Meine Kindheit
Am 09.01.1953 soll ich gegen 10 Uhr auf dem Küchentisch in Opas Haus aus meiner Mutti gekrabbelt sein. Klinikentbindungen waren noch nicht so üblich. Den Beginn eines Menschenlebens darf man wohl als Wunder der Natur empfinden.
Gut behütet und liebevoll umsorgt verbrachten mein Bruder und ich die ersten Lebensjahre in Haus und Garten des Großvaters. Meine Mutter sang und trällerte viele Volkslieder, die ich schon als Kleinkind mitlallte und so eine gewisse musikalische Ader bekam. Die kindlichen Dummheiten blieben nicht aus, beim "Kokeln" geriet einmal fast die Küche in Brand.
Mein 1 Jahr früher geborener Bruder war größer und robuster als ich, und hatte vielleicht meiner Mutter so viel Calcium entzogen, dass es für mich nicht mehr optimal reichte. So verfolgten mich schlechte Zähne wegen später von Zahnärzten bemerkten "weichen Zahnschmelzes" durch das ganze Leben, die erste Zahnkrone bekam ich schon mit 19 Jahren.
Unser Opa schützte uns Kinder sorgfältig vor seiner Holzwerkstatt mit Kreissäge, Bandsäge, Fräsmaschine, die wir lange nicht betreten durften. Er schimpfte öfter über die russische Mangel- und Misswirtschaft und legte bei uns damit eine gewisse Grundlage für spätere politische Meinungen, er schien bessere Zeiten gekannt zu haben. Die damaligen Sowjetsoldaten wurden im Volksmund aus alter Gewohnheit immer noch "die Russen" genannt. Von einigen Berichten über deren Untaten nach dem Kriege mal abgesehen, hatten wir persönlich keine schlechten Erfahrungen mit ihnen, sie wurden auch weitgehend von der deutschen Bevölkerung abgegrenzt.
Opa Martin war natürlich eine Leitfigur für uns Kinder. Trotz seines Zigarrenrauchens wurde er immerhin 86 Jahre alt, damals ein hohes Alter, und überlebte seine 2 Frauen. Seine privaten Heilmethoden sind mir noch erinnerlich. Gegen Magenschmerzen oder -geschwüre schwor er auf Honig (soweit in der DDR erhältlich), bei verknackstem Fuß rannte er eine Runde ums Haus, den Fußpilz bekämpfte er mit Seifenbädern. Nachdem Opa seine erste Frau Liddy durch Schlaganfall verloren hatte, schenkte ihm das Schicksal Jahre später noch eine deutlich jüngere Lisbeth, die ich als ganz lieb und lustig in Erinnerung habe. Um den Verdacht der Erbschleicherei auszuräumen, zahlte Opa einen vorzeitigen Erbanteil an seine Kinder aus. Aber es kam anders. Lisbeth starb viel zu früh an Magenkrebs. Sie hatte früher einmal angedeutet, nach den Hungerjahren gern rohes Fleisch zu naschen. Als der Bestatter sie abholte, war ich gerade da, musste den Zusammenbruch meines Großvaters miterleben und wurde schon im zarten Alter von der grausamen Endlichkeit des menschlichen Lebens angehaucht.
So verbrachte ich die ersten 6 Jahre im Haus und Garten des Großvaters am Kronenhügel, erforschte die Flora und Fauna von Sauerampfer bis Regenwurm und hatte Kontakt zu edlem Holzhandwerk.
Meine Onkel waren lustige Burschen. Einmal "zauberte" Onkel Fritz ein Ei durch die Zimmerdecke und behauptete später, damit meine grüblerisch-philosophische Neigung begründet zu haben, Onkel Armin stiftete mich an, die schmackhaften Wasserrüben für ihn vom nahen Feld zu klauen, da er dafür zu groß und ich als Kind nicht strafmündig sei. Sollten wir etwas nicht hören, gab es den verschlüsselten Hinweis: "Achtung, das Ofenloch steht offen". Es war ja die Zeit der kohlegeheizten gemütlichen Kachelöfen.
Weihnachten und Ostern wurden traditionell feierlich begangen, wobei unsere Familie nicht allzu kirchlich orientiert war. Die Ostereier wurden so gut versteckt, dass wir manche erst Monate später in Opas Bretterstapeln fanden.
Vom 4. bis 6. Lebensjahr ging ich in den Kindergarten auf dem Kiefernweg in Hellerau. Das war sicher für die soziale Entwicklung günstig und bei berufstätigen Eltern auch kaum anders möglich. Das Basteln, Malen, Spielen, Vorlesen, Spaziergänge im Kindergarten waren sicher für die geistige Entwicklung von Vorteil.
Das Krippen- und Kindergarten-System war in der DDR gründlich ausgebaut und fast kostenlos, wozu unser heutiger Staat offenbar nicht in der Lage ist, trotz größeren Wohlstandes.
Auf dem Kiefernweg gab es noch die Physiotherapie Keffel, wo wir Kinder UV-Licht erhielten, mit starken Sonnenbrillen geschützt, zwecks Vitamin D-Bildung, und die Hausarztpraxis des schon betagten Dr. Bürger. Mit diesem bekam ich im 6. Lebensjahr zu tun, nach einem Nasenbeinbruch wegen eines Sturzes auf vereister Straße. Außer dem Ausschnauben der Blutkoagel fiel dem guten Doktor zur Behandlung nichts weiter ein, er vergaß die Aufrichtung der Nasenfraktur. So ging ich mit einer unschönen traumatischen "Sattelnase" mit beengter Nasenatmung durchs weitere Leben, ein erster nachhaltiger Eindruck von der Unzulänglichkeit der Medizin(er). Mit Pfuschmedizin sollte ich später noch oft Bekanntschaft machen.
Mein Vater begann mit dem Bau eines Einfamilienhauses in Hellerau an einem Weg mit dem romantischen Namen "An den Teichwiesen". In der Nähe lag der markante Wasserturm, ein hoher, viereckiger Betonklotz. Auch die Autobahn war aus der Ferne zu hören. Am 25.09.1959 erfolgte der Einzug in unser neues Domizil, mein Bruder und ich bekamen je ein kleines Zimmer oben, mit schräger Giebelwand.
Vaters Hausbau in dem wilden Garten war natürlich ein Abenteuerspielplatz für uns Kinder. Ein Sturz von der 2 Meter hohen "Baubude" (Schuppen) blieb ohne Folgen. Unser sportlich gestählter Vater ließ seine eindrucksvollen Muskeln spielen und wurde auch mit den harten Granitbrocken fertig, die unter der Erde auftauchten, Ausläufer der Lausitzer Granitplatte.
Mein Vater hatte nach körperlicher Ertüchtigung im "3. Reich" als Luftwaffenhelfer die letzten Kriegstage noch miterlebt und geriet alsbald für drei Jahre in angloamerikanische Gefangenschaft. Dort hatte er viel Sport getrieben, war danach Eishockeyspieler beim Dresdener "SC Einheit" als berühmte Nummer 4, wie mir Bekannte noch viele Jahre später berichteten. Er wurde in der sportaffinen DDR Sportlehrer und Trainer der Frauen-Leichtathletik beim SC Einheit. Sein Faible für die englische Sprache und sportliche Erziehung gab er an uns Kinder weiter. Er regierte uns niemals durch Schläge, sondern gelegentlich brüllende Lautstärke, wie er das vom Sportplatz gewöhnt war, und wobei uns die Knie schlotterten.
"An den Teichwiesen" gab es tatsächlich Wiesen mit einem kleinen Bächlein zwischen umliegenden Gärten, das wir im Winter anstauten, um eine Eisfläche für Schlittschuhlaufen und Eishockey zu gewinnen. Wir waren als Kinder viel in der Natur, streiften auch durch fremde Gärten. Die heutigen Handys, Computer und Gameboys gab es nicht, der erste Schwarz-weiß-Fernseher tauchte auf, als ich 11 Jahre alt war.
Die Vorfahren. Vorn: Onkel Armin, Onkel Fritz, 1. und 2. Reihe: Großtante Elsa, Großeltern Rosa und Walter Boden, Eltern Gisela und Karl-Heinz Boden, dahinter die Tanten Gerda und Anita, die Großeltern Martin und Liddy Peschel.
Bild von 1951, Hochzeitsbild meiner Eltern
Im September 1959 begann meine Schulzeit in der 84. POS (Polytechnische Oberschule) in Hellerau. Das schuf neue gleichaltrige Geselligkeit.
Auch die Nachbarn am neuen Wohnort waren kennenzulernen. Nebenan wohnte Henry Hoffmann mit seiner Erika und den Kindern Steffen und Margit. Dann folgte ein Wiesenpfad, dann der erwähnte Bach hinter einer großen Weißdornhecke, dann ging es mit den Gärten der Familien Sickert und Aikele wieder den Hang hinauf. Mit Steffen Hoffmann verband mich eine sportlich getönte Kinder- und Jugendfreundschaft und als er groß war, wurde er auch Sportreporter. Hinten schloss sich der 3-mal so große Garten der Familie Herbert Weiß an, dessen Frau ihren Sohn mit einem langgezogenen "H-a-ans-üüü" (Hansi) zu rufen pflegte. Hans-üüü baute später ein eigenes Haus im elterlichen Garten. Auch er war eine angenehme Frohnatur. Vor einiger Zeit hörte ich, dass er viel zu früh verstorben ist. Über die schmale Straße "Teichwiesen" gegenüber wohnte der gute Tischler Berthold Illguth mit seiner Edith, daneben Familie Köhler. Auf unserer Straßenseite wohnten Familie Koch und Augstens mit der in unserem Alter befindlichen Tochter Claudia.
Ulrich Sickert ging in meine Klasse, auch eine Kinderfreundschaft, unter anderem erkundeten wir die Wirkung des Alkohols mit einer Flasche alten, vergorenen Weins und zogen durch die Teichwiesen und Gärten. Südlich mündeten die "Teichwiesen" in den "Hohen Weg", wo auch interessante Leute wohnten, so der Waldhornbläser der Staatskapelle Prof. Alois Bambula mit Frau und 4 Töchtern, eine hübscher als die andere, namens Juliane, Ludmilla, Adele und Libuscha, die natürlich unsere kindliche Bewunderung erregten. Herr Bambula pflegte seine Töchter mit dem Waldhorn heimzurufen, jede mit ihrem eigenen Dreiklang, was wir lustig fanden. Südlich des Bambula-Gartens folgte ja schon der "Hellerwald", der Ausläufer der Jungen Heide, vor der buschbewachsenen Sandwüste, dem Heller. Die Kinder der Gegend streunten wie wir gern in diesem Wald herum. Am Hohen Weg lagen auch Haus und Garten der Familie Wolf, mit dem alten Herrn Bensch, der kriegsversehrt nach Oberschenkelamputation an Krücken ging.
Mein Vater als Luftwaffenhelfer im "3. Reich"
Mein Vater beim SC Einheit Dresden, (Hintere Reihe, 3. von links)
Einschulung am 01.09.1959
Helfried Wolf, auch "Helli" oder "der Wulf" genannt, war ein Jahr...