ist bei einem Autounfall ums Leben gekommen«, murmelt er, und um seine Augen zuckt es verdächtig. »Vor drei Jahren. Weil irgend so ein hirnverbranntes Arschloch gemeint hat, er müsse vor einer Kurve unbedingt noch zwei Laster am Stück überholen. Der kam ihr plötzlich auf ihrer Seite entgegen. Sie hatte nicht den Hauch einer Chance.« Jetzt kullert ihm doch eine Träne die Wange hinab. »Das Auto war nur noch ein Schrotthaufen. Zum Glück war sie allein.«
»Das tut mir wirklich leid«, stammle ich. Was soll ich sonst auch sagen? »Wie alt sind denn deine Kinder?«
»Susanne ist neunzehn, Tobias siebzehn und Markus dreizehn.« Eine Weile blickt er versonnen ins Leere, dann wendet er sich wieder mir zu: »Und was machst du so?«
»Ich betreibe zusammen mit einem Partner eine Internetagentur.«
»Das heißt?«
»Wir basteln die Software für alle möglichen Webauftritte. Von relativ einfachen, etwa für kleine Firmen wie Einzelhändler oder Hotels, bis hin zu hoch komplizierten mit zig Verlinkungen, interaktiven Anteilen und Tausenden von Sonderfunktionen. Gerade sind wir schwer mit einem Großprojekt für einen Autobauer beschäftigt.«
»Klingt interessant«, sagt er. »Du heißt Wehler, richtig?«
»Ja, Peter Wehler. Woher weißt du .?«
»Habe ich neulich gehört, als dich die blonde Physiotherapeutin aufgerufen hat.« Er lässt seinen Blick von oben bis unten über meinen Körper schweifen. »Ich schätze, wir sind etwa gleich alt.«
»Ich bin vierundfünfzig«, sage ich.
»Donnerwetter!« Er zieht überrascht die Augenbrauen hoch. »Dann hast du dich aber gut gehalten. Ich bin nämlich erst sechsundvierzig. Liegt vielleicht daran, dass du so schön schlank bist.« Er klopft sich mit der flachen Hand auf den mächtigen Bauch. »Was man von mir ja leider nicht behaupten kann. Ich muss unbedingt abnehmen. Hab nämlich ein neues Knie bekommen. Und das freut sich über jedes Kilo, das es weniger herumschleppen muss.«
»Auch ein Autounfall?«
»Nein, beim Fischen. Bin nämlich begeisterter Angler.«
»Beim Fischen? Das habe ich bislang eigentlich nicht zu den Risikosportarten gezählt.«
Er lacht kurz auf. »Ist es eigentlich auch nicht. Bin beim Runtersteigen zum Wasser über eine glitschige Böschung auf dem Bewuchs ausgerutscht und mit dem rechten Knie genau in einen schmalen Spalt zwischen zwei dicken Steinen geknallt. Totalschaden! Da war nichts zu reparieren. Aber zum Glück gibt's ja heute Ersatzteile von der Stange. Komme damit inzwischen schon ganz gut zurecht. Brauche nur noch einen Stock zum Abstützen beim Gehen. Hast du eigentlich auch Kinder?«
»Ja, drei, genau wie du. Allerdings lauter Töchter. Vierundzwanzig, einundzwanzig und dreizehn.«
Ralf lächelt sanft. »Aha, eine Nachzüglerin.«
»>Nesthäkchen< trifft die Sache besser«, seufze ich »Heißt Lisa und ist so was von verzogen. Wenn der nicht alles nach dem Kopf geht .«
»Das kenne ich.« Ralfs Lächeln wird noch ein Stück breiter. »Und weshalb bist du hier?«
»Wirbelsäulenoperation«, sage ich. »Ist jetzt knapp fünf Wochen her. Wegen eines massiven Bandscheibenvorfalls.«
»Und? Alles gut überstanden?«
»Ich kann nicht klagen. Hab nur noch ziemliche Schmerzen hier unten seitlich am Rücken.« Dabei deute ich mit der Hand auf das Gebiet oberhalb der rechten Pobacke.
»Iliosakralgelenk«, erklärt Peter und streicht sich über den gepflegten dunklen Vollbart. »Ja, das kann ganz schön wehtun.«
»Wird schon mit der Zeit vergehen«, sage ich und staune, dass ein Mann mit so einem Bartwuchs eine derart spärliche Kopfbehaarung...
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